Gefährliche Flüchtlingspolitik

Ein Dokumentationsteam sammelt Nachrichten über die Folgen bundesdeutscher Flüchtlingspolitik, die in der Regel vergessen werden

Am 23. April 2012 brachte sich ein iranischer Flüchtling in der Würzburger Asylunterkunft mit den Scherben einer zerbrochenen Flasche schwere Schnittverletzungen bei. Am 3.Mai letzten Jahres schluckte ein tunesischer Abschiebegefangener im Haftkrankenhaus der Justizvollzugsanstalt Leipzig vier Schrauben und einige Tage einen zerbrochenen Löffel. Diese Informationen finden sich in der aktualisierten Dokumentation „Die bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen“, die die Antirassistische Initiative Berlin seit nunmehr 19 Jahren herausgibt.

Elke Schmidt hat mit einer Mitstreiterin 1994 das Projekt begonnen, nachdem sich der Onkel eines verschwundenen tamilischen Flüchtlings an die ARI wandte. Bei der Recherche stellte sich heraus, dass er mit 8 anderen tamilischen Flüchtlingen beim Grenzübertritt in der Neiße ertrunken ist. Zusammen mit einem Filmteam hat die ARI den Tod in der Neiße öffentlich gemacht. Seitdem sammelt das kleine Team Nachrichten über Todesfälle, Misshandlungen und Gewalt im Zusammenhang mit der deutschen Flüchtlingspolitik.

Gesammelt werden Informationen und Nachrichten, die es oft nur auf die hinteren Seiten de Regionalzeitungen bringen und schnell wieder vergessen werden. Im letzten Jahr ist die Zahl der Selbsttötungen von Flüchtlingen zurückgegangen, doch die Zahlen der Selbstverletzungen und Selbsttötungsversuche sind weiterhin sehr hoch. Die Gründe dafür sieht Schmidt in der existentiellen Angst vor der Abschiebung, dem „jahrelangen traumatisierenden Zustand des Wartens und Hoffens auf ein Bleiberecht und den zerstörerischen Lebensbedingungen der Flüchtlinge in den Lagern und Heimen“.

Wie die bundesweiten Flüchtlingsproteste begannen

Doch Schmidt betont, dass Suizidversuche und Selbstverletzungen nicht nur Ausdruck der Verzweiflung und der Hoffnungslosigkeit sondern auch des Protestes sind: „Die Menschen wählen diesen Weg, weil sie keine andere Möglichkeit sehen sich zu wehren“. In der ARI-Dokumentation wird auch auf die Umstände des Selbstmordes des iranischen Flüchtlings Mohammed Rahsepar am 29. Januar 2013 im Flüchtlingsheim Würzburg eingegangen.

Wegen starker gesundheitlicher Probleme wollte der 29jährige Mann einen Arzt aufsuchen. Nachdem er nach stundenlangem vergeblichem Warten ins Flüchtlingsheim zurückkehrte, schloss er sich in sein Zimmer ein und erhängte sich. Nach seinem Tod demonstrierten 80 Mitbewohner in der Würzburger Innenstadt gegen ihre Lebensbedingungen. Es war der Beginn des bisher größten bundesweiten Flüchtlingswiderstands, der bis heute anhält. Ein Zeltdorf und eine besetzte Schule in Berlin-Kreuzberg sind die aktuellen Domizile von Flüchtlingen aus ganz Deutschland.

Erinnerung an ein Jubiläum

Die vielen Beispiele der zerstörerischen Folgen bundesdeutscher Flüchtlingspolitik sind aber noch aus einem weiteren Grund interessant. Sie verweisen auf einen Jahrestag, den bisher nur wenig politische Gruppen überhaupt registriert haben. Im Mai 1993 wurde vom Bundestag damals noch in Bonn das Asylrecht soweit eingeschränkt, dass kaum noch Menschen die Möglichkeit haben, einen langfristig gesicherten Aufenthalt zu bekommen.

An der Geschichte des kleinen Dokumentationsteam kann man die Konsequenzen gut aufzeigen. 1994 war die Festung Deutschland schon soweit Realität, dass ein Überqueren der Neiße tödlich enden konnte. So wie die ARI-Gruppe dmals diese tödliche Flüchtlingspolitik in Film und Text festhielt, erinnert sie sie weiterhin kontinuierlich daran, dass die bundesdeutsche Flüchtlingspolitik auch dann gefährlich und zuweilen auch tödlich ist, wenn nicht gerade Neonazis und deren Untergrund aktiv sind.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/154116
Peter Nowak