Vor mehr als 15 Jahren gab es auch bereits den Versuch ihn mit Hilfe der Polizei aus der Demonstration zu drängen. Das scheiterte auch an der Solidarität ganz verschiedener Kolleg:innen. Denn am 1. Klassenkampf-Block des 1. Mai beteiligen sich Kolleg:innen verschiedener Einzelgewerkschaften des DGB, aber auch die Kolleg:innen der Basisgewerkschaft FAU oder des selbstorganisierten Gorilla-Workers Kollektiv. Es waren immer viele Kolleg:innen aus den unterschiedlichsten Ländern anwesend, also ein proletarischer Internationalismus in der Praxis. Der gemeinsame Nenner war die …
„Mehr internationaler Klassenkampf statt Beschwören von Volk und Nation“ weiterlesenSchlagwort: Peter Ullrich
Kritische Polizeiforscher unter Beschuss
»Seit über 15 Jahren setze ich mich als Führungskraft für die Weiterentwicklung der polizeilichen Bildung, die Förderung der Wissenschaftlichkeit sowie der Freiheit für Forschung und Lehre ein. Einer Selbstimmunisierung der Polizei trete ich daher entschieden entgegen. Dass in den letzten Wochen ein anderer Eindruck entstanden ist, bedauere ich zutiefst.« Mit dieser selbstkritischen Erklärung reagierte der Direktor der Hochschule der Polizei Rheinland-Pfalz (HdP RP), Friedel Durben, auf einen Offenen Brief, in dem zahlreiche Polizeiforscher*innen und Publizist*innen die Behinderung kritischer Polizeiforschung beklagen. Die Unterzeichner*innen monieren, dass die Hochschule der Polizei Rheinland-Pfalz eine ….
„Kritische Polizeiforscher unter Beschuss“ weiterlesenIst Corbyn eine Gefahr für das jüdische Leben?
Es läuft nicht schlecht für den britischen Oppositionsführer Jeremy Corbyn. Beim ersten Fernsehduell mit Premierminister Boris Johnson erzielte er einen Achtungserfolg. Zudem gelingt es ihm,….
„Ist Corbyn eine Gefahr für das jüdische Leben?“ weiterlesenUnzureichend erfasst
Spätestens seit dem Anschlag eines Neonazis auf die Synagoge in Halle steht die Bekämpfung des Antisemitismus wieder im Fokus von Politik und Zivilgesellschaft. Doch was ist Antisemitismus? Diese Frage bleibt weiterhin strittig. Jetzt hat der Politikwissenschaftler Peter Ullrich für die Rosa-Luxemburg-Stiftung ein Gutachten herausgegeben, das sich….
„Unzureichend erfasst“ weiterlesenDer Frust mit der Frist
»Frist ist Frust« – so lautet das Motto eines Bündnisses aus Gewerkschaften, Hochschul- und Studierendengruppen sowie des »Netzwerks für gute Arbeit in der Wissenschaft«. Mit seiner Kampagne »Entfristungspakt 2019« will das Bündnis die laufenden Verhandlungen über den neuen Hochschulpakt beeinflussen, der am 3. Mai vom Bundesrat verabschiedet werden soll. Zum Kampagnenauftakt hatten die beteiligten Gruppen…
„Der Frust mit der Frist“ weiterlesenMuss die Linke die EU verteidigen?
Überraschend war eher die Begründung. Da wird der Labor Party unter Corbyn nicht nur Antisemitismus, sondern auch Rassismus vorgeworfen. Der Vorwurf ist in sich nicht stimmig. Die dezidiert antizionistische Positionierung Corbyns könnte man aus einer gewissen Perspektive in die Nähe des Antisemitismus rücken [2]. Aber was soll dann der Vorwurf des Rassismus?
„Muss die Linke die EU verteidigen?“ weiterlesenCorbyn und der Antisemitismus
Es geht bei dem Streit um unterschiedliche Politikvorstellungen, aber es wäre verkehrt, hier nur ein Kampagne der Gegner des aktuellen Labour-Vorsitzenden zu sehen
Über Monate galt der Vorsitzende der britischen Labourparty als Hoffnungsträger einer sozialdemokratischen Linken, die anders als der schon längst vergessene letzte SPD-Bundestagskandidat mehr als nur heiße Luft produziert. Als linker Sozialdemokrat gegen den Willen des schon längst neoliberal gewendeten Labour Party gewählt und in mehreren Basisvoten bestätigt, dann sogar bei den Wahlen rech erfolgreich, schien Corbyn wie geeignet zum linken Hoffnungsträger.
Nun ist deren Haltbarkeit begrenzt und wenn man bedenkt, wer alles schon als ein solcher Hoffnungsträger firmierte, kann eigentlich nur denen gratulieren, die nicht zu dieser Kategorie gehören. Der griechische Ministerpräsident Tsipras gehört dazu. Seit er als der Pudel der Deutsch-EU die Austeritätspolitik mit linken Phrasen schönredet, will sogar die europäische Linke nicht mehr viel mit ihm zu tun haben. Und dass manche sogar SPD-Schulz kurzzeitig als einen solchen linken Hoffnungsträger anpriesen, zeigt nur, wie beliebig dieser Begriff geworden ist. Nun sollte man aber Corbyn nicht Unrecht zu tun. Im Vergleich zu Schulz kann der britische Sozialdemokrat fast schon als ein gemäßigter Linker mit Grundsätzen gelten.
Corbyn wirft nicht alles zum alten Eisen, was in den 1980er Jahren als links galt
Er ist ein Mann, der nicht alles, was in den 1980er Jahren als links galt, auf den Müllhaufen der Geschichte werfen will. Im Bereich der Wirtschaftspolitik kann er damit punkten, wenn er die Mär von dem Segen der Privatisierung nicht nachbetet und Sozialisierungen nicht für kommunistisches Teufelszeug hält. Schließlich hat die britische Labour-Party kurz nach Ende des 2. Weltkriegs mit einem sozialdemokratischen Sozialisierungsprogramm die Regierung übernommen.
Auch Arbeitskämpfe hält Corbyn nicht für altmodisch und so solidarisiert er sich gelegentlich mit Beschäftigten, die für bessere Arbeitsbedingungen kämpften. Was eigentlich als A und O sozialdemokratischer Politik galt, wird heute als linksaußen verschrien. Nur deshalb hat Corbyn den Ruf, ein unverbesserlicher Linker, ja geradezu ein Revolutionär zu sein. Er zog sich damit den Hass nicht nur der Konservativen, sondern auch der Blairisten zu, jener Strömung in der Labourparty, die die britische Sozialdemokratie auf Thatcher-Kurs gebracht haben. Das bringt ihm Unterstützung bis in Milieus der außerparlamentarischen Linken, die lange Zeit auf Distanz zum offiziellen Politbetrieb gegangen waren.
Jetzt aber hat Corbyn mit seinem Grundsatz, an alten linken Grundsätzen festzuhalten, plötzlich ein Problem. Denn besonders in der britischen Linken gehörte die Solidarität mit dem Kampf der Palästinenser auch zu diesen Essentials. Daher ist es nicht schwer, bei Corbyn, der jahrzehntelang inner- und außerhalb der Labour in der gemäßigten Linken aktiv war, Beweise zu finden, dass er an durchaus fragwürdigen propalästinensischen Aktionen beteiligt war. Dazu zählen Treffen mit Vertretern, die der Hamas und anderen reaktionären islamistischen Organisationen angehören und die nicht nur wegen ihres Hasses auf Israel keine Bezugspunkte für Linke sein dürften. Schließlich steht deren reaktionäres Familien- und Gesellschaftsverständnis gegen jegliche emanzipatorischen Inhalte.
Gute Gründe, bestimmte linke Grundsätze in Bezug auf Israel und den Nahen Osten in Frage zu stellen
Es gibt also gute Gründe, dass hier linke Traditionen infrage gestellt und kritisiert werden sollten. Dazu gehört eben die Kritiklosigkeit gegen über einem islamistischen Milieu, die Teile der britischen Linken soweit treibt, dass sie ohne Probleme Bündnisse mit den reaktionären islamistischen Gruppierungen einzugehen bereit sind. Berühmt berüchtigt wurde der ehemalige Labour-Linke George Galloway, den die Opposition gegen die Nato-Kriegspolitik in immer größere Nähe zu reaktionären arabischen Nationalisten wie Saddam Hussein im Irak, Assad in Syrien und später zu diversen islamistischen Gruppierungen gebracht hat. Er war auch kurze Zeit Kandidat des Parteiprojekts Respect, einer Liaison von linken Irakkriegsgegnern mit Islamisten, das schnell scheiterte.
Welche fatalen Folgen eine solche Blindheit gegenüber dem reaktionären, menschenfeindlichen Potential des Islamismus hat, zeigen die jahrelang verschwiegenen Missbrauchsfälle von jungen Frauen in mehreren britischen Städten. Aktuell macht die britische Stadt Telford hier Schlagzeilen (Telford ist das neue Rotherham ). Ähnliche Missbrauchsfälle in großen Stil gab es auch in anderen britischen Städten. In all den Fällen ist bemerkenswert, dass es Hinweise gab, der die Polizei lange Zeit nicht nachgegangen ist.
Die Großbritannien-Korrespondentin der linken Wochenzeitung Jungle World benennt einen wichtigen Aspekt für das behördliche Versagen ein:
Einer der Gründe für die Tatenlosigkeit der Behörden war wohl die Sorge der Polizei, als rassistisch angesehen zu werden, wenn sie gezielt Ermittlungen über eine Gruppe von Männern pakistanischer Herkunft einleitet, oder dass die Berichterstattung zu „Islamophobie“ führen könne.
Doerte Letzmann
Es wäre also selbstkritisch aufzuarbeiten, warum ein Linker die Grundsätze der Gleichheit aller Menschen, besonders die Emanzipation der Frauen, zugunsten eines Schulterschlusses mit regressiven islamistischen Vereinigungen aufgibt. Diese Linke hat ältere historische Erfahrungen vergessen. Vor 100 Jahren förderte die junge Sowjetunion hier vor allem die von der weltweit ersten Frauenministerin Alexandra Kollontai unterstützten Komitees von Frauen, die das Kopftuch abgenommen haben und damit vor allem im Osten des Landes den alten islamistischen Instanzen Paroli boten. Viele von ihnen wurden ermordet oder schwer verletzt. Ähnliche Emanzipationsbewegungen gab es nach 1945 auf dem Balkan und Ende der 1970er Jahre unter einer linken Regierung in Afghanistan. Hier liegen die emanzipatorischen Potentiale einer Linken, die eben nicht den Schulterschluss mit den Islamisten sondern mit ihren Opfern sucht.
Kampf um das außenpolitische Erbe von Blair
Die Frage des Umgangs mit dem Islamismus in der britischen Linken ist untrennbar verbunden mit der in der letzten Zeit virulent gewordenen Debatte der Haltung zu Israel. Doch dabei fällt auf, wie verkürzt die Diskussion wohl in Großbritannien als auch in Deutschland geführt wird. Das zentrale Problem dabei ist, dass die Debatte um den Antisemitismus, die aktuell solche Schlagzeilen macht, nicht mit dem generellen Kampf um den Kurs der Labour-Party in Verbindung gebracht wird.
Die Auseinandersetzung hat auch deshalb derart an Stärke gewonnen, weil sich zeigte, dass Corbyn nicht schnell wieder parteiintern gestürzt würde. Es wurde deutlich, dass er in der Parteibasis Rückhalt hat und dass ein Ministerpräsident Corbyn durchaus nicht so undenkbar ist, wie es noch vor Jahren schien. Deshalb verstärkt sich natürlich der Kampf der Blairisten, die ja nicht nur in der Wirtschafts-, sondern auch in der Außenpolitik Spuren hinterlassen. Bekannt war Blairs massives Engagement für den Irakkrieg, der schlicht auf Lügen, heute würde man sagen: auf Fake-News, beruhte.
Ein Teil derer, die jetzt angeblich wegen der regressiven Israelkritik gegen Corbyn und sein Umfeld mobil machen, gehört zu den Blair-Anhängern. Dazu zählt David Garrard, der nun Schlagzeilen damit machte, dass er als Labour-Spender die Partei wegen des Antiisraelismus verlassen habe. Dabei wurde ausgespart, dass Garrard eben die Labour-Party unter Blair unterstützte und nicht nur in der Nahostfrage mit dem Kurs unter Corbyn im Widerspruch liegt.
Es wird so oft getan, als stünden in dem Konflikt alle jüdischen Labour-Mitglieder gegen den Kurs von Corbyn und seinen Anhängern. In Wirklichkeit gibt es auch unter den jüdischen Labour-Mitgliedern Gegner und Befürworter des Kurses von Corbyn. Das ist eigentlich ganz selbstverständlich, weil es auch unter den jüdischen Mitgliedern unterschiedliche Auffassungen zu Fragen der Wirtschafts- und auch der Außenpolitik gibt. Es gibt dort vehemente Kritiker der Politik der gegenwärtigen israelischen Rechtsregierung. Manche kritisieren sie von einem linkszionistischen Standpunkt aus, es gibt auch Post- und Antizionisten unter den jüdischen Labour-Mitgliedern.
Zu den jüdischen Kritikern der israelischen Regierung gehört auch das Jewish Labour Movement, das Corbyn kürzlich besuchte. Bei manchen seiner Kritiker ist das ein weiterer Beweis für seine Anti-Israelhaltung. Das zeigt den instrumentellen Charakter der Debatte auf beiden Seiten. Für manche geht es dabei um eine Auseinandersetzung mit regressiver Kapitalismuskritik, dem Appeachment mit Islamisten und die regressive Israel-Kritik. Für andere geht es um eine Parteinahme für die gegenwärtige israelische Politik und die Nato-Politik. Es wäre für eine Debatte schon viel gewonnen, wenn die unterschiedlichen Beweggründe für die Kritik an Corbyn benannt würden.
Ein theoretischer Tiefpunkt ist dabei eine in der Taz zitierte Erklärung des britischen Soziologen David Hirsh:
Für Hirsh steht Labour unter Corbyn im Trend von Donald Trump, dem Front National, Ukip, Erdoğan und der AfD. Diese populistische Politik trägt xenophobe Züge. Zentral für alles Böse sei Israel. Corbyn sei davon nicht weit entfernt. Hirsh erwähnt dessen Besuche in Gaza bei Hamas-Funktionären, den Einsatz für den iranischen Auslandssender Press TV und die Verbindungen mit Holocaustleugnern, die sich hinter der palästinensischen Sache verstecken. „Er will gegen den Antisemitismus vorgehen, aber er versteht Israel als globalen Pariastaat – das ist nichts anderes als institutioneller Rassismus.
taz
In dieser von Hirsh zusammenformulierten Achse des Bösen fehlen nur noch Putin, Chavez und der nordkoreanische Herrscher. Nur verbreitet Hirsh mit dieser Zusammenstellung offensichtlich Fake News. Um das zu erkennen, braucht man kein Soziologe zu sein. Es ist durchaus nicht unwahrscheinlich, dass Trump Antisemit ist, aber er ist keineswegs antiisraelisch. Ganz im Gegenteil ist die israelische Rechte von Trump ganz begeistert, spätestens, seit er Jerusalem als israelische Hauptstadt anerkannt hat. Auch der Front National und die AfD gehören zu den falschen Freunden Israels, die ihren Antisemitismus mit ihrer Parteiname für Israel als Bollwerk gegen den Islamismus tarnen wollen.
Dass man proisraelisch und trotzdem antisemitisch sein kann, wäre eine wichtige Diskussion. Die aber führt Hirsch nicht, er erwähnt gar nicht, dass Trump als großer Freund Israels agiert. Nur so kann er eine Linie zu Corbyn ziehen, der ja gerade im Verdacht steht, dass seine Israelkritik Elemente des Antisemitismus enthält.
Der britische Blick auf den Nahostkonflikt
Nun wäre es aber ebenso falsch, wie es viele Corbyn-Unterstützer machen, in der Antisemitismus-Diskussion rund um Labour nur eine Kampagne der Rechten zu sehen. Die britische Linke muss sich, wie die Linke weltweit insgesamt, mit der Frage auseinandersetzen, wann sich eine Kritik von konkreten Maßnahmen der israelischen Regierung zu einer regressiven Israel-Kritik entwickelt, die durchaus Elemente des Antisemitismus in sich trägt. Wo wird scheinbare antirassistische Toleranz zum Appeachment mit reaktionären islamistischen Gemeinschaften?
Zudem könnte man sich mit dem linken Nahost-Diskurs in Großbritannien befassen. Schließlich hat schon 2007 der Soziologe und Bewegungsforscher Peter Ullrich die Unterschiede des Nahostdiskurses in Großbritannien und Deutschland gut herausgearbeitet. Dort kam er zu dem Schluss, dass in Großbritannien die Nahostdiskussion im Kontext der kolonialen Vergangenheit des Landes geführt wird. Das führt dazu, dass Linke, die sich gegen die koloniale Vergangenheit wenden, oft auch vehemente Israelkritiker sind.
Dabei wird aber ausgeblendet, dass zeitweise die britische Politik sehr propalästinensisch agierte und während des NS verhindern wollte, dass jüdische Flüchtlinge nach Palästina gelangen. Deshalb hat auch die jüdische Nationalbewegung zeitweilig einen bewaffneten Kampf gegen die britische Kolonialverwaltung in Palästina geführt. So sprengte die jüdische Untergrundarmee Irgun 1946 das Jerusalemer Hotel in die Luft, in dem die Briten ihr Hauptquartier errichtet hatten. Hier müsste eine Debatte mit und in der britischen Linken über regressive Israelkritik und Antisemitismus ansetzen, der es nicht vor allem darum geht, eine mögliche Labourregierung auf Blairkurs zu halten.
Peter Nowak
URL dieses Artikels:
http://www.heise.de/-4013231
https://www.heise.de/tp/features/Corbyn-und-der-Antisemitismus-4013231.html
Links in diesem Artikel:
[1] http://www.georgegalloway.com/
[2] http://www.therespectparty.net/
[3] http://www.wsws.org/de/articles/2007/11/resp-n23.html
[4] https://www.heise.de/tp/features/Telford-ist-das-neue-Rotherham-3998563.html
[5] https://jungle.world/artikel/2018/13/normalisierter-missbrauch
[6] http://www.independent.co.uk/news/uk/politics/blair-told-police-donors-were-being-honoured-for-services-to-labour-these-documents-say-different-428845.html
[7] http://www.jlm.org.uk/
[8] http://www.taz.de/!5494458/
[9] https://www.gold.ac.uk/sociology/staff/hirsh/
[10] http://www.tu-berlin.de/fakultaet_i/zentrum_fuer_antisemitismusforschung/
menue/ueber_uns/mitarbeiter/ullrich_dr_dr_peter/
[11] http://www.tu-berlin.de/fakultaet_i/zentrum_fuer_antisemitismusforschung/menue/
ueber_uns/mitarbeiter/ullrich_dr_dr_peter/
[12] http://www.nefesch.net/2014/01/chronologie-60-jahre-israel
Kommt neue linke Hoffnung aus Großbritannien und den USA?
Jeremy Corbyn, Bernie Sanders und zuvor Syriza: Kritik an einer Linken, die sich Veränderungen immer nur aus dem Ausland erhofft
Seltsam fern scheinen heute die Tage im Juni und Juli dieses Jahres, als sich die griechische Syriza-Regierung noch nicht dem Diktat von „Deutsch-Europa“ gebeugt und ihren Kurs mittels Referendum hat bestätigten lassen. In jenen Tagen hatten in ganz Europa vor allem junge Menschen die Gewalt erkannt, die hinter der offiziellen Propaganda von Demokratie und Freiheit wirkt, wenn genau diese Begriffe einmal ernst genommen werden.
Das Nein der griechischen Bevölkerung hat selbst bei Menschen in Deutschland die Ahnung entstehen lassen, dass eine andere Gesellschaft möglich ist. Die Bewegung war speziell hierzulande, aber auch in ganz Europa zu schwach, um den griechischen Widerspruch gegen das europäische Diktat zu unterstützen. Mit der griechischen Unterwerfung, die vielerorts als Putsch wahrgenommen wird, schien die Hoffnung schon wieder vorbei.
Doch diejenigen, die im Sommer 2015 politisiert wurden und die Hoffnung hegten, von Griechenland könne ein Signal für ein anderes Europa ausgehen, sind weiter dabei zu lernen und zu überlegen, wie es das nächste Mal besser laufen könnte. Am vergangenen Dienstag war mit Janis Varoufakis ein Mann zur Berliner Volksbühne gekommen [1], der monatelang im Fokus der Öffentlichkeit stand, weil er als griechischer Verhandlungsführer mit den EU-Gremien die ökonomischen Argumente hinter sich hatte, was ihm auch vielfach bestätigt wurde.
Es zeigte sich aber, dass es in diesen Gremien nicht um Argumente, sondern um die Durchsetzung von Macht geht. Varoufakis diskutierte in Berlin wie in anderen Ländern über einen Plan B [2], er setzt aber immer noch die Hoffnung auf eine gemeinsame Veränderung innerhalb der EU und sieht in einem Austritt aus dem Euro nur das allerletzte Mittel.
Kommt jetzt Hoffnung aus Großbritannien?
Tatsächlich war in den letzten Wochen ausgerechnet in der britischen Labour-Party, die mit Blair zum Modell für die Hinwendung nominell sozialdemokratischer Parteien zum Wirtschaftsliberalismus geworden war, mit Jeremy Corbyn von der Basis ein Mann zum Vorsitzenden gewählt worden, der an die Vorstellungen der Sozialdemokratie vor Blair anknüpfen will.
Es ist ein Ausdruck der gesellschaftlichen Regression in den letzten Jahrzehnten, dass Positionen, die in den 1970er und 1980er Jahren in der Mitte der Sozialdemokratie beheimatet waren, heute als Linksaußenpositionen wahrgenommen werden. So wird Corbyn immer als Politiker vom äußerst linken Flügel der Labour-Party vorgestellt. Eine solche gesellschaftliche Verschiebung erleben wir auch in Deutschland, wo heute die Mehrheitspositionen der Linkspartei als Linksaußenpositionen wahrgenommen werden, obwohl sie im Vergleich zur SPD und den DGB-Gewerkschaften äußerst gemäßigt sind.
Wenn Corbyn die Wiederverstaatlichung der britischen Railway fordert, so versucht eine mediale Kampagne darin fast kommunistische Positionen zu sehen. Dabei haben die Gewerkschaften im Bahnsektor haben immer gegen die desaströsen Folgen der Privatisierung gekämpft, die im Film „The Navigators“ von Ken Loach gut dargestellt werden.
Der Erfolg von Corbyn beruht vor allem auf der Mobilisierung junger Aktivisten, die als Studierende in den letzten Jahren gegen zunehmende Prekarität auf die Straße gegangen waren. Die Bewegung wurde schnell zerstreut und der radikale Flügel mit Repression ruhiggestellt. Doch auch nach dem Studium erwartet diese Leute nur eine neue Stufe der Prekarität, dieses Mal als Wissenschaftler, Künstler oder Medienarbeiter. Sie waren der enthusiastische Kern der Pro-Corbyn-Bewegung.
Die zweite Gruppe, die ihn unterstützte, war die traditionelle NGO-Szene, vor allem aus der britischen Antikriegsbewegung, die sich mit dem Kriegskurs von Blair endgültig der Labour-Party entfremdet hatte. Die dritte Säule war die einst mächtige britische Gewerkschaftsbewegung, die von Thatcher als „Feind im Innern“ betrachtet und zerschlagen wurden. Die Blair-Labourparty hat an diese Politik angeknüpft.
Als Subkultur und Arbeiterbewegung zusammenkamen
So hat sich in der Kampagne für Corbyn wieder jenes Bündnis zusammengefunden, das bereits in den 70er und 80er Jahren funktionierte. Die Zeit, als Subkultur und die linke Gewerkschaftsbewegung in Großbritannien kooperierten, wurde im letzten Jahr durch den Film Pride [3] wieder in den öffentlichen Fokus gerückt. Der Film behandelt die historische Tatsache der Unterstützung des britischen Minerstreiks durch die Londoner Schwulen-Lesbenbewegung.
Diese wie der Film zeigt durchaus nicht konfliktfreie Kooperation hat eine längere Vorgeschichte. Ein zentrales Moment darin war der Streik der Beschäftigten der Firma Grunwick [4] im Jahr 1977. Es war der längste Ausstand in London und die Streikenden waren überwiegend Frauen aus Asien, die eigentlich schwer zu organisieren waren.
Solidarität bekamen sie von den neuen linken Bewegungen, die Mitte der 70er Jahre auch in London am Wachsen waren. Aber auch Arthur Scargill [5] kam zur Unterstützung: Der militante Vorsitzende der Bergleutegewerkschaft beteiligte sich gemeinsam mit vielen Miners am Solidaritätsstreik. In der gemeinsamen Aktion von Gay-Aktivisten und Arbeitermilitanten wurde die Grundlage für die LGSM 7 Jahre später gelegt. Mit dem Grunwick-Streik gelang es erstmals, die Gewerkschaften für die Belange von Frauen aus Asien zu interessieren.
Es entstand eine Front der Solidarität, die sich aus Teilen der linken Subkultur, Gewerkschaften und verschiedenen Flügeln des Arbeitermarxismus zusammensetzte. So wurde die historisch kurze Zeitspanne eingeleitet, als linke Subkultur und der radikale Flügel der fordistischen Arbeiterbewegung kooperierten [6].
Ob die Wahl von Corbyn zum Labour-Parteivorsitzenden eine neue aktuelle Form dieser Zusammenarbeit einleitet, ist noch offen. Doch außerparlamentarische britische Gruppen wie Plan C [7]geben ihm zumindest eine Chance [8].
Corbyn – Gefahr für die Nation?
Doch auch die Nachlassverwalter von Thatcher haben sich positioniert und sehen die Wahlen eines Sozialdemokraten, der ausdrücklich an die Vor-Thatcher-Ära anknüpfen will, als große Gefahr. Der konservative britische Premierminister twitterte nach Corbyns-Wahl:
Nicht von ungefähr knüpft die Propaganda für Nation, Wirtschaft und Familie an Argumentationsstränge der Ultrarechten aller Länder gegen die Linke an, nicht zuletzt der spanischen Faschisten gegen die damalige Volksfrontregierung in den 1930er Jahren. Viele ultrarechte Gruppen tragen die Namen Vaterland und Familie in ihren Parteinamen.
Auch aus Geheimdienstkreisen kamen schon Warnungen, dass man eine mögliche Corbyn-Regierung, zumindest wenn sie die Postionen nicht anpasst, mit allen Mitteln sabotieren werde. Julian Assange hat bereits mit der Warnung Aufmerksamkeit erregt, dass die Geheimdienste alles unternehmen werden, um eine Wahl Corbyn bereits vor der nächsten Unterhauswahl zu stoppen, wenn er weiter an einer konsequenten Abrüstung und einen Austritt Großbritanniens aus der Nato festhalten.
Assange riet [9] Corbyn, er sei gut beraten, wenn er nicht an allen Fronten kämpfen würde. Diese Empfehlung zur Mäßigung kann allerdings auch mit Assange in vielen Punkten alles anderen als fortschrittlichen Politikvorstellungen korrespondieren.
Corbyn – ein Freund der Hamas und Hisbollah?
Eine besondere Kritik an Corbyn, die sich auch Teile der israelsolidarischen Linken in Deutschland zu eigen machen, ist seine Position im Nahostkonflikt. Tatsächlich zählt er zu den Kritikern der israelischen Regierung und sieht die Bündnispartner in israelischen Linken und palästinensischen Organisationen. Dass er seine Kritik dabei vor allem gegen Israel richtet, hat allerdings mit der allgemeinen Positionierung des Großteils der linken Szene in Großbritannien zu tun.
Corbyn ist hier also keine Ausnahme, sondern steht da im politischen Mainstream. Dazu sollte man sich die Studie [10] des Soziologen Peter Ullrich [11] zur Kenntnis nehmen, in der er die Positionen der Linken in Deutschland und in Großbritannien analysierte und miteinander verglichen hat. Ullrich hat die Gründe für die unterschiedliche Position herausgearbeitet.
Während in Deutschland die Nahostdebatte vor dem Hintergrund der Shoah geführt wird, spielt in Großbritannien die Geschichte des Kolonialismus eine zentrale Rolle. Corbyn steht für eine israelkritische Positionierung von Jüdinnen und Juden, die es in aller Welt gab und gibt. Die Grenze zu einer regressiven Israelkritik wäre dann durchbrochen, wenn reaktionäre Organisationen wie Hisbollah und Hamas zu Bündnispartnern einer Linken verklärt würden.
Hier muss Corbyn tatsächlich Missverständnisse ausräumen. Bevor er aber gleich zu einem Feind Israels stilisiert wird, sollte erst einmal die unterschiedlichen Positionierungen der britischen Linken im Nahostkonflikt zur Kenntnis genommen werden.
Kann ein Sozialdemokrat US-Präsident werden?
Während also der Sozialdemokrat Jeremy Corbyn bereits wenige Wochen nach seiner Wahl massiven Angriffen ausgesetzt ist und eher publizistisch auf die Position des Verlierers festgelegt wird, der die Wahlen nie gewinnen kann und vielleicht vor dem nächsten Wahltermin wieder abgesetzt sein wird, wird der kurzzeitige Aufstieg eines anderen Sozialdemokraten eher unaufgeregt verfolgt.
Es geht um den Achtungserfolg des selbsternannten US-Sozialisten Bernie Sanders [12]. Mit seinen sehr gemäßigt sozialdemokratischen Positionen ist er aktuell durchaus ein aussichtsreicher Kandidat [13]der US-Demokraten für die Präsidentenwahl. Ob er letztlich, wenn es Ernst wird, gegen den Wahlkampfapparat von Hillary Clinton was ausrichten kann, muss bezweifelt werden.
Doch allein sein momentaner Erfolg zeigt, dass es auch in Teilen der US-Wählerschaft ein Unbehagen am wirtschaftsliberalen Konzept gibt und das Interesse an sozialdemokratischen Regulationsmodellen wächst.
Nun muss allerdings sowohl im Fall der USA wie auch Großbritanniens berücksichtigt werden, dass die Millionen sozial und gesellschaftlich Abgehängter gar nicht wählen gehen. Sie werden schon deshalb nicht einfach wieder zur Wahlurne gehen, nur weil scheinbar ein Sozialdemokrat Chancen hat, weil sie das gar nicht wahrnehmen und weil sie sich schlicht für diese Art der Politik nicht mehr interessieren. Es ist bisher nur in Venezuela den großen Kampagnen für Chavez gelungen, die dort Abgehängten und Armen für die Wahlen zu interessieren, was sich in großen Wahlerfolgen für die bolivarianische Revolution niederschlug.
Die Kämpfe vor der eigenen Haustür vergessen
Auf der eingangs erwähnten Veranstaltung mit dem ehemaligen griechischen Finanzminister Varoufakis wurde auch eine Warnung an die Linke in Deutschland laut, nun ihre Hoffnungen von Griechenland auf Großbritannien zu lenken. Der linke kroatische Philosoph Srećko Horvat [14] kritisierte die Reaktionen vieler Linker auf die Ereignisse in Griechenland, die sich in anderen Ländern wiederholen könnten [15].
Heute habe man sich einer Art „internationalen Masturbation“ hingegeben, kurz vor dem Referendum habe man geglaubt, gleich zum Orgasmus zu kommen und müsse nun mit der große schmerzhaften Enttäuschung zurechtkommen. Dasselbe werde auch Labour in Großbritannien mit Jeremy Corbyn passieren, „über den jetzt gerade alle masturbieren“, so Horvat.
Von dieser Kritik sollte sich aber auch eine Linke in Deutschland angesprochen fühlen, die sich Veränderungen immer nur aus dem Ausland erhofft. Waren es in den 1980er Jahren noch Guerillas aus Zentral- und Südamerika so sind es jetzt europäische Sozialdemokraten. Dabei wird oft übersehen, dass die Elemente für Änderungen auch in der deutschen Gesellschaft vorhanden sind.
Nur wenige Meter von der Volksbühne, wo Hunderte Menschen auf den Einlass zur Diskussion mit Varoufakis warteten, standen wie oft in den letzten Wochen Mitarbeiter des Kinos Babylon auf Streikposten. Sie kämpfen seit Wochen für einenTarifvertrag [16]. Nur wenige derjenigen, die auf Varoufakis Worte warteten, hatten das Bedürfnis, den Kämpfern gegen die Austeritätspolitik vor der eigenen Haustür einen Solidaritätsbesuch abzustatten.
http://www.heise.de/tp/news/Kommt-neue-linke-Hoffnung-aus-Grossbritannien-und-den-USA-2842492.html
Peter Nowak
Links:
[1]
[2]
[3]
[4]
[5]
[6]
[7]
[8]
[9]
[10]
[11]
[12]
[13]
[14]
[15]
[16]
Die deutsche Brille ist getrübt
Peter Ullrich untersuchte akribisch den angeblichen Antisemitismus unter Linken
Wann bekommt Kritik an Israel eine antisemitische Schlagseite? Ist der Aufruf zum Boykott von Waren aus Israel seitens eines Landes gestattet, in dem vor 80 Jahren mit dem Boykott jüdischer Geschäfte die systematische Ausgrenzung von Juden begonnen hatte, die im industriellen Judenmord mündete? Warum fanden Aktivisten der Solidarität mit Palästina, darunter Bundestagabgeordnete der LINKEN, nichts dabei, auf der Gaza-Flotte mit erklärten Islamisten zu kooperieren?
Das sind nur drei von vielen Fragen, denen sich Linke stellen müssen. Die Debatten darüber führten in der Vergangenheit zu Spaltungen und gelegentlich sogar zu Schlägereien. Die Zeit der schlimmsten Eskalationen scheint vorbei, konstatiert der Soziologe und Kulturwissenschaftler Peter Ullrich. Statt moralischer Empörung bietet er Argumente. Sachkundig und sachlich befasst er sich mit der nach wie vor aktuellen Problematik.
Im Vorwort würdigt der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik, dass Ullrich den Wahn »radikaler Identifikation und geborgter Identitäten« – sei es bezüglich des Staates Israels wie auch der Palästinenser – zugunsten eines »politischen Realitätsprinzips« beende. In der Tat gelingt dem Buchautor, sämtliche Stolperfallen zu vermeiden, die dieser Konflikt bietet. Weder leugnet oder bagatellisiert Ullrich Antisemitismus auch in linken Zusammenhängen noch zieht er daraus den Schluss, dass es heute eine rotbraune Querfront gäbe.
Das Buch ist Ergebnis einer fast 15-jährigen Beschäftigung mit dem Thema. Der Autor hat sich tief in die Materie gekniet und die diversen Quellen studiert. Ullrich analysiert auch antimuslimische Elemente respektive Tendenzen in der mit Israel bedingungslos solidarischen Strömung innerhalb der Linken. Auch hier vermeidet er jegliche Verallgemeinerung und stellt klar, dass muslimfeindliche oder antiarabische Töne nur bei einem kleinen Teil der Israel pauschal verteidigenden Szene zu hören sind.
Ullrich erinnert aber auch daran, dass in einigen israelsolidarischen Publikationen die erste Intifada der Palästinenser Ende der 1980er Jahre »als hochaggressives, antisemitisches Werk« qualifiziert wurde. Dabei sei ignoriert worden, dass die Intifada sich gegen die israelische Besatzung und nicht gegen die Juden als solche wandte und sie gerade auch maßgeblich von palästinensischen Frauen getragen worden ist, während islamistische Einflüsse damals gering waren. Der Autor kritisiert zu recht, dass die Geschichte des Nahostkonflikts ausschließlich durch die deutsche Brille gesehen werde. Diese sei getrübt, erfasse nicht die wahren Ursachen des Konflikts, verfälsche das Urteil und werde nicht sämtlichen Bewohnern der Region gerecht. Und Brumlik erinnert im Vorwort daran, dass selbst in Israel bis in die 1960er keinesfalls alle Shoah-Überlebenden gleichermaßen geehrt und respektiert wurden, ja teilweise sogar – wie der renommierte Historiker Tom Segev nachgewiesen hat – verhöhnt worden sind.
Ein spezielles Kapitel bilanziert den Umgang der DDR mit Jüdinnen und Juden. Nach antizionistisch verbrämtem, von Moskau initiiertem Antisemitismus Anfang der 1950er, der mit Stalins Tod ein Ende fand, seien anders als in anderen sozialistischen Ländern Osteuropas die jüdischen Gemeinden in der DDR keinen Restriktionen ausgesetzt gewesen. Im letzten Kapitel, das sich der Linkspartei widmet, wirft Ullrich einer Studie der Politikwissenschaftler Samuel Salzborn und Sebastian Voigt aus dem Jahr 2011 methodische Mängel vor. Von der Linkspartei wiederum fordert er, sie solle Forschungen unterstützen, die qualitative und quantitative Aussagen über eventuellen Antisemitismus in ihrer Mitgliedschaft ermöglichen.
Peter Ullrich:
Deutsche, Linke und der Nahostkonflikt. Politik im Antisemitismus- und Erinnerungsdiskurs.
Wallstein. 207 S., geb.,
19,90 €
www.neues-deutschland.de/artikel/915831.die-deutsche-brille-ist-getruebt.html
Peter Nowak
Die Debatte ist nicht neu
Peter Ullrich über die Antisemitismus-Diskussion in der LINKEN
Der Soziologe Peter Ullrich arbeitet an der Abteilung für medizinische Psychologie und medizinische Soziologie der Leipziger Universität und ist Verfasser des im Dietz-Verlag erschienenen Buches »Die Linke, Israel und Palästina«.
ND: Sie haben über den Antisemitismus in der Linken geforscht. Kommt die aktuelle Debatte in der Linkspartei für Sie überraschend?
Ullrich: Nein, diese Debatte ist ja nicht neu. Sie wiederholt sich in bestimmten Zyklen: bei gedenkpolitischen Anlässen oder Ereignissen im Nahen Osten. Neu ist allerdings die Verknüpfung der Debatte mit der Frage der politischen Legitimität der Linkspartei und ihrer Regierungsfähigkeit, wie sie in der aus wissenschaftlicher Sicht höchst kritikwürdigen Studie des Gießener Politikwissenschaftlers Samuel Salzborn und des Leipziger Historikers Sebastian Voigt angestrengt wird.
Was ist ihre Hauptkritik an dieser Studie?
Einzelne Negativbeispiele werden unzulässig generalisiert, was nur durch Auslassung wichtiger Kontextinformationen gelingt. Zudem sind zentrale historische Prämissen falsch. So wird der Eindruck erweckt, mit der LINKEN würde erstmals in der Nachkriegszeit eine Partei mit antisemitischen Positionen regierungsfähig werden. Damit werden die zahlreichen Politiker mit NSDAP-Vergangenheit sowie antisemitische Ausfälle von Politikern aller Parteien in der Nachkriegszeit relativiert und der Antisemitismus einseitig in der LINKEN verortet.
Warum konnte die Diskussion dann jetzt in der Partei eine solche Bedeutung bekommen?
Die Linkspartei hat sich die Debatte nicht ausgesucht. Die Berichterstattung der letzten Wochen war geprägt durch teilweise perfide Unterstellungen. Zudem ist die Diskussion eng mit den innerparteilichen Strömungskonflikten verknüpft. So müssen die regierungswilligen Reformer viel stärker unter Beweis stellen, dass sie auch in dieser Frage staatstragend sind als die Vertreter des linken Flügels.
Aber Sie bestreiten ja nicht, dass es dort Antisemitismus gibt?
Antisemitische Positionen unter Linken sind meist die Folge einer Überidentifikation mit den Palästinensern im Nahost-Konflikt. Bei manchen Linken ist sie mit einer völligen Ignoranz gegenüber den Interessen der israelischen Seite in dem Konflikt verbunden.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Die Forderung nach einem binationalen Staat im Nahen Ost ist von einer menschenrechts-universalistischen Perspektive nicht zu beanstanden. Problematisch wird es aber, wenn die reale Problematik antisemitischer Gruppierungen wie der Hamas ebenso ausgeblendet wird wie der Wunsch vieler Juden nach den Erfahrungen der Shoah, in einem eigenen Staat zu leben.
Wurde die Debatte über den linken Antisemitismus nicht eher in Kreisen der außerparlamentarischen Linken als der Partei die LINKE geführt?
Ja, denn der inhaltliche Kern der Partei ist nicht der Nahost-Konflikt. Es geht ja eher um Fragen sozialer Gerechtigkeit oder die Anerkennung von DDR-Biografien. Die große Mehrheit der Mitglieder unterstützt intuitiv die Palästinenser, aber das Thema steht bei ihnen nicht im Vordergrund. Eine bedingungslose Identifikation mit einer Seite im Nahost-Konflikt wurde eher von kleineren, aber sehr ideologisierten Gruppen praktiziert.
Ist es nicht positiv zu werten, dass jetzt über Antisemitismus in der LINKEN diskutiert wird?
Diese Hoffnung hatte ich auch. Eine solche Debatte müsste die Sensibilität dafür stärken, wo propalästinensische Positionen an antisemitischen Einstellungen anschlussfähig sind. Da wirkt der Beschluss der Bundestagsfraktion allerdings kontraproduktiv, weil er die alten Frontstellungen zementiert. Das zeigen sämtliche Reaktionen. Hier wird versucht, mit administrativen Mitteln eine notwendige Debatte zu ersetzen.
Sehen Sie noch einen Ausweg?
Notwendig wäre eine Positionierung gegen jede Form von Antisemitismus und genauso deutlich gegen die israelische Besatzung. Ausgewogenere Akteure wie die Rosa-Luxemburg-Stiftung könnten bei der Formulierung einer solchen nichtidentitären Politik eine wichtige Rolle spielen.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/200175.die-debatte-ist-nicht-neu.html
Interview: Peter Nowak