Ausbruch aus Kontrolle und Zwang

Wissenschaftler befragten Jugendliche in arabischen Städten nach ihren Lebensvorstellungen

Die Ausbreitung der islamistischen Terrormiliz IS in der arabischen Welt lassen fast vergessen, dass erst vor Kurzem der Arabische Frühling die Linke begeisterte. Von Jugendlichen initiiert entstanden Massenbewegungen, die zum Sturz langjähriger autoritärer Herrscher führten. Wissenschaftler der Universität Leipzig und vom Centrum für Nah- und Mitteloststudien Marburg ließen sich durch diese Bewegungen zu einem ambitionierten Forschungsprojekt inspirieren und befragten Jugendliche aus unterschiedlichen Milieus in Algerien, Marokko, Tunesien, Dubai, Ägypten, Libanon und der Türkei. Die Ergebnisse sind…

…nun als Buch erschienen, das auch für Leser ohne wissenschaftlichen Hintergrund gut verständlich ist.

Das gemeinsame Charakteristikum der arabischen Proteste waren die gut ausgebildeten jungen Menschen, die oftmals als Straßenverkäufer ein kümmerliches Leben fristeten und nun für ihre Rechte auf die Straße gingen. Der Band beleuchtet ihre alltäglichen Handlungsspielräume im Rahmen wirtschaftlicher Zwänge und staatlicher Kontrolle sowie ihre Rolle in politischen Ordnungen. Die Beiträge zeigen, wie Widerstand und neue Initiativen ihre Gesellschaftsentwürfe verändern. Die Studien vor Ort bieten einen differenzierten Blick auf das breite Spektrum des Jugendlichseins in den Städten der arabischen Welt. Dadurch werden die unterschiedlichen Bedingungen für die Proteste deutlich, die unter dem einheitlichen Begriff »Arabischer Frühling« verschwinden. So arbeitet der Beitrag für Jemen heraus, dass die Massenproteste entstanden, als eine städtische Bewegung die sozialen und kulturellen Errungenschaften des einst sozialistischen Südens gegen die Eliten aus dem konservativen Norden verteidigen wollte.

Obwohl spätere Ereignisse wie der Militärputsch in Ägypten und der Aufstieg des IS in dem Buch nicht mehr berücksichtigt werden konnten, liefern die Länderporträts den Kontext für diese Entwicklungen. Wenn im Algerien-Kapitel über den islamistischen Terror während des Bürgerkriegs in den 1990er Jahren berichtet wird, erinnert das an das gegenwärtige Wüten des IS.

Peter Nowak

Jörg Gertel, Rachid Quaissa,  Urbane Jugendbewegungen – städtischer Widerstand und Umbrüche in der arabischen Welt, Bielefeld 2014, 400 S., 19,99 €.