Die größere Gefahr ist ein Hang zum McCarthyismus in der Debatte

Ist Corbyn eine Gefahr für das jüdische Leben?

Mit der Kritik an der regressiven Israelkritik hat Rich Recht. Doch hier wird merkwürdigerweise ausgeblendet, dass in Großbritannien die Nahostdebatte sehr stark durch die Brille des Antikolonialismus gesehen wird. Dabei hat der Soziologe Peter Ullrich bereits vor mehr als 10 Jahren die unterschiedlichen Diskurse zum Nahostkonflikt in Deutschland und Großbritannien in dem Buch "Die Linke, Israel und Palästina" untersucht.

Es läuft nicht schlecht für den britischen Oppositionsführer Jeremy Corbyn. Beim ersten Fernsehduell mit Premierminister Boris Johnson erzielte er einen Achtungserfolg. Zudem gelingt es ihm,….

….. soziale Themen anzusprechen und damit deutlich zu machen, dass der Brexit nicht das alleinige Wahlkampfthema ist.

Auch zum Brexit hat Corbyn einen rationalen Vorschlag gemacht. Er will einen eigenen sozialen Austrittsvertrag mit den EU-Staaten abschließen. Doch das letzte Wort sollen die Wähler haben. Sie können dann entscheiden, ob sie austreten oder in der EU bleiben wollen. Das müsste eigentlich alle Brexitgegner überzeugen, die immer wieder ein neues Referendum einforderten.

Corbyns Vorschlag käme dem entgegen. Er ist auch keine Wiederholung des ersten Referendums, was eine Missachtung des Ergebnisses des ersten Referendums wäre. Die britischen Bürger hätten vielmehr die Wahl zwischen einen Austrittsszenario und dem Verbleiben in der EU. Dass Corbyn jetzt kritisiert wird, weil er nicht sagte, wie erabstimmen würde, ist absurd. Schließlich sollen ja die Wähler entschieden.

Es wäre also aus demokratietheoretischen Erwägungen nur zu begrüßen, wenn dann möglichst keine Empfehlung von oben kommen würde. Das Beispiel zeigt nur, dass egal, was Corbyn sagt oder nicht sagt, immer hat er mit heftiger Kritik zu rechnen. Der Grund liegt einfach darin, dass mit ihm ein Sozialdemokrat antritt, der an eine Tradition anknüpft, die von Figuren wie Tony Blair zerstört wurde.

Corbyn ist kein Revolutionär, er würde Großbritannien nicht in den Kommunismus führen. Aber er hat den Anspruch, auch in einer globalisierten Welt Politik für die vielen und nicht für die Millionäre zu machen. Ob das in einer globalisierten Welt bei der gegenwärtigen Phase des Kapitalismus realistisch ist, muss sich zeigen. Skepsis ist durchaus angebracht.

Wir haben schon viele Politiker als linke Sozialdemokraten antreten und kaum an der Regierung als „Bettvorleger der Deutsch-EU“ enden sehen. Die Syriza-Partei war die letzte in einer traurigen Reihe. Doch Corbyn soll erst gar nicht die Gelegenheit bekommen, sich möglicherweise zu blamieren oder vielleicht doch Erfolg zu haben.

Berechtige Kritik an Positionen von Corbyn zu Israel

In der Jüdischen Allgemeinen Zeitung wird berichtet, dass jüdische Mitglieder der Partei Corbyn nicht wählen wollen. Dabei handelt es sich um einen generellen Boykott der Labourpartei.

„Allerdings werden die JLM-Aktivisten einzelne Labour-Politiker bei der Neuwahl am 12. Dezember unterstützen, etwa die jüdischen Abgeordneten Ruth Smeeth im Wahlkreis Stoke-on-Trent North und Margaret Hodge in Barking im Londoner Osten“, heißt es in der Jüdischen Allgemeinen. Nun gibt es reale Gründe für die Entfremdung zwischen Corbyn und jüdischen Labourorganisationen. Corbyn steht in der Tradition einer antiimperialistischen Linken, die sich oft eines regressiven Antizionismus bediente.

In der Jüdischen Allgemeinen werden zwei Vorfälle genannt, die das Jewish Labour Movement Corbyn vorwerfen:

Corbyn verteidigte vergangenes Jahr ein Londoner Wandbild mit hakennasigen Bankiers, unter deren Monopoly-Tisch sich Hungernde krümmten. Und vor fünf Jahren legte er in Tunis einen Blumenkranz für „palästinensische Märtyrer“ nieder, die sich als Schwarzer-September-Terroristen herausstellten, die 1972 bei den Olympischen Spielen in München elf jüdische Sportler ermordet hatten.

Jüdische Allgemeine Zeitung

Es gibt auch jüdische Labourmitglieder für Corbyn

Doch die Darstellung, dass fast alle jüdischen Einrichtungen vor einem Premierminister Corbyn warnen, stimmt nicht. Es geht um unterschiedliche politische Positionen. Dabei werden meist die hervorgehoben, die in unterschiedlichen Fragen mit Corbyn über Kreuz liegen. Es gibt aber auch jüdische Labour-Mitglieder, die in manchen Fragen mit dem Vorsitzenden streiten, aber ihn trotzdem unterstützen.

Und dann gibt es auch noch jüdische Mitglieder, die Corbyn auch politisch vollständig unterstützen. Merkwürdigerweise hört man nur von der ersten Gruppe. Es gibt unter den Corbyn-Gegnern auch manche, denen der Politiker schlicht zu links ist. Das sagen manche Corbyn-Gegner ganz offen.

Der Historiker Dave Rich, Autor des Buches The Left’s Jewish Problem, sieht die Wurzel der Probleme in dem scharfen Linksruck von Labour unter Corbyn. „Das ist nicht mehr die alte, sozialdemokratische Labour-Partei.“ Die radikale Linke habe aus mehreren Gründen antisemitische Züge: einmal wegen ihrer obsessiven Zionismus- und Israelkritik, außerdem aus einem alten Antikapitalismus, der sich gegen „jüdische Finanziers“ richte. Corbyn ist ein leidenschaftlicher Unterstützer der Sache der Palästinenser. Aufsehen erregte er, als er Hamas und Hisbollah als „Freunde“ bezeichnete.

Jüdische Allgemeine Zeitung

Nun scheint Rich der Labour Party unter Blair nachzutrauern, wie übrigens viele Corbyn-Gegner. Wenn Rich von einem alten Antikapitalismus spricht, der sich gegen jüdische Finanziers richtet, kann man das nur unter Polemik abbuchen. Es ist richtig, einen verkürzten Blickwinkel ausschließlich auf den Finanzsektor zu kritisieren. Es ist aber absurd zu behaupten, Antikapitalisten richten sich gegen jüdische Finanziers.

Mit der Kritik an der regressiven Israelkritik hat Rich Recht. Doch hier wird merkwürdigerweise ausgeblendet, dass in Großbritannien die Nahostdebatte sehr stark durch die Brille des Antikolonialismus gesehen wird. Dabei hat der Soziologe Peter Ullrich bereits vor mehr als 10 Jahren die unterschiedlichen Diskurse zum Nahostkonflikt in Deutschland und Großbritannien in dem Buch „Die Linke, Israel und Palästina“ untersucht. Es könnte zur Versachlichung der Debatte beitragen, die Untersuchung noch mal zu lesen.

Identitäre Standpunkte jetzt auch in der Antisemitismusdebatte

Peter Ullrich steht mit seinem Gutachten über die Antisemitismusdefinition der International Holocaust Rembrance Alliance selbst stark in der Kritik. In einer Replik geht Ullrich auf einige Konfliktpunkte ein.

Bei der gesamten Auseinandersetzung geht es vereinfachend gesagt um die Frage, ob in den Debatten der letzten Jahre der israelbezogene Antisemitismus zu stark dominiert hat und der klassische Antisemitismus der Rechten zu stark in den Hintergrund getreten ist. Die Frage ist nach dem Anschlag eines neonazistischen Attentäters in Halle umso berechtigter. Daher ist es unverständlich, dass Ullrich vorgeworfen wird, sein Gutachten trotz des Anschlags in Halle veröffentlicht zu haben.

Die Kritiker müssten sich vielmehr fragen lassen, warum sie nach Halle so vehement betonen, es gäbe auch linken Antisemitismus, was ja Ullrich überhaupt nicht bestreitet. Das hört sich so an, wie wenn konservative Politiker nach rechten Anschlägen betonen, bloß die Gewalt von links nicht zu vergessen.

Wenn Ullrich vorgeworfen wird, er würde als Nichtjude Juden paternalistisch erklären, was Antisemitismus ist, muss man sich fragen, ob auch in dieser Diskussion jene identitäre Zerstörung der Vernunft Einzug hält, nach der nur von bestimmten Unterdrückungsformen Betroffene darüber reden dürfen, wie sie unterdrückt werden.

Das heißt als Männer gelabelte Menschen dürften nicht über Feminismus reden, als weiß gelabelte Personen haben zu Rassismus zu schweigen. Es gehörte zu den positiven Seiten der israelsolidarischen Kreise, gegen eine solche Identitätspolitik den Universalismus verteidigt zu haben. Und jetzt soll der ausgerechnet bei der Antisemitismusdiskussion aufgegeben werden?

Es sollte außer Frage stehen, dass Antisemitismus kein Problem der Juden ist, sie sind allerdings davon negativ betroffen. Es sollte auch unumstritten sein, dass sich an der Erforschung und der Bekämpfung alle beteiligen müssen. Dabei sollte auch heftig gestritten werden, aber ohne den beteiligten Diskussionspartnern ihre wissenschaftliche Qualifikation und Befähigung abzusprechen.

Antisemitismusdefinition trägt zur Diskriminierung jüdischer Menschen in Deutschland bei

Auch dazu haben sich manche Kritiker des Gutachtens von Peter Ullrich hinreißen lassen. Zudem ist offensichtlich, dass die diskutierte Antisemitismusdefinition nicht ausreicht, weil sie eben beispielsweise jüdische Kritiker israelischer Regierungspolitik nicht davor schützt, dass sie von Rechten, die sich als die falschen Freunde Israels ausgeben, beschimpft werden.

Doch gravierender ist noch, dass die Antisemitismusdefinition selbst zur Diskriminierung jüdischer Menschen in Deutschland beiträgt. Oder wie soll es man es bezeichnen, wenn Jüdinnen und Juden, nur weil sie in israelkritischen Organisationen mitarbeiten, Räume für Veranstaltungen gekündigt werden wie auch die Konten ihrer Projekte?

Zahlreiche Intellektuelle aus den USA und anderen Ländern haben schon vor einem McCarthyiismus unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den Antisemitismus gewarnt.

Micha Brumlik, der immer wieder gegen jede Form von Antisemitismus seine Stimme erhoben hat, schreibt in den Blättern für Deutsche und internationale Politik:

Die neue Form des McCarthyismus ist derzeit noch auf das Themenfeld Israel, BDS und Antisemitismus begrenzt. Und ebendort sollten wir ihm auch entschieden entgegentreten. Nur so können wir verhindern, dass das Beispiel Schule macht. Denn dann geriete die mühsam errungene liberale öffentliche Kultur der Bundesrepublik Deutschland in Gefahr. Damit aber drohte auch in Deutschland der Anfang einer bereits von vielen prognostizierten „illiberalen“ Demokratie.

Micha Brumlik, Blätter für Deutsche und Internationale Politik

Übrigens wurde im letzten Jahr auch in der Labour Party über die Antisemitismusdefinition heftig gestritten. Peter Nowak