Im Lockdown glitten einige Menschen ins Irrationale ab. Die staatstragende Fraktion ist daran nicht unschuldig – und die nächste Pandemie gilt als sicher. Ein Kommentar.

Corona-Chaos revisited: Warum wir dringend eine kritische Aufarbeitung brauchen

Man muss sich erinnern, dass in der Hochzeit der Pandemie Mut dazu gehörte, über diese Fragen zu in linken und linksliberalen Kreisen zu diskutieren. Das lag auch an der sprichwörtlichen Kritikunfähigkeit dieser Linken. Sie haben damit gerade nicht verhindert, dass Menschen, die Fragen hatten, zum Teil im irrationalistischen Spektrum landeten und dieses sich weiter nach rechts verschob.

Erinnert sich noch jemand an die Märztage 2020, als immer mehr Veranstaltungen abgesagt wurden, die Museen und alle öffentlichen Einrichtungen schlossen? Ich erinnere mich noch an einen gespenstisch …

… leeren Leipziger Hauptbahnhof vor vier Jahren.

Nach der Pandemie ist vor der Pandemie

Dann begannen die Monate der Pandemie, eine Zeit, die heute fast von allen ausgeblendet wird. Das ist psychologisch verständlich, denn die Menschen können am besten weiterleben, wenn sie bestimmte unangenehme Ereignisse vergessen. Doch gesellschaftlich ist ein solches Verdrängen fatal.

Schon deshalb, weil Wissenschaftler davon ausgehen, dass es keine Frage ist, ob, sondern wann eine neue Pandemie ausbricht. Das ist nicht so überraschend. In den Hochzeiten der Pandemie machte die Theorie die Runde, dass Zoonosen zunehmen werden, weil der Mensch in die letzten natürlichen Lebensbereiche eindringt.

Szenario Corona 2.0: Wieder nur autoritäre Antworten?

Über die Stichhaltigkeit dieser Theorie sollten sich Wissenschaftler streiten. Aber bisher wurde die Zoonosen-Hypothese nicht widerlegt. Auch die Massentierhaltung gilt als Brutstätte für Krankheitserreger. Interessant ist, dass im Spiegel vor wenigen Tagen beklagt wurde, dass die Gesellschaft auch auf die nächste Pandemie schlecht vorbereitet ist.

Die Vogelgrippe? Ein Coronavirus? Die ominöse „Krankheit X“? Welcher Erreger auch immer die nächste Seuche auslöst – Deutschland müsste viel mehr tun, um sich auf die Pandemien der Zukunft vorzubereiten.Spiegel, 8. März 2023

Chance zur Aufarbeitung: Lauterbachs Geständnis

Das kann durchaus als Drohung verstanden werden, dass bei einer nächsten Pandemie wieder vor allem mit autoritärer Staatlichkeit reagiert ist.

Dabei wäre es jetzt eine günstige Gelegenheit, die Fehler der Pandemie-Maßnahmen aufzuarbeiten. Zum vierten Jahrestag haben sogar einige Politiker erstmals offen über Fehler geredet, die damals gemacht wurden. Selbst Karl Lauterbach (SPD), der heutige Gesundheitsminister und besonders strenger Maßnahmenbefürworter, hat kürzlich dem Spiegel gesagt:

Der größte Fehler war, dass wir bei den Kindern zum Teil zu streng gewesen sind und mit den Lockerungsmaßnahmen wahrscheinlich etwas zu spät angefangen haben.Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD)

Allerdings hat Lauterbach auch schon vor über einem Jahr eingeräumt, dass Kitas und Schulen zu lange geschlossen geworden seien.

Auch die Sinnhaftigkeit der nächtlichen Ausgangssperren wird schon lange auch von verantwortlichen Politikern infrage gestellt.

Die Impfdebatte: Kritischer Blick auf Erfolge und Versprechen

Auch dass die möglichen Erfolge einer Impfung vor allem kurz nach der Einführung größer dargestellt wurden, als sie es dann waren, ist keine neue Erkenntnis. Es ist auch ein durchaus erklärbarer Vorgang, wenn es darum geht, Menschen für die Impfung zu gewinnen. Es gibt schließlich schon lange Literatur dazu, die nachweist, dass man auch bei anderen Impfungen so vorgeht.

Dazu braucht man keine Verschwörungstheorien zu bemühen. Zudem bedeuten die übertriebenen Versprechungen bezüglich der Impfung nicht, dass sie generell unwirksam war. In vielen Fällen haben Impfungen für einen milderen Verlauf der Corona-Infektion gesorgt. Sie verhinderte aber nicht die Weitergabe des Virus.

Es ist also möglich, sich kritisch mit den Corona-Maßnahmen auseinanderzusetzen, ohne damit in irrationalistische Erklärungsmuster abzurutschen. Genau diese Kritik wurde auch schon während der Pandemie geleistet.

Corona und linke Kritikunfähigkeit

Man braucht nur die digitalen Diskussionen unter dem Motto „Corona und die linke Kritikunfähigkeit“ heute noch einmal aufzurufen, die ab Dezember 2020, mehr als ein Jahr noch während der Pandemie, für viel Interesse gesorgt haben.

Man muss sich vergegenwärtigen, dass damals keine Präsenz-Veranstaltungen möglich waren. Sämtliche öffentlichen Räume waren geschlossen, Versammlungen nur unter großen Beschränkungen möglich. Da waren diese digitalen Diskussionen für nicht wenige auch eine Art Hoffnung. In diesen Veranstaltungen wurden schon viele dieser Pandemie-Maßnahmen kritisch diskutiert, die mittlerweile auch von vielen Politikern als Fehler eingeräumt wurden.

Solidarität als Antwort in der Pandemie

Man muss sich erinnern, dass in der Hochzeit der Pandemie Mut dazu gehörte, über diese Fragen zu in linken und linksliberalen Kreisen zu diskutieren. Das lag auch an der sprichwörtlichen Kritikunfähigkeit dieser Linken. Sie haben damit gerade nicht verhindert, dass Menschen, die Fragen hatten, zum Teil im irrationalistischen Spektrum landeten und dieses sich weiter nach rechts verschob.

Im Gegenteil, sie haben das indirekt mit befördert, weil es zu wenige linke Antworten und Alternativen gab. Allerdings sollte man auch nicht verschweigen, dass es durchaus positive Ansätze gab. Gerade zu Beginn war die Parole, dass niemand zurückbleiben darf, eine wichtige Orientierung über die gesellschaftliche Linke hinaus.

Dann gab es solidarische Nachbarschaften, die durchaus eine wichtige Rolle dabei spielten, dass Menschen nicht ins irrationalistische Milieu abdrifteten. Dann gab es auch immer wieder kleine Ansätze von solidarischer Praxis.

Die Lockdown-Schere zwischen Arbeitswelt und Freizeit

Als die nächtlichen Ausgangssperren eingeführt wurden, gab es die Kampagne „Schließt die Fabriken, nicht die Parks“. Viele dieser Aktionen waren schnell beendet und zu schnell vergessen.

Darum wäre eine Aufarbeitung der Corona-Jahre in der gesellschaftlichen Linken noch immer nötig. Nicht im Sinne eines Tribunals, wo alle Fehler aufgetischt werden, sondern in Form einer offenen Diskussion, in der die Fehler, aber auch die Erfolge dargestellt werden.

Das wäre schon deshalb dringend nötig, damit bei einer zukünftigen Pandemie, die ja angeblich sicher kommt, nicht die gleichen Fehler wie 2020 wieder gemacht werden. Nur eine solche Diskussion würde auch Druck machen, dass die Politiker, die immer zum Jahrestag der Pandemie kurz mal auf die Fehler hinweisen, um dann zur Tagesordnung überzugehen, wirklich mit der Aufarbeitung beginnen.

Der Autor hat mit Anne Seeck, Gerhard Hanloser und Elisabeth Voss die digitalen Diskussionen „Corona und die linke Kritikunfähigkeit“ ab Dezember 2020 mit organisiert und 2022 ein Buch zum Thema mit herausgegeben.

Peter Nowak