Neben weiterem Sozialabbau für Rüstung wird ein Revival der Wehrpflicht ins Gespräch gebracht. Ampel-Parteien im Grundsatz einig. Das weckt Erinnerungen. Ein Kommentar

Nie wieder Krieg ohne uns: Wie Bundeswehr und Gesellschaft mobil gemacht werden 

Es brauchte gut drei Jahrzehnte, bis in Deutschland die Kriegsfähigkeit der Bundeswehr wieder zu einem offiziellen Politikziel erklärt werden konnte, und kaum jemanden stört es. Vorher musste die deutsche Geschichte entsorgt werden. Die Konsequenz aus der deutschen Geschichte besagte, dass die Armee eines Staat, von dem zwei Weltkriege ausgingen und der Auschwitz verbrochen hat, nie wieder kriegsfähig werden darf.

„Wer den Frieden will, bereite den Krieg vor. Die Bundeswehr muss kriegsfähig sein nach innen und nach außen.“ Wenn Politiker in Deutschland solche Sätze vor wenigen Jahrzehnten von sich gegeben hätten, wäre eine öffentliche Protestwelle die Folge gewesen. Heute kann der verteidigungspolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, Henning Otte im Deutschlandfunk mehr als zehn Minuten lang die Zuhörer darauf einstimmen, dass die Bundeswehr wieder …

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Aktuell wird viel über die gar nicht so neue Frage gestritten. Auch die Organisatoren der Ostermärsche mussten sich damit auseinandersetzen. Mancherorts verloren sie Bündnispartner.

Kann die Friedensbewegung doch rechtsoffen sein?

"Mir blutet das Herz, wenn ich sehe, dass Menschen mit Friedenstauben und Menschen mit Antifa-Fahnen jetzt scheinbar in gegensätzlichen Lagern stehen", erklärte ein älterer Mann. Er trug ein Schild mit der Parole "Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg". "Ich weiß nicht, wo ich meinen Protest gegen Aufrüstung und Krieg ausdrücken kann", erklärt er und packte schließlich sein Schild wieder ein. Ähnliche Szenen waren in einigen Städten auch bei den Ostermärschen am Wochenende zu erwarten.

Einer der Gründe, warum sich trotz massiver Aufrüstung und einer Kriegsrhetorik, die vielen Menschen Angst macht, die Beteiligung an den traditionellen Ostermärschen in Grenzen hielt, war wohl die vorab nicht in allen Gruppen geklärte Frage, wo die Friedensbewegung die Brandmauer nach rechts ziehen soll. Beispielsweise am 25. März hatten sich in der Düsseldorfer Innenstadt rund 200 Menschen versammelt, die mit Friedenstrauben gegen Waffenlieferungen in die Ukraine demonstrierten. Ihnen gegenüber hatten sich rund zehn vor allem jüngere Menschen postiert, die Antifa-Fahnen trugen und lautstark gegen eine „deutsche Querfront“ agitierten. Sie monierten, dass auf den Friedensdemos …

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Nach dem Raketeneinschlag in Polen nahm die Nato eine deeskalierende Rolle ein. Ein deutscher Sicherheitsexperte schwadronierte über Waffen, die russische Städte treffen sollen. Die Bundesrepublik ist mitnichten Opfer oder Vasall.

Deutschland und die Ukraine: Wie sie lernten, die irregeleitete Rakete zu lieben

Es entsteht die paradoxe Situation, dass die Kritiker der gegenwärtigen Ukraine vor allem die USA als angebliche Kriegstreiber angreifen und kaum die Rolle Deutschlands ansprechen, aber auch manche Freunde der aktuellen Ukraine einen Schlussstrich unter die deutsch-ukrainische Geschichte der Nazizeit ziehen wollen, den sie vor 20 Jahren noch massiv bekämpft hatten.

Am vergangenen Dienstag bestand für einige Stunden die reale Gefahr, dass sich der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine ausweitet. Grund waren Raketeneinschläge im Nato-Land Polen. Sollte Russland tatsächlich den Konflikt auf Nato-Gebiet ausweiten wollen? Doch wenige Stunden später kam die …

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Die Antikriegsbewegung und der russische Einmarsch. Kommentar und Hintergrund

„Weder Selenskyj noch Putin – Stoppt den Krieg“

Tatsächlich verbirgt sich hinter der Nato-Begeisterung in Deutschland auch die Rache an einem Kriegsgegner, der Deutschland vor fast 80 Jahren in Stalingrad die entscheidende Niederlage beigebracht hat. In den 1980er-Jahren haben Teile der deutschen Friedensbewegung, wie der Publizist Wolfgang Pohrt gut analysierte, den ehemaligen alliierten Kriegsgegnern vorgeworfen, auf ihren Boden Krieg führen zu wollen. 2022 wird auf sogenannten Friedensdemonstrationen und in einem Taz-Kommentar Russland schon mal mit Krieg gedroht.

Es gab eine Zeit, da orientierte sich ein Teil der außerparlamentarischen Linken auch in Deutschland an der zapatistischen Bewegung, die im Süden Mexikos aktiv war, aber diskursiv auf Linke in aller Welt ausstrahlte, weil sie in ihren Erklärungen mit der Rhetorik der traditionellen Linken gebrochen hatte. Leider hat die Anfang März verfasste zapatistische Erklärung zum russischen Krieg in der Ukraine bisher nicht die ihr gebührende Aufmerksamkeit gefunden, die sie eigentlich verdient. Denn diese Erklärung könnte auch …

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Christian Schultz-Gerstein: Rasende Mitläufer, kritische Opportunisten. Edition Tiamat, 448 S., br., 26 €.

Diagramme einer verschütteten Welt

Glossen, Reportagen und Essays von Christian Schultz-Gerstein sind bei Tiamat wiederveröffentlicht, der 1987 verstarb. Betrauert wurde er vor allem von der kleinen Minderheit von Publizisten, die wie er gegen eine ehemalige Linke anschrieben, die ihren Frieden mit Deutschland gemacht hatten und von der NS-Vergangenheit nur noch an den Gedenktagen etwas hören wollten. Dazu gehört der vor drei Jahren verstorbene Wolfgang Pohrt, der in einen Vorwort daran erinnerte, dass Schultz-Gerstein zu den wenigen in Deutschland gehörte, die die Nazivergangenheit nicht bewältigen sondern als Wunde offen lassen wollten

Vermutlich am 3. März 1987 starb Christian Schultz-Gerstein. Er wurde erst fast drei Wochen später in seiner Hamburger Wohnung gefunden, nachdem sich Nachbar*innen wegen des strengen Geruch im Hausflur beschwert hatten. »Vermutlich hatte er sich zu Tode getrunken. Schultz-Gerstein war 42 Jahre alt«, schreibt der Verleger Klaus Bittermann im Nachwort eines nach 34 Jahren neuaufgelegten Bandes, der »den namhaften Reporter aus verflossenen Zeiten des deutschen Journalismus« so ein »FAZ«-Rezensent, wieder bekannt macht. Die Lektüre der Glossen, Reportagen und Essays, die Schultz-Gerstein zwischen 1974 und 1987 verfasst hat, öffnet uns eine Welt, die heute sehr weit entfernt erscheint. Wir lesen von den ….

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Die Klimabewegung steht nicht erst seit Beginn der Corona-Krise vor einer unklaren Perspektive. Sie muss sich auch kritisch mit Teilen ihrer Ideologie befassen

Politik im Zeichen der vermeintlichen Klima-Apokalypse

Die Auseinandersetzung mit solchen apokalyptischen Vorstellungen in der Umweltbewegung ist gerade dann notwendig, wenn die Bewegung eine Perspektive jenseits kurzzeitiger Mobilisierungen haben will. Die Mühen der Ebenen mit Bündnisarbeit, die da nötig ist und für die es sinnvolle Ansätze gibt, verträgt sich nicht mit der Vorstellung, dass man sich hier heroisch gegen den Untergang der Menschheit stellt.

„Klimaproteste, was nun?“, betitelte die Wochenzeitung Freitag jüngst einen Artikel über den weltweiten Klimaaktionstag am 19. März. Er war ein sogenanntes hybrides Ereignis, wie jüngst Veranstaltungen bezeichnet werden, die mehrheitlich digital stattfinden und mit kleinen symbolischen Präsenzevents garniert sind. Das ist schon lange der Traum der Digitalindustrie, der erst durch die Corona-Pandemie, …

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Ein großer Teil der Linken und Liberalen bewegt sich bewusst oder unbewusst in den theoretischen Fußstapfen von Karl Popper. Aber es gibt linke Gegenstimmen

Verschwörungen und Entschwörungen

Was vor Jahrzehnten der Kampf um jeden Cent mehr und jede Minute Lohnarbeit weniger gewesen ist, kann heute der Kampf um besseren Gesundheitsschutz sein. Dass es dabei um mehr als um eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen geht, macht der Publizist Daniel Kulla in einem Aufsatz mit dem Titel "Die beste Antwort auf die Verschwörung ist der Klassenkampf" deutlich.

Der Umgang mit der Corona-Epidemie hat in den letzten Tagen in den öffentlich-rechtlichen Medien einen Bedeutungswandel erfahren. Die Devise „Stay at Home“ ist schon länger vorbei. Jetzt lautet die Devise: „Mit Corona leben und daraus gestärkt hervorgehen.“ Das wird schon daran deutlich, dass so unterschiedlich….

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Die bessere Lösung wäre politische Bildung statt Entschwörungstage

Wie umgehen mit irrationalen Protestbewegungen?

Das historisch beste und größte Entschwörungsprogramm war, dass es der marxistischen Strömung Ende des 19. Jahrhunderts gelungen war, in großen Teilen der Arbeiterbewegung hegemonial zu werden. Es war gelungen, eine linke Erzählung zu etablieren, die rechten und irrationalen Strömungen den Kampf ansagte und gleichzeitig die herrschende Verhältnisse bekämpfte.

Auch am vergangenen Wochenende gab es wieder in verschiedenen Städten Proteste gegen die Corona-Beschränkungen. Während sie in Berlin den Zenit bereits überschritten haben dürften, finden sie in Städten wie Stuttgart noch Zulauf. In vielen Städten protestiert ein ….

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Die Hamburger Linke will einen Kandidaten loswerden und auch die Klimaaktivisten distanzieren sich. Dabei sollte über die ideologischen Versatzstücke geredet werden, die dahinterstehen

Von der Shoah zum CO2-Ausstoß

Niemand verwendet für Menschen, die feministische Positionen ablehnen, den Begriff "Patriarchatsleugner" und für Menschen, die nicht von einer Klassengesellschaft ausgehen, gibt es auch nicht den Begriff "Ausbeutungsleugner". Wenn nun aber in der Klimabewegung der Begriff "Klimaleugner" verwendet wird, rückt man den Klimawandel zumindest in die Nähe des Holocaust. Deshalb ist es inkonsequent, sich reflexartig von einem Mitglied zu distanzieren, das den Begriff Holocaustleugner verwendet, aber zugleich mit dem Begriff "Klimaleugner" weiter zu operieren.

Eigentlich ist der Schüler Tom Radtke ein Kandidat, wie ihn sich die Linke nur wünschen kann. Ein 18-jähiger Umweltaktivist, der in der Klimajugendbewegung mitarbeitet, sich für Netzpolitik engagiert und in der Hamburger Linkspartei aktiv ist und dort auch für die Bürgerschaftswahlen auf Platz 20 kandidiert. Doch nun will die Linke ausgerechnet ein für sie hoffnungsvolles Mitglied ausschließen, weil er …

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Clemens Heni 2018: Der Komplex Antisemitismus. Dumpf und gebildet, christlich, muslimisch, lechts, rinks, postkolonial, romantisch, patriotisch: deutsch. Edition Critic, Berlin. ISBN: 978-3-946193-21-0. 764 Seiten. 30,00 Euro.

Eine deutsche Idee

Auf 760 Seiten dokumentiert Heni seine Interventionen in die Antisemitismusdiskussion der letzten 20 Jahre. Es handelt sich um Grundlagenforschung in den Bereichen Ideologiekritik, der Textanalyse und der politischen Kultur Bundesdeutschlands.

„Mit Blick auf die Karriere und das mentale Wohlbefinden ist es keine sonderlich gute Idee, Antisemitismusforschung zu betreiben. Der Forschungsgegenstand selbst bietet wenig Erfreuliches. Inzwischen ist aber auch das Arbeitsumfeld jener, die den Antisemitismus beforschen, von schonungslosen Auseinandersetzungen gezeichnet“, schreibt Mathias Berek in einem Diskussionsbeitrag für die Jungle World (49/2019). Gegenstand der Kontroverse, die in mehreren Ausgaben der Wochenzeitung geführt wurde, ist die Bewertung der Arbeitsdefinition Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance und die Einschätzung der Kampagne zum Boykott, Desinterventionen und Sanktionen (BDS) gegen Israel. Die Fokussierung der Debatte auf diese beiden Aspekte birgt allerdings die Gefahr, dass die Spezifik des Antisemitismus in Deutschland dabei aus dem Blick gerät.  Am Beginn der Antisemitismusdebatte in der deutschen Linken, die mit dem Zusammenbruch der DDR an Bedeutung gewonnen hatte, drehte sich die Auseinandersetzung nicht primär um das Verhältnis zu Israel, sondern um deutsche Geschichte und Ideologie. Parolen wie „Deutschland denken heißt Auschwitz denken“ kündeten davon. Damals hatte sich Clemens Heni, der in….

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Viele wollen jetzt die Erde, die Menschheit oder die Natur retten. Aber wäre es nicht besser, erst einmal die Vernunft zu retten?

Warum wir die Natur nicht retten wollen

Der Hang zum unkritischen Mittun wird natürlich verstärkt, weil die Klimabewegung für junge Akademiker nach Abschluss ihres Studiums Jobs bietet und da muss die kritische Analyse schon mal zurückstehen. Das muss man auch niemandem vorwerfen.

Es war Anfang der 1980er Jahre. Die deutsche Friedensbewegung war auf dem Höhepunkt. Wer kann auch schon dafür sein, wenn neue Atomraketen in Ost und West aufgebaut werden? Wenn es Streit gab, dann über die Aktionsformen. Würden Großdemonstrationen reichen oder sollte man beispielsweise mit Manöverbehinderungen etwas robuster ins Militärgeschehen eingreifen, wie es 1984 in Osthessen, dem sogenannten Fulda-Gap, geschehen ist? Und dann kam da ein Intellektueller wie Wolfgang Pohrt und machte die ganze schöne deutsche Friedensbewegung madig, indem er …..

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»Globales Festgelage des monetären Kapitals«

Achim Szepanski im Gespräch über die Zukunft der Kapitalakkumulation

Der Labelbetreiber, Musiker und Theoretiker Achim Szepanski sieht in die Zukunft der Maschinisierung: Die planetarische Arbeiterklasse habe den Tisch gedeckt, der übermorgen von Robotern abgeräumt werde.

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Aleppo: Warum gibt es in Deutschland kaum Erleichterung über ein Ende der Kämpfe…

… und die Niederlage der Islamisten? Das hat vielleicht weniger mit der Entwicklung in Syrien als mit der deutschen Geschichte zu tun

„Macht Euch keine Sorgen, bald werden keine Bilder aus Aleppo mehr kommen.“ Dieser Satz auf der Titelseite der Taz[1] über einem Bild von Menschen, die aus einem in diesen Tagen besonders umkämpften Stadtteil von Aleppo ins Nachbarviertel geflohen sind, soll Stimmung machen. „Mehr Macht für die UN-Vollversammlung“, forderte die Publizistin Kirsten Hilberg auf der gleichen Titelseite in einem Kommentar[2]:

Doch Aleppo ist mehr als eine Priorität Assads. Es symbolisiert das Ende einer Ära und sendet international ein fatales Signal. Ruanda, Srebrenica, Grosny – was „nie wieder“ geschehen sollte, wiederholt sich im Jahr 2016 in Echtzeit vor aller Augen und bestens dokumentiert. Der Massenmord in Syrien steht für das Versagen sämtlicher internationaler Institutionen und Mechanismen, die nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet wurden, um Kriege und Kriegsverbrechen zu verhindern. Vereinte Nationen, Internationaler Strafgerichtshof, Genfer Konvention? Lächerlich. Die Botschaft, die von Aleppo an die Machthaber dieser Welt ausgeht, lautet: Ihr könnt Zivilisten töten, so viele ihr wollt, solange ihr einen Freund im Weltsicherheitsrat habt. Aus dem moralischen Anspruch „Nie wieder!“ muss deshalb eine konkrete Anleitung zum Schutz von Zivilisten werden. Etwa so: Bei offensichtlichen Kriegsverbrechen würde man nicht mehr auf Einstimmigkeit im Weltsicherheitsrat warten, sondern die UN-Vollversammlung entscheiden lassen, was zu tun ist – zur Not auch militärisch.

Kristin Helberg

Bei diesen Argumentationslinien fühlt man sich an die 1990er Jahre zurückversetzt, als die einst pazifistischen Grünen kriegsfähig wurden. Wieder einmal geht es darum, einen „Massenmord“ zu verhindern. Nur etwas schlauer ist man in den letzten Jahren doch geworden. Ein neues Auschwitz, wie es damals Grüne herbei halluzinierten, will man in Aleppo nicht verhindern. Doch ansonsten sind alle Elemente vorhanden, um die Schwelle zur Kriegsfähigkeit weiter zu senken.

Dabei wird im Fall Aleppo oft mit Zitaten aus sozialen Netzwerken gearbeitet, die mehr auf das Gefühl als auf Analyse setzen. Das wird bei dem eingangs angeführten Zitat besonders deutlich. Es sagt erst einmal nur aus, dass sich Menschen im Kriegsgebiet nichts Sehnlicheres wünschen, als ein Ende der Kämpfe.

Das ist auch die Version der Journalistin Karin Leukefeld, eine der wenigen Pressevertreter, die bis zum Schluss in Syrien akkreditiert waren. Ihr wird aber sicherlich nicht zu Unrecht, eine gewisse politische Nähe zum Baathismus nachgesagt. Doch durch ihre Recherchen vor Ort gelang es ihr, ein Bild der syrischen Gesellschaft zu zeigen, dass sich den Gut-Böse-Einteilungen entzieht, die gerade in der letzten Zeit in den großen Teilen der Medien in Deutschland Konjunktur haben.

Daher sollte man bei allen Vorbehalten gegenüber Leukefelds recht unkritischer Haltung zur syrischen Regierung, ihre Schlussfolgerung, dass viele Einwohner Aleppos, unabhängig von ihrer Haltung zum Regime über ein Ende der Kämpfe froh sind, nicht vorschnell als einseitig abtun.

„Ob man für oder gegen die Regierung ist, spielt für viele Menschen in Aleppo schon lange keine Rolle mehr. Sie wollen vor allem den Kämpfen entkommen. Insofern gibt es im Gebiet unter Kontrolle der Regierung durchaus Personen, die mit der Regierung nicht einverstanden sind, die aber noch viel weniger damit einverstanden sind, dass die Opposition sich von bewaffneten Gruppen unterstützen lässt“, so Leukefelds Einschätzung[3] der Situation in Aleppo.

Sie weist auch darauf hin, dass in Aleppo nicht eine wehrlose Zivilbevölkerung einem hochgerüsteten Regime gegenüberstand. Es gab bewaffnete islamistische Formationen, die gegen die Regierungstruppen gekämpft haben, und so gab es auch in allen Teilen Aleppos, in den Bereichen, die von der Regierung gehalten wurden, ebenso von den von der bewaffneten Opposition beherrschten Regionen, Verwüstung und Tod. Und dann gab es noch in den von der Opposition beherrschten Teilen Aleppos den islamistischen Terror, der merkwürdigerweise von vielen Kommentatoren der Ereignisse gar nicht erwähnt wird.

„Man darf nicht vergessen, dass Menschen auf der Straße hingerichtet wurden, dass die Frauen sich tief verschleiern mussten“, so Leukefeld. Man sollte auch nicht vergessen, dass viele Aktivisten der demokratischen Opposition, die einst gegen das Baath-Regime rebellierten, Opfer dieser Islamisten wurden. Doch nachdem Russland in den Konflikt eingriff und auch noch Erfolge zu verzeichnen hatte, schienen sich für manche diese Islamisten in Luft aufgelöst zu haben.

Zu den eifrigsten Leugnern des Islamismus in Syrien gehörte Bente Scheller[4], die das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Beirut[5] leitet und vorher in Afghanistan war. Haben einst die Marketenderinnen die Kriegsplätze des Mittelalters abgegrast, so übernehmen diese Rolle heute Mitarbeiter von bestimmten Institutionen.

In einem Taz-Beitrag stellt sie die steile These auf, dass Assad mit Hilfe Russlands einen Massenmord verübt[6]. Besonders abstrus ist der Vorwurf an die Friedensbewegung, weitgehend tatenlos zuzusehen. Denn unabhängig davon, was man von deren Positionierung hält, ist die Friedensbewegung in Deutschland doch weitgehend marginalisiert und hat nun wirklich keinen Einfluss auf das was in Syrien passiert oder nicht passiert. Doch Scheller geht es um etwas Anderes. Sie will den Krieg in Syrien nicht beenden sondern verlängern:

An die Stelle einer Verantwortungsmoral ist die Gesinnungsmoral getreten. Lieber bleibt man seinem schlichten Weltverständnis treu, nachdem westliche Waffen keinen Frieden schaffen, als sich damit auseinanderzusetzen, dass nicht jeder Konflikt sich lösen lässt, ohne militärische Optionen auch nur zu erwägen. Das syrische Regime hat an keiner Stelle Konzessionen gemacht. Es nutzt das internationale Feigenblatt der Verhandlungen, um in seinem Schatten eine gnadenlose Militäroffensive gegen die eigene Bevölkerung zu vollstrecken – etwas, das gerade Pazifisten umtreiben sollte.

Bente Scheller

In ihrem Artikel ist von den verschiedenen islamistischen Banden, die in vielen Gebieten die Opposition vertrieben haben, nicht ein einziges Mal die Rede. Dafür wird viel Verständnis für die bewaffnete Opposition und nicht einmal verbal eine Distanz zu deren radikalislamistischen Fraktionen geäußert. Die Zitate aus sozialen Netzwerken, mit denen die Menschen, die in den Kampfgebieten wohnten, ihre Ohnmacht und Verzweiflung äußerten, werden instrumentalisiert.

Es wird nicht einmal die Überlegung angestellt, ob die Menschen nicht vor allem ein Ende der Kämpfe wollten. So könnte der Sieg der Regierung und ihrer Unterstützer tatsächlich auch für die Gegner des Regimes eine gute Nachricht sein. Jetzt können sie wieder Kraft schöpfen und sich auf den Widerstand gegen Assad konzentrierten, was in der Zeit viel schwieriger war, als die Bewaffneten die Szene beherrschten.

Warum gibt es in den Tagen, in denen in Aleppo vielleicht diese Bilder tatsächlich niemand mehr zu sehen bekommt, weil der Krieg vorerst zumindest dort beendet und die Islamisten vertrieben sind, kaum irgendwo eine Stimme, die darin eine Chance für die leidgeprüfte Bevölkerung sieht. Warum wird jetzt sogar in vielen Medien davor gewarnt, dass der künftige US-Präsident Trump in der Syrienfrage die Kooperation mit Russland sucht?

Die Erklärung sollte weniger in Syrien als in der deutschen Geschichte gesucht werden. Die fast durchweg negative Berichterstattung über die russische Intervention in Syrien noch verschärft durch einen möglichen Beistands Trumps wirkt wohl für manche in Deutschland so, als würde noch einmal eine Anti-Hitler-Koalition entstehen. Dieses Mal aber gegen den Islamismus, der in manchen Aspekten durchaus faschistische Züge hatte.

Der Begriff des Islamfaschismus kann durchaus auf einige der Formationen angewandt werden, die auch in Syrien ihr Unwesen trieben. Wenn jetzt in den deutschen Medien gar keine Erleichterung aufkommt, dass in der zweitgrößten Stadt Syriens diese Kräfte besiegt sind und die Bevölkerung jetzt zumindest keine Angst vor den Bomben und den Islamfaschisten mehr haben muss, könnte das durchaus daran liegen, dass im unterbewussten kollektiven Gedächtnis manche an Berlin 1945 dachten.

Für die meisten Deutschen waren die Soldaten der Roten Armee auch nur „die Russen“, und damals waren sie mit den USA verbündet. Man stelle sich nur vor, Hitlers Privatsekretärin Traudl Junge[7] hätte aus ihrem toten Winkel[8] in der Reichskanzlei die Möglichkeit gehabt, die sozialen Netzwerke über die Situation im Berlin in den letzten Wochen vor dem Ende des NS zu füttern. Man hätte genügend Zitate über tote Kinder, über zerbombte Häuser, über Hunger und Not finden können und man hätte damit das sogenannte Gewissen der Welt überzeugen können, doch abzulassen von der Forderung der bedingungslosen Kapitulation des NS.

Diese Vorstellung war in Deutschland weit verbreitet und deswegen hat sich auch ein Großteil der Bevölkerung nicht befreit, sondern von fremden Truppen erobert gesehen. Kann nicht hier ein Grund liegen, dass so viele gar kein gutes Wort über den Sieg über die Islamisten in Aleppo finden können?

In den 1980er Jahren haben Publizisten wie Eike Geisel[9] und Wolfgang Pohrt[10] die Befindlichkeiten der damaligen deutschen Friedensbewegung mit der NS-Vergangenheit Deutschlands abgeglichen[11]. Es wäre heute an der Zeit in ähnlicher Weise die aktuellen Befindlichkeiten deutscher Medien und Politiker im Syrienkonflikt zu hinterfragen. Sieht man nicht heute in den Russen und den fremden Truppen, die in Syrien die Islamisten besiegt haben, die Wiedergänger der Alliierten, die in Berlin für Deutschlands bedingungslose Kapitulation durchsetzten?

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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.taz.de/Katastrophale-Lage-in-Aleppo/!5362452/
[2] https://www.taz.de/Kommentar-Kaempfe-um-Aleppo/!5362341/
[3] http://www.n-tv.de/politik/Die-Syrer-wollen-ein-Ende-der-Kaempfe-article19323121.html
[4] https://www.boell.de/de/person/bente-scheller
[5] https://www.boell.de/de/navigation/naher-mittlerer-osten-5293.html
[6] https://www.boell.de/de/2016/12/12/beim-sterben-wegsehen
[7] https://portal.dnb.de/opac.htm?method=simpleSearch&query=12218257X
[8] http://www.imdb.com/title/tt0311320
[9] http://www.hagalil.com/archiv/98/06/geisel.htm
[10] https://www.perlentaucher.de/autor/wolfgang-pohrt.html
[11] http://www.zeit.de/1981/45/ein-volk-ein-reich-ein-frieden

Proteste gegen TTIP statt soziale Kämpfe im eigenen Land

Mit dem Widerstand gegen TTIP und CETA kann man anscheinend gegen den Kapitalismus wettern, ohne die wirtschaftlichen Bedingungen in Deutschland oder anderswo auch nur anzukratzen

Als großartigen Erfolg „für die freihandelskritische Bewegung“ bewertet[1] das Netzwerk Attac die Demonstrationen von ca. 320.000 Menschen gegen TTIP und CETA am 17. September in sieben deutschen Städten. Dabei wurde in der Pressemitteilung schnell klar, dass es Attac darum geht, innerhalb der SPD die freihandelskritischen Kräfte zu stärken.
Diese Kritik von Peter Nowak ist berechtigt, aber sie ändert nichts daran, dass die Bewegung gegen CETA und TTIP – in ihren Auswirkungen – eine antikapitalistische Bewegung ist. Ganz gleich, welche Illusionen sich Teile der Bewegung machen, ist diese Bewegung antikapitalistisch, weil sie sich einen virtuellen Platz am Verhandlungstisch des Großkapitals erkämpft hat.

Profitproduktion und ihres Handelsaustausches, und sie können nicht verhindern, dass sich das „tumbe Volk“ in diese Verhandlungen einmischt. Mit dieser Einmischung in die Entscheidungen der globalen Großkonzerne wird das Eigentumsrecht der Kapitalisten auf höchster Ebene in Frage gestellt. „Eigentumsrecht“ heißt ja nichts anderes, als die freie Entscheidung über eine Sache.
Diese freie Entscheidung über die Produktions- und Handelssachen wird durch die Bewegung gegen CETA und TTIP gebrochen und durchbrochen.
Hinter der Bewegung gegen CETA und TTIP steht die Enteignung des Kapitals, steht die Aneignung der Produktionsmittel durch das lohnabhängige Volk.
Wir sollten falsche Ansichten in dieser Bewegungund mit dieser Bewegung kritisieren, aber wir sollten mit den falschen Ansichten nicht die ganze Bewegung in Frage stellen.

Die Überschrift über Peters Artikel konstruiert einen Gegensatz zwischen dem Kampf gegen TTIP und CETA und den sozialen Kämpfen in Deutschland.
Der Kampf gegen TTIP und CETA steht aber nur soweit in Konkurrenz zu den anderen sozialen Kämpfen in Deutschland, als man TTIP und CETA mit nationalistischen und sozialdemokratischen Beweggründen kritisiert.
Die Bewegung gegen TTIP und CETA steht nur dann in Konkurrenz zu anderen sozialen Kämpfen in Deutschland, wenn nicht genügend deutlich gemacht wird, dass es bei TTIP und CETA um ein Komplott des amerikanischen und europäischen Kapitals handelt zunächst gegen die erstarkende Konkurrenz der BRIC-Staaten, dann aber auch gegen die sozialen und ökologischen Interessen der Lohnabhängigen und aller NIchtkapitalisten in beiden Hemisphären,
meint Wal Buchenberg

Protestzug in Berlin. Bild: Stephanie Handtmann/attac.de

Die Vernunft und die SPD

Schon im Titel macht Attac deutlich, welche Botschaft von der Demonstration ausgegangen sein soll: „Gabriel muss zur Vernunft kommen“, heißt es da – und dann betont Roland Süss vom Attac-Aktionskreis noch einmal:

Die Demonstrationen sind zudem ein deutliches Zeichen, dass der Versuch von Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel gescheitert ist, der Bevölkerung das geplante Abkommen mit Kanada als harmlos zu verkaufen. Jetzt ist es an den Delegierten des nicht öffentlich tagenden SPD-Parteikonvents am Montag, Gabriel zur Vernunft zu bringen.Roland Süss

Roland Süss

Davon abgesehen, dass sicher nicht alle derjenigen, die am Samstag gegen TTIP und CETA auf die Straße gegangen sind, ihr Engagement auf Spielgeld für Konflikte innerhalb der SPD reduzieren lassen wollen, ist es auch fragwürdig, dass Attac Gabriels Eiertanz um TTIP und CETA zur Frage der Vernunft erklärt. Solche emotionalen Anwandlungen sind Teil einer populistischen Rhetorik, die nicht nur Parteien wie die AfD gut beherrschen. Doch gerade emanzipative Kräfte sollten von Interessen reden, die hinter bestimmten politischen Entscheidungen stehen und könnten beispielsweise über die unterschiedlichen Kapitalfraktionen informieren, die mehr oder weniger Interesse an Abkommen wie CETA und TTIP haben.

Drückt sich in Gabriels Eiertanz gerade dieses Lavieren zwischen den unterschiedlichen Kapitalfraktionen und dann noch den Willensbekundungen einer SPD-Basis aus, die in der Frage von TTIP und etwas weniger auch bei CETA eine Renitenz an den Tag legt, die man beispielsweise bei von der SPD maßgeblich forcierten Entscheidungen wie der Agenda 2010 vermisst hat. Man könnte sogar die Vermutung äußern, dass für viele SPD-Mitglieder und auch Funktionäre, vor allem der mittleren Ebene, die Gegnerschaft zu TTIP und CETA der Ersatz dafür ist, dass nicht wenigstens versucht wird, den real existierenden Kapitalismus für den Großteil der Menschen etwas sozialer zu gestalten.

Genau das war über Jahrzehnte das sozialdemokratische Kerngeschäft und wurde mit Begriffen wie Humanisierung der Arbeitswelt und sozialer Kapitalismus bezeichnet. Reformen sollten nach diesen sozialdemokratischen Vorstellungen dazu beitragen, dass die Arbeitszeit verkürzt, die Mitbestimmung in den Betrieben ausgeweitet wird. So sollte der Kapitalismus für die Lohnabhängigen zumindest erträglicher gemacht werden. Doch spätestens in der neoliberalen Phase bekam der Begriff Reform einen neuen Klang. Er kündigte den Lohnabhängigen weitere Verschlechterungen ihrer Lebenssituation, Kürzungen von Leistungen und Verlängerungen von Renten- und Arbeitszeiten an. Die Hartz IV-Reform war dafür nur das prägnanteste Beispiel.

Dieser Wandel ist damit zu erklären, dass der weltweite Konkurrenzkapitalismus auf der Jagd nach immer besseren Verwertungsbedingungen auch nicht mehr die kleinsten Verbesserungen zulassen will. Damit begann aber auch der Niedergang der Sozialdemokratie, weil es eben die Hoffnung nicht mehr gab, durch kleine Reformen Verbesserungen der eigenen Lebens- und Arbeitsverhältnisse zu erreichen.


Ersatzhandlung TTIP

Wenn schon die Kapitalverhältnisse und die Standortlogik selbst die kleinsten Verbesserungen für die Masse der Bevölkerung nicht mehr ermöglicht, bekommen Abkommen wie TTIP oder CETA die Funktion einer Ersatzhandlung. Man kann scheinbar gegen den Kapitalismus wettern, ohne den eigenen Standort auch nur anzukratzen. Im Gegenteil, man kann sich als Verteidiger des „eigenen“ Kapitalstandortes feiern lassen, den man gegen fremde Standorte, hier besonders die USA, verteidigen will. Damit gelingt es in Zeiten, wo es über den wichtigen Alltagswiderstand der Betroffenen hinaus kaum relevanten Widerstand gegen die ständigen Verschlechterungen für Erwerbslose, prekär Beschäftigte und Migranten in Deutschland gibt, Massen auf die Straße zu bringen.

Am ersten Septemberwochenende beteiligten sich maximal 800 Menschen an einer Protestaktion[2] vor dem Bundesarbeitsministerium (Erst herrscht Ruhe im Land[3]), das in der letzten Zeit zahlreiche Verschlechterungen für Erwerbslose und Migranten zu verantworten hat, eben die Reformen im Zeitalter des Neoliberalismus.

Wenn nun zwei Wochen später 320.000 gegen TTIP auf die Straße gehen, dann ist das kein Zufall. Im ersten Fall hätte man sich mit einen deutschen Staatsapparat anlegen müssen, der alles tut, um die Kapitalverhältnisse am Standort Deutschland zu verbessern. Ein Protest dagegen hätte eine Distanz oder sogar eine Kritik am Standort Deutschland zur Voraussetzung. Proteste gegen TTIP und CETA hingegen können den Standort Deutschland entweder ganz ausklammern oder ihn sogar verteidigen vor Angriffen aus Übersee. Das ist auch der Grund, warum sämtliche Parteien rechts von der Union gegen TTIP[4]. Die AfD liefert die Begründung[5] präzise mit:

Gerade bei den vielfältigen Interessen der EU-Staaten muss man darauf bestehen, dass die einzelnen Mitgliedsstaaten, insbesondere Deutschland, direkt am Verhandlungstisch sitzen. In Bezug auf die USA sehen viele Bürger Deutschland und die EU als einen unterlegenen Junior-Partner und das Freihandelsabkommen als eine willkommene Gelegenheit für den Stärkeren, seine Macht noch weiter auszubauen.AfD

AfD

Die AfD befürwortet also eigentlich den Freihandel, sieht aber in den Vertrag die deutschen Interessen zu wenig berücksichtigt. Wenn man liest, wie auf rechten Webseiten gegeifert[6] wird, dass Konzerne wie VW in den USA für ihre Vertragsverletzungen in Sachen Umweltschutz zur Kasse gebeten werden, ahnt man, dass sich hier ein Antiamerikanismus mit einer Formierung zur deutschen Volksgemeinschaft paaren können, in der der ehemalige Nazikonzern VW natürlich eine besondere Rolle spielt.

Vergleich zur deutschen Anti-Pershing-Bewegung der 1980er Jahre

Ein Großteil der Gegner von TTIP und CETA, die am Wochenende auf die Straße gegangen sind, würden sich von einem solchen extremen Standortnationalismus distanzieren. Deswegen durfte die AfD-Führung auf den Demonstrationen auch offiziell nicht teilnehmen (AfD auf einer TTIP-Demo unerwünscht[7]). Wie viele AfD-Wähler dabei waren, ist natürlich nicht so leicht zu ermitteln. Aber wie bei den vorigen Anti-TTIP-Demonstrationen gab es auch am Wochenende Parolen, die zumindest auch einer deutschnationalen TTIP-Kritik gegenüber offen sind. Hier gibt es durchaus Parallelen zu den Massendemonstrationen der als Friedensbewegung firmierenden Anti-Pershing-Bewegung der 1980er Jahre. Auch damals war sie eher von der Traditionslinken dominiert, aber es gab auch genügend Raum für deutschnationale Untertöne, in denen sich diejenigen ausdrücken konnten, die den Alliierten nicht verziehen haben, dass sie 1945 gemeinsam das NS-Deutschland besiegten. Daher traf auch der Publizist Wolfgang Pohrt einen wunden Punkt, als er in der Friedensbewegung der 1980er Jahre eine deutschnationale Erweckungsbewegung[8] erkennen wollte.

Wenn nun die Taz in ihrer TTIP-CETA-Beilage über die Demonstrationen gegen TTIP und CETA schreibt: „Die Proteste sind damit so mächtig, wie einst die gegen die Stationierung von Atomwaffen, den Transport von Castoren oder die Globalisierung“, dann ist es auf jeden Fall angebracht, sich einige Fragen zu stellen. Wird mit dem Kampf gegen die Globalisierung nicht gerade gegen die Aspekte im Kapitalismus mobilisiert, die zumindest von Karl Marx noch auf dessen Positivseite verbucht worden sind? Und kann eine Bewegung, die die Globalisierung und nicht die Ausbeutung und die Verwertung im Kapitalismus zum Gegenstand ihrer Kritik macht, sich wirklich inhaltlich so klar von einer AfD oder einem Donald Trump distanzieren, wie es die Organisatoren der Demonstrationen verbal in den letzte Wochen getan haben?

Solche Fragen zu stellen, bedeuten nun keineswegs, etwa TTIP und CETA emanzipatorische Ziele und Zwecke unterzuschieben oder die Masse der Demonstranten, die am Samstag auf die Straße gegangen sind, in die rechte Ecke zu stellen. Es soll vielmehr deutlich werden, dass es nicht diese Verträge sind, die den Kapitalismus für viele Menschen so unerträglich machen. Wenn Kapitalismuskritiker mit dieser Intention auf die Demonstrationen gegangen sind, konnten sie sie vielleicht als Forum nutzen, um einigen TTIP-Kritikern diese Zusammenhänge näher zu bringen. Roland Röder von der Nichtregierungsorganisation Aktion 3Welt Saar[9] hat diesen Zusammenhang in einem Kommentar[10] in der linken Wochenzeitung Jungle World auf den Punkt gebracht:

Alles in allem gibt es gute Gründe, gegen TTIP zu sein – die leidigen informellen Schiedsgerichte, die noch nicht mal den Anschein von Öffentlichkeit wahren, sind einer davon. Aber es gibt keinen Grund, TTIP zum letzten Gefecht zu erklären. Das ist NGO-Propaganda im Katastrophenmodus. Gegen TTIP zu sein, ist so sinnvoll wie gegen Arbeitsverdichtung und für Lohnerhöhungen zu sein. Nur schafft man damit keine Ausbeutung ab, weder national noch international. Wie auch, schließlich gibt es einen fairen Kapitalismus genauso wenig, wie es faires Wetter gibt.Roland Röder

Peter Nowak
http://www.heise.de/tp/artikel/49/49455/1.html

Anhang

Links

[0]

http://attac.de

[1]

http://www.attac.de/ceta-demos-impressionen

[2]

http://berlin.blockupy-frankfurt.org/

[3]

http://www.heise.de/tp/artikel/49/49322/

[4]

http://www.taz.de/!5338407/

[5]

http://www.alternativefuer.de/programm-hintergrund/hintergrundinformationen/freihandelsabkommen/

[6]

http://www.pi-news.net/2016/09/vw-bosch-und-deutsche-bank-sollen-milliarden-blechen

[7]

http://www.heise.de/tp/artikel/49/49252/

[8]

http://www.zeit.de/1981/45/ein-volk-ein-reich-ein-frieden

[9]

http://www.a3wsaar.de/

[10]

http://jungle-world.com/artikel/2016/36/54791.html

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Kommentar von Wal Buchenberg  zu den Artikel auf dem Blog marx-forum:

http://marx-forum.de/Forum/index.php/Thread/234-Was-uns-bl%C3%BCht-TTIP-und-CETA/?postID=3696#post3696

In den vergangenen Wochen und Monaten sind Hunderttausende gegen die geplanten Abkommen CETA und TTIP auf die Straße gegangen.
Peter Nowak hat ganz recht, manche Illusionen und Motive der Bewegung gegen CETA und TTIP zu hinterfragen. Es gibt tatsächlich Kräfte in dieser großen Bewegung, die diese beiden Abkommen mittels „Standortlogik“ kritisieren. In ihrer Logik sind das europäische Kapital und die EU-Bürokraten eigentlich gut, und werden vom „bösen“ US-Kapital auf die schiefe Bahn des Abbaus sozialer und ökologischer Standards getrieben.
Diese nationalistische „rosa Brille“ macht es möglich, dass sich auch antiamerikanische Anhänger der Rechten unter die Demonstranten mischen.

Von Putinverstehern und Friedensbewegten