Mit diesem Brief kritisierte eine Leserin die Berichterstattung der linksliberalen taz zur Ende September zu Ende gegangenen Documenta. Sie war mit ihrer Meinung nicht allein. Am 29. September monierten mehrere taz-Leser*innen, dass es in der Zeitung keine kontroverse Auseinandersetzung über die Kasseler Ausstellung gab, und dass wenig über die Arbeiten ohne Nahostbezug berichtet wurde. Man könnte noch die Frage hinzufügen, warum es kein Interview mit den Mitgliedern des …
… indonesischen Künstler*innenkollektivs Taring Padi in der taz gab, in dem sie zu den Kritikern an ihrem Konzept hätten Stellung nehmen können. Es war überhaupt auffällig, dass es vielfältige Kritiken an den Künstler*innen gab, aber wenige Interviews mit ihnen selbst. In der Tageszeitung junge Welt interviewte der in Kassel lebende Publizist Ulrich Schneider die Künstler*innen und setzte sich sonst in verschiedenen Beiträgen mit deren Intentionen auf der Documenta auseinander:
„Eine der auffälligsten Besonderheiten der Documenta 15 in Kassel ist: Viele der vertretenen Kollektive verstehen sich nicht nur als Kunstproduzenten, sondern auch als Aktivisten für gesellschaftliche Interessen“ schreibt Schneider.
Eine Renaissance des deutschzentrierten Eurozentrismus
Es ist auffällig, dass in einer Zeit, in der so viel vom Ende des Eurozentrismus die Rede ist, die Rezeption der Documenta 15 eine Renaissance des deutschzentrierten Eurozentrismus darstellte. Das will ich an wenigen Beispielen deutlich machen. Da wurde im Fridericianum an zentraler Stelle das Archiv der Kämpfe der algerischen Frauenbewegung präsentiert. Zu sehen waren Videodokumentationen über die Aktivitäten der Frauen in Algerien in den 1980er Jahren gegen die bürokratische Staatspartei FSNL und die islamistische Konterrevolution, die damals gerade eine Gefahr für viele Aktivist*innen wurde. Es gibt wenig bekannte, beeindruckende Zeugnisse der feministischen Kämpfe in dem nordafrikanischen Land. Zu sehen gab es auch zahlreiche Broschüren und Flugblätter, die diese Kämpfe dokumentierten. Sie wurden auf einen imaginären Tisch kurz durchgeblättert. Unter diesen vielen Broschüren befand sich eine, die sich mit dem palästinensischen Kampf in den 1980er Jahren befasste. In dieser Broschüre befanden sich auch die regressiv antizionistischen Bilder, die dann Gegenstand der öffentlichen Diskussion wurden. Diese Darstellungen waren allerdings nur wenige Sekunde am Umblättern zu sehen. In einer Erklärung, die nach den Vorwürfen von den Künstlerinnen verfasst wurde, beklagten sie, dass hier ihre feministische Arbeit diffamiert und in die Nähe des Antisemitismus gerückt werde.
Das zweite Beispiel, das in den letzten Tagen der Documenta den Streit noch einmal verschärfte, waren verwackelte Filmsequenzen, die die Palästina-Solidarität aus dem Umfeld der japanischen Roten Armee Fraktion dokumentierten. Sie waren in einen wenig besuchten Raum auf dem Hübner-Areal, einer ehemaligen Fabrik im Kasseler Osten, zu sehen. Die Kritik an den Filmen, die einen regressiven Antizionismus beinhalteten, ist berechtigt. Es ist auch tatsächlich zu fragen, warum die Filme von Joachim Ben Yakoub sehr unkritisch im Documenta-Handbuch vorgestellt wurden. Da ist viel von revolutionären Filmen und transnationaler Solidarität die Rede. Dabei müsste doch im Jahr 2022 zumindest die Frage im Mittelpunkt stehen, warum auch in linken Kreisen damals dieser regressive Antizionismus so dominant war und ob darin nicht vielleicht auch ein Grund liegt, dass die palästinensische und arabische Linke der islamistischen Konterrevolution mit ihrer offenen antisemitischen Agenda so wenig entgegensetzen konnte. Immerhin wurde von Joachim Ben Jakob erwähnt, dass es zu diesen Filmen ein Symposium geben sollte. Das wäre doch ein guter Ort für eine Auseinandersetzung mit regressiven Antizionismus gewesen.
Unverständlich ist hingegen, dass ein Gremium von Fachwissenschaftler*innen, die von dem Gesellschafter*innen der Documenta mit der Aufarbeitung des Antisemitismusstreits auf der Kunstausstellung beauftragt wurde, mehrheitlich eine sofortige Beendigung der Filmvorführungen forderte. Diese Forderung wenige Tage vor dem offiziellen Ende der Ausstellung begründeten sie mit der Gefahr, die diese Filme mit ihrer „potentiell aufhetzenden Wirkung“ darstellen würden. Man muss sich vorstellen, da laufen an einen wenig besuchten Ort verwackelte schwarz-weiß Filme. Ist es vorstellbar, dass sich der linksliberale akademische Mittelstand, der überwiegend zu den Documenta-Besucher*innen gehört, durch diese Filme zum Hass auf Jüdinnen und Juden verleiten lässt? Ist es nicht eher das Problem, dass in den Filmen ein problematisches Verhältnis von Israel als Kolonialmacht und Jüdinnen und Juden als Teil des globalen Nordens reproduziert wird, das teilweise bis heute noch vorhanden ist?
Nicht von der Kunstfreiheit gedeckt?
Hätte hier nicht eine künstlerische Intervention gegen diesen regressiven Antizionismus liegen müssen? Ist die Forderung, das Filmprogramm zu stoppen, nicht genau so regressiv wie die inkriminierten Filme? Der taz-Feuilletonchef Andreas Fanizadeh erklärte gar, die inkriminierten Filme wären nicht von der Kunstfreiheit gedeckt. Hat also Danger Dan nicht recht mit seinem Song: „Das alles von Kunstfreiheit gedeckt“. Würden dann die Filme des kürzlich verstorbenen Jean-Luc Godard noch unter die Kunstfreiheit fallen, der auch mehrere pro-palästinensische Film produziert hat? Wäre es nicht viel sinnvoller gewesen, über die Fehler des regressiven Antizionismus zu diskutieren, anstatt autoritäre Verbotsdebatten zu führen, die bald auch emanzipatorische gesellschafts- und staatskritische Kunst betreffen? Es werden sich sicher auch die verschiedenen Vertreter*innen diverser Religionen melden, die sich von bestimmter Kunst beleidigt fühlen.
Die kubanische Opposition auf der Documenta 15
Es gäbe viel berechtigte Kritik an der Documenta, die aber kaum angesprochen wurde. Beispielsweise agierte das kubanische Kollektiv Instituto de Artivismo Hannah Arendt, das einen großen Raum im Kasseler Theaterhaus bespielte, als Sprachrohr der rechten Opposition gegen die kubanische Regierung. Gemeinsam mit Tania Brugera gehören sie zu den Künstler*innen, die im globalen Westen gerne gehört und gut finanziert werden. In der kubanischen Gesellschaft hingegen spielen sie eine marginale Rolle, weil sie eben als Sprachrohr von Miami wahrgenommen werden und das ist nicht nur Regierungspropaganda. Gerade vor dem Hintergrund, dass in Kuba die Kommunistische Partei mit dafür gesorgt hat, dass ein progressives Gesetz für die Rechte von sexuellen Minderheiten durchgesetzt wurde, hätte man sich auf der Documenta doch auch im Fall Kuba eine differenzierte Auseinandersetzung gewünscht. Gerade die Auseinandersetzung um die LGPT-Rechte zeigen, dass die Situation auf Kuba eben komplexer ist, als es manche Gegner*innen der gegenwärtigen Regierung darstellen.
Zunächst muss man positiv konstatieren, dass die kubanische Regierung in dieser Frage auf Seiten des Fortschritts und damit auch in der Tradition der frühen Bolschewiki steht, die auch die Rechte von Frauen und sexuellen Minderheiten unterstützte, bevor die stalinistische Konterrevolution hier einen Rollback einleitete. Leider sind viele der nominalkommunistischen Parteien heute in Osteuropa hier in stalinistischer Tradition noch immer Teil dieser Konterrevolution und wenden sich gegen LGPT-Rechte. In Kuba hingegen ist es die katholische Kirche, die gegen die Einführung der LGPT-Rechte agierte und von fast der gesamten kubanischen Opposition unterstützt wird. Zudem zeigten die Abstimmung und Diskussion um diese Gesetze, über die in Kuba lange in Nachbarschaftskomitees diskutiert wurde, dass es dort durchaus Elemente von Rätestrukturen innerhalb der sozialistischen Gesellschaft gibt, die von der Opposition wie auch von den in Kassel vertretenen kubanischen Künstler*innen nicht wahrgenommen wurden. Hier war die Documenta 15 also gar nicht so antiwestlich, wie ihr oft unterstellt wurde. Hier zeigt sich aber noch ein größeres Problem mit dem gesamten Document 15-Ansatz, der eben durchaus nicht antikapitalistisch war.
Postmoderne Lesart der Kolonialismuskritik
Hier wurde sich vielmehr einer postmodernen Lesart bedient, dass die Folgen des Kolonialismus vor allem eine Frage des Respekts sind und die Lösung dann eine ominöse Heilung sein soll, die schnell ins Esoterische abdriftet. Da darf natürlich dann der Respekt vor allen Indigenen, ihrer Kultur und ihrer Lebensweise nicht fehlen. Damit wird zunächst übersehen, dass es heute keine Gegenden in der Welt mehr gibt, die nicht von der kapitalistischen Produktionsweise betroffen ist. Die Indigenen sind dann oft die Weiterentwicklung des Bildes vom edlen Wilden, die es ja schon länger gibt. Dieses Bild wird nicht von zufällig von jungen Menschen aus dem bürgerlichen Mittelstand gerne reproduziert, die hier auch eine Gegenwelt zu ihrem kapitalistischen Alltag sehen, mit dem sie nicht grundsätzlich brechen wollen, aber gerne mal für einige Wochen oder Monate aussteigen.
Dann gibt es auch in manchen Gemeinschaften des globalen Südens Führungspersonen, die sich gerne als Muster-Indigene produzieren und vor allen von meistens mittelstandsorientierten Nichtregierungsorganisationen auf internationalen Konferenzen präsentiert werden. Ihnen wird dann auch eine besondere Nähe zur Natur und zur Umwelt, die dann auch gleich meist als Mutter Erde mystifiziert wird, zugeschrieben. Über die oft autoritären Strukturen in diesen Gemeinschaften wird oft geschwiegen. Man sehe sich mal den Film „Birdwatchers – im Land der Roten Menschen“ (https://www.filmstarts.de/kritiken/138422.html) an, der diesen Mythos um die edlen Indigenen gut dekonstruiert. Doch insgesamt hat er Konjunktur, weil er sich auch eines Hangs zur Esoterik und zum Irrationalismus in Teilen des Mittelstandes des globalen Nordens ebenso bedient wie einer Regression in vielen Bewegungen des globalen Südens.
Die Grundlage ist die globale Niederlage der emanzipatorischen Linken. Da wird dem Kampf um Jahrhunderte alte Leichenteilen, die im Zuge des Kolonialismus geraubt wurden, mehr Aufmerksamkeit gegeben als den sozialen Zuständen, in denen viele Menschen im globalen Süden noch immer leben müssen. Da werden bestimmte Berge oder Wälder für heilig und damit auch für den Abbau von Bodenschätzen für unberührbar erklärt, mit großer Zustimmung eines Teils des Mittelstands im globalen Süden. Dabei wäre es doch eine emanzipatorische Lösung, wenn sich die Menschen im Süden und Norden von den alten Mythen verabschieden und über die Nutzung der Bodenschätze gemeinschaftlich in Räten diskutieren und entscheiden würden. Dann könnte natürlich auch entschieden werden, bestimmte Bodenschätze nicht zu fördern, weil damit den Menschen und der Umwelt geschadet wird. Aber das sollte nicht deshalb geschehen, weil es da angeblich Geister gibt und irgendetwas heilig ist, sondern auf der Grundlage rationaler Argumente in einer Gesellschaft, in der der kapitalistische Akkumulationszwang nicht mehr bestimmend ist.
Niemand kann behaupten, dass dieser Zustand in Kuba schon erreicht ist, der Sozialismus kann nicht auf einer Insel errichtet werden. Aber es gibt dort Tendenzen in diese Richtung. Deshalb fand die Abstimmung über die LGPT-Rechte dort auf einer rationalen Grundlage statt und wurden gegen eine reaktionäre Opposition gewonnen. Die Documenta 15 aber war oft kein Forum für diese emanzipatorischen Tendenzen, sondern eher für esoterische und irrationalistische Tendenzen. In diesen Kontext könnte auch die massive, oft regressive Israelkritik eingeordnet werden, die auf der Documenta15 zweifellos zu finden war. In manchen kritischen Documenta-Berichten, beispielsweise in der Wochenzeitung Jungle World, wurde dieser Zusammenhang hergestellt. Doch überwiegend gerierten sich die Kritiker*innen als Wertekrieger*innen des westlichen Kapitalismus. Dabei müsste die Kritik an den Documenta 15 gerade sein, dass sie mehrheitlich eben keine Alternativen dazu zeigte. Peter Nowak
https://www.dasmili.eu/art/noch-einmal-documenta-und-die-kunstfreiheit/