Plädoyer für eine Reform, die vielen Menschen zu mehr Mobilität verhilft.

Rettet das Neun-Euro-Ticket!

Auch viele Linke reihen sich ein, in die Phalanx der Bedenkenträger gegen das Ticket für alle. Schon eine Woche nach der Einführung des Neun-Euro-Tickets wusste Hendrik Auhagen vom Bündnis "Bahn für alle", dass es kontraproduktiv sei. Nur weil es zu Pfingsten ein wenig Gedränge auf den Bahnsteigen gab, malte sich Auhagen apokalyptische Szenen wie bei der Loveparade vor zwölf Jahren in Duisburg aus, schwadronierte im Interview mit der linken Tageszeitung junge Welt im Einklang mit bürgerlichen Medien von Gefahrensituationen.

Noch bis spät in die Nacht sind aktuell die Regionalzüge voll. Die Menschen kommen so meist gut gelaunt von oder zu irgendwelchen Freizeitaktivitäten. Das Neun-Euro-Ticket hat deutlich gemacht, das viele Menschen gerne mobil sind, wenn sie es sich nur leisten können. So wird deutlich, dass die teuren Bahntarife genau diese Mobilität behinderten. Christoph Richter hat im Deutschlandfunk gut erkannt, dass das Neun-Euro-Ticket vor allen …

… einkommensarmen Menschen die Möglichkeiten schafft, in den Urlaub zu fahren. Ob es nun Familien sein müssen, wie der Deutschlandfunk-Autor formuliert, oder einfach Menschen, die gemeinsam eine Reise geplant haben, muss offen bleiben. Verdeutlicht wird aber die klassenpolitische Dimension des Tickets:

Jedes fünfte Kind wächst in Deutschland in Armut auf. Selbst ein Ostseeausflug ist unerschwinglich. Bislang. Denn das 9-Euro-Ticket erschließt vielen Familien eine neue Welt. Das zeigt das Beispiel alleinerziehender Mütter in Brandenburg.


Christoph Richter, Deutschlandfunk

Doch damit ist er eine Ausnahme. Denn schon vor der Einführung des Neun-Euro-Tickets wurde „obligatorisch nur gemeckert“, wie Elena Wolf in der Wochenzeitung Kontext gut beobachtet hat.

Meine Fresse, das kann sich echt niemand ausdenken: Da kann ganz Deutschland für neun Euro im Monat ein viertel Jahr lang mit Bus und Bahn durchs Land fahren – und an allen Ecken und Enden wird gleich wieder rumgeheult, rumgenörgelt und rummoralisiert. Määhmäähmääh: Alles nur Opium fürs Volk, das „der Steuerzahler“ wieder finanzieren muss. Määhmäähmääh.


Elena Wolf, Kontext

Doch es waren nicht die üblichen Verdächtigen von der FDP und der CDU, die sich darüber echauffierten, dass jetzt so viel Geld rausgeworfen wird, damit der Pöbel nach Sylt reisen und sogar Chaostage veranstalten kann, die sich dann als eine sozialreformerische Demonstration des Bündnisses „Wer hat der gibt“ entpuppten. Auch viele Linke reihen sich ein, in die Phalanx der Bedenkenträger gegen das Ticket für alle.

Schon eine Woche nach der Einführung des Neun-Euro-Tickets wusste Hendrik Auhagen vom Bündnis „Bahn für alle“, dass es kontraproduktiv sei. Nur weil es zu Pfingsten ein wenig Gedränge auf den Bahnsteigen gab, malte sich Auhagen apokalyptische Szenen wie bei der Loveparade vor zwölf Jahren in Duisburg aus, schwadronierte im Interview mit der linken Tageszeitung junge Welt im Einklang mit bürgerlichen Medien von Gefahrensituationen.

Natürlich dürfen auch die überlastete Bahnbeschäftigten nicht fehlen. Wie weit solche Menschen von der Realität vieler Menschen entfernt sind, macht Auhagen mit dieser Bemerkung deutlich:

Das Neun-Euro-Ticket ist in dieser Hinsicht sogar völlig kontraproduktiv. Es reizt Millionen von Menschen zu Fahrten, die sie gar nicht geplant hatten…


Hendrik Auhagen, „Bahn für Alle“

„Diese Fahrtgastmassen brausen nicht für den Klimaschutz“

Er kommt gar nicht auf den Gedanken, dass die Menschen bisher aus finanziellen Gründen auf Mobilität verzichten mussten, die sie jetzt nachholen. Dafür nehmen sie auch in Kauf, dass es mal enger im Zug wird, dass sie mal nur Stehplätze haben und manchmal vielleicht auch die Toiletten nicht funktionieren.

In die gleiche Kerbe schlug die taz-Keynesianerin Ulrike Herrmann, die sich in einem Kommentar gegen eine Verlängerung des Neun-Euro-Tickets mit dem Argument wehrt, dass es zu gut angenommen wird. „Die Züge sind zwar überfüllt, aber diese Fahrgastmassen brausen nicht gen Klimaschutz. Stattdessen unternehmen viele Menschen jetzt Reisen, die sie sonst unterlassen hätten – weil es gerade so schön billig ist. Die Schnäppchenjäger haben die Bahn entdeckt“, bringt Herrmann die elitäre Gesinnung der grünen Kleinbourgeoisie zum Ausdruck.

Zwar hat das Neun-Euro-Ticket auch zu einem moderaten Rückgang im Straßenverkehr geführt, aber da „Klima“ bei den Grünen aller Länder längst zum Zauberwort geworden ist, mit dem noch jede Zumutung gerechtfertigt werden kann, wird selbst die Mobilität auf der Schiene zu Freizeitzwecken denunziert.

Da drängt sich die Vorstellung auf, dass nicht wenige der Grünen, die sich im Kampf gegen Russland von niemand in Deutschland übertreffen lassen und dafür auch mal den Klimaschutz hintanstellen, froh sind, dass sie mit der Energiekrise jetzt die Bevölkerung zum Gürtel-Enger-Schnallen zwingen können „Es geht also um Verzicht, nicht um „Angebote“, so Ulrike Herrmann. Man braucht sich nicht zu wundern, wenn demnächst die Sozialproteste auch vor den Parteibüros der Grünen starten. Das ist ein genau so passender Ort wie die Nobelviertel von Sylt.

Unlängst zitierte auch Telepolis den Vizechef der Eisenbahngewerkschaft EVG, Martin Burkert, der sich in die Phalanx der Kritiker des Neun-Euro-Tickets eingereiht hat, das „krank mache“. Auch er verwies auf überfüllte Zügen, ausgefallene Toiletten und überlastetes Personal.

Es ist unbestreitbar, dass der Öffentliche Nahverkehr grundlegende Reformen braucht und dass vor allem das Personal anständiger bezahlt wird. Bereits 2020 hat die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di gemeinsam mit Klima-Aktivisten eine Tarifkampagne gestaltet, um die Situation im ÖPNV zu verbessern.

Das ist aber gerade kein Argument gegen das Neun-Euro-Ticket. Im Gegenteil, jetzt können die Beschäftigten als Argument anführen, wie gefragt ihre Arbeit ist. Nein, die Aversion gegen das Neun-Euro-Ticket hat keinen sachlichen Grund. Es sind meist Menschen, die es kaum benutzen, die sich jetzt um die Sicherheit der Fahrgäste sorgen.

Ihnen fallen plötzlich überfüllte Züge auf, als hätte sie es nicht schon immer gegeben, vor allem in den Stoßzeiten, wenn die Menschen von und zur Arbeit fahren. Aber dann sind die meisten Journalisten bestimmt nicht mit im Zug. Mit der Einführung des Neun-Euro-Tickets begann die Zeit der günstigen Spesen, als Dutzende Journalisten zu Recherchezwecken den Nahverkehr benutzen sollten.

Die meisten Fahrgäste sind wenig interessiert an dem Lamento der Bedenkenträger und sie meckern auch nicht, wenn sie mal stehen müssen. Sie haben darin schließlich Erfahrung.

Verwunderlich ist es schon, wenn Linke in die Ticket-Schelte einstimmen und die Mobilität der Massen negativ sehen und dabei die ganze Latte an möglichen Gefahren aufzählen, die damit verbunden ist.

Denn es waren historisch eher die Herrschenden, die die Mobilität der Massen bremsen wollten, es sei nur daran erinnert, dass der Klerus bei der Einführung der Eisenbahn Fake News verbreitete über das angebliche Teufelszeug und die gesundheitlichen Schäden, die mit einer Bahnfahrt verbunden sind.

Dabei wollte der Klerus pur verhindern, dass der Pöbel schneller ist als die Pfaffen in der Kutsche. Die gesellschaftliche Linke dagegen hatte eine andere Vision, nämlich die Mobilität für alle. Deshalb organisierte sie Ende der 1960er-Jahre die Roter-Punkt-Aktionen gegen Fahrpreiserhöhungen. Nicht wenige forderten offensiv den Nulltarif im öffentlichen Nahverkehr.

Die Umsetzung hätte natürlich, wenn sie erfolgreich gewesen wäre, eine stärkere Nutzung von Bahnen und Bussen bedeutet. Genau das, was jetzt beim Neun-Euro-Ticket passiert ist. Genau dran gilt es anzuknüpfen, indem die Verlängerung des Neun-Euro-Tickets auf unbestimmte Zeit gefordert wird.

Zudem ist es Zeit für eine soziale Bewegung, die diese Forderung auf die Straße trägt. Das wäre die Aufgabe einer populären Linken. Den Bedenkenträgern, die nur noch von Gefahren reden und die größte Gefahr darin sehen, dass das Ticket genutzt wird, muss die alte Forderung nach Nulltarif und Mobilität für alle entgegengesetzt werden. (Peter Nowak)