Antifaschistischer Rundgang durch Lichtenberg erinnert an die revolutionären Märzkämpfe von 1919

Mehr als ein Gedenken

.Der Gedenkspaziergang ist Teil der bundesweiten Kampagne »100 Jahre Krise – wo bleibt der Aufstand?«. Damit wollen linke Gruppen an den schnell gescheiterten Hamburger Aufstand im Oktober 1923 erinnern, mit dem die revolutionäre Welle nach 1918 beendet war. Der an dem Aufstand beteiligte, spätere KPD-Vorsitzende Ernst Thälmann erklärte damals: »Es gilt zu begreifen, dass man nicht siegen kann, wenn man nicht gelernt hat, die Vergangenheit zu verstehen.« Der Satz hätte auch das Motto des Gedenkspaziergangs vom Sonntag sein können.

Er gilt als größter Generalstreik in der Geschichte Berlins – mit tragischem Ausgang. Vor 104 Jahren wurden im Osten der Stadt, vornehmlich im proletarisch geprägten Friedrichshain und dem damals noch von Berlin unabhängigen Lichtenberg, bis zu 1200 Menschen von Freikorps ermordet, die meisten von ihnen Arbeiter*innen. »Neben revolutionären Aktivist*innen waren unter den Toten auch viele …

… Unabhängige, die einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort waren«, sagt ein Aktivist der North East Antifa (NEA) am Sonntagnachmittag. Die in Berlin seit vielen Jahren aktive Gruppe autonomer Antifaschist*innen hat zu einem Gedenkspaziergang für die Ermordeten durch Lichtenberg eingeladen. 

Weitgehend in Vergessenheit geraten

Zwischen 700 000 und 800 000 Personen nahmen im März 1919 am Generalstreik teil, der heute den Berliner Märzkämpfen von 1919 zugeordnet wird. Wenige Monate später verabschiedete die Nationalversammlung in Weimar eine neue demokratische Reichsverfassung. Der Beschluss markiert das formelle Ende der 1918 gestarteten Novemberrevolution.

Warum die Berliner Antifaschist*innen bewusst ein eher unbekanntes historisches Ereignis ausgesucht und dazu noch keinen runden Jahrestag gewählt haben, erklärt einer der Organisator*innen zu Beginn des Rundgangs: »Im Schatten der Morde an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht sind die vielen unbekannten Toten im März 1919 weitgehend in Vergessenheit geraten. Uns geht es darum, diesen Alltagswiderstand bekannt zu machen.«

Revolutionäre Glut neu entfachen

Das NEA-Mitglied skizziert den politischen Kontext im März 1919: Die Hoffnungen, die die aufständischen Arbeiter*innen, darunter viele SPD-Mitglieder, im November 1918 mit der Ausrufung der Republik verbunden hatten, waren einer Enttäuschung über die Kooperation der SPD-Führung mit den alten politischen Kräften gewichen. Mit dem Generalstreik wollten vor allem die in den Betrieben aktiven, von Gewerkschaften unabhängigen Revolutionären Obleute die Glut der Revolution erneut entfachen.

Daraufhin entwickelten sich an vielen Stellen im Ostteil Berlins Aufstände. In Lichtenberg besetzten Arbeiter*innen das dortige Polizeipräsidium, die Polizisten konnten fliehen. Genau hier informiert ein historisch bewanderter Antifaschist über eine Fakenews-Kampagne vor 104 Jahren, die den Hass auf die Aufständischen anstacheln sollte. So wurde behauptet, dass die revolutionären Arbeiter*innen beim Sturm auf das Polizeipräsidium 60 Polizisten brutal ermordet hätten. »Alle Zeitungen, auch das SPD-Organ ›Vorwärts‹, verbreiteten die Falschbehauptungen, während die Zeitungen von USPD und KPD verboten waren«, schildert der Redner.

Er verliest auch den Befehl des für die Bekämpfung des Aufstands zuständigen SPD-Reichswehrministers Gustav Noske, der den nach Lichtenberg einrückenden Freikorps einen Freibrief zum Schießen gab. Davon machten die offen rechten Freikorpsmitglieder reichlich Gebrauch. Sie gingen mit schweren Waffen und sogar mit Bombenflugzeugen gegen die Häuser der Arbeiter*innen vor.

Kampf für Streikrecht hält an

Redner*innen unter anderem von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten sowie von örtlichen Antifagruppen informieren über diese Gräuel an der sogenannten Blutmauer im Lichtenberger Rathauspark. Dort an der Mauer, wo ein Gedenkort für einige der Opfer errichtet wurde, legen die Antifaschist*innen der North East Antifa zahlreiche Blumen nieder.

Dass es ihnen allerdings um mehr als nur um ein historisches Gedenken geht, zeigt der Redebeitrag des Gewerkschafters und Rechtsanwalts Benedikt Hopmann. Er erklärt, dass der Kampf für ein bedingungsloses Streikrecht bis heute nicht zu Ende sei. Der Gedenkspaziergang endet schließlich bei den Knorr-Bremse-Werken, die vor 104 Jahren eines der Zentren des proletarischen Widerstands waren.

Interesse übersteigt die Erwartungen

»Wir haben mit circa 20 Menschen gerechnet, gekommen sind über 60 Interessierte aller Altersgruppen. Es waren ältere Lichtenberger*innen darunter, aber auch junge Menschen, die sich gerade erst mit der Geschichte befassen«, zeigt sich ein NEA-Aktivist gegenüber »nd« zufrieden. 

Der Gedenkspaziergang ist Teil der bundesweiten Kampagne »100 Jahre Krise – wo bleibt der Aufstand?«. Damit wollen linke Gruppen an den schnell gescheiterten Hamburger Aufstand im Oktober 1923 erinnern, mit dem die revolutionäre Welle nach 1918 beendet war. Der an dem Aufstand beteiligte, spätere KPD-Vorsitzende Ernst Thälmann erklärte damals: »Es gilt zu begreifen, dass man nicht siegen kann, wenn man nicht gelernt hat, die Vergangenheit zu verstehen.« Der Satz hätte auch das Motto des Gedenkspaziergangs vom Sonntag sein können.  Peter Nowak