
Obwohl ich seit fast 25 Jahren im Friedrichshainer Nordkiez lebe, war ich noch nie im Theater im Kino (tik) in meiner näheren Nachbarschaft. Ich kenne die Location noch aus der Zeit, als dort der WAF-Salon sein Domizil hatte, was schon seit mehr als einem Jahrzehnt Geschichte sein muss. Doch am 27. Juni wagte ich doch mal den Schritt über die Schwelle des tik. Dort stand „Die Nacht kurz vor den Wäldern“ – ein Stück des französischen …
… Autors Bernard-Marie Koltès – auf den Spielplan, der bereits mit 41. Jahren gestorben ist. Mit dem Stück habe der Künstler 1976 seinen Durchbruch als Dramatiker erreicht, heißt es in einen Nachruf auf Koltès. Dort wird auch noch vermerkt, dass Heiner Müller Koltès als einzigen modernen Dramatiker bezeichnete, der ihn interessierte. Nun bin ich immer reserviert gegenüber solchen Promi-urteile. Beim Theaterabend im tik will ich mich überzeugen, ob das Stück auch mich anspricht. Das Ambiente des kleinen Theaters stimmte mich schon mal positiv. Es ist der hintere Teil eines Ladenlokals in einen ehemals besetzten Raum im Friedrichshainer Nordkiez. Gleich zu Beginn erklärt eine der Leiterinnen den Theaterbesucher*innen die Regularien des tik. Die Toiletten sind hinter der Bühne und statt nummerierter Plätze gibt es ein Gewirr von Stühlen, die kreuz und quer im Raum stehen. Alle finden Platz, nebeneinander, seitlich und auch mal Quer zu einander. Das ist schon mal eine positive Abweichung von den Regularien des bürgerlichen Theaterbetriebs, wo die Besucher*innen so sehr auf ihre gebuchten Plätze beharren, dass ganze Reihen sich erheben müssen, nur damit auch noch die verspätete Besucher*innen ihre Plätze in der Mitte einnehmen können. Im tik blicken, wenn sich der symbolische Vorhang hebt, auch nicht alle nach vorne auf die Bühne, wo dann sich dann das Geschehen abspielen soll. Nein, im tik ist die Bühne vorne, hinten und auch zwischen den Plätzen, nachdem ein dünner Mann in den Raum gesprungen ist, in dem eine leicht psychedelische Musik schon mal auf die knapp 90minütige Vorführung einstimmt. Er hat nasse lange schwarze Haare, auch seine Jacke ist nass. Es ist der Mime Burak Hoffmann, der den jungen Mann ist ohne Obdach und ohne Geld in der verregneten Nacht mit einer hohen Intensität spielt. Man hat den Eindruck, da spielt einer um sein Leben und man macht sich auch Gedanken um dass Wohlergehen des Schauspielers, wenn er stürzt und sich verletzt. Erst im zweiten Augenblick denkt man beruhigt, es ist ja nichts passiert. Es ist ja nur Kunstblut. Aber es auch nicht in erster Linie die körperlichen Wunden, die auf dem engen Raum des tik viel intensiver auf die Zuschauer*innen wirken, als auf einer entfernten Theaterbühne. Burak Hoffmann mimt den jungen Mann in der regnerischen Nacht auch mit einer ganzen psychischen Intensität. Liegt es vielleicht auch in der Biographie des Schauspielers, der in Deutschland geboren, mit seinen migrantischen Hintergrund doch vielfältigen Diskriminierungen und sogar einen rassistischen Angriff ausgesetzt war? Gelingt es ihm deshalb so überzeugend einen jungen Mann zu spielen, dem in einer U-Bahn das Portemonnaie mit seinen ganzen Geld von einer Gruppe Jugendlicher gestohlen wird, die es noch hinkriegen, den Bestohlenen als wirren Alkoholiker aus dem Waggon zu schmeissen und alle anderen Fahrgäste schauen zu? Die von Koltès beschriebene Szene kann man sich gut in Berlin und vielen anderen Großstädten vorstellen, weil sie Burak so überzeugend spielt. „Es herrscht Krieg in den Städten“ – das ist die Botschaft des 90minütigen Monologs. Doch es ist ein pessimistisches, gar dystopisches Stück. Mit Verve wird zur Gründung einer internationalen Gewerkschaft aufgerufen. Es ein Stück reale Utopie, die die Einsamkeit der Menschen in regnerischen Metropolennächten aufheben könnte. Nach dem Theaterbesuch weiß ich weiterhin nicht, ob Bernard-Marie Koltès nun zu den interessantesten Dramatikern im Sinne von Heiner Müller gehört. Doch ich werde hoffentlich weiter Vorführungen von Burak Hoffmann erleben, der die Verlorenheit des Einzelnen in der kapitalistischen Metropole so überzeugend auf die Bühne bringt, ohne das Antidot, die Organisierung nicht zu vergessen .
Peter Nowak