Polizei durchsucht weitere Objekte mit schwerem Gerät. Gesuchte scheinbar schon verurteilt. Bedenklich ist die Rolle vieler Medien. Ein Kommentar.

Staat und Medien jagen RAF-Gespenst: Kommt der Deutsche Herbst 2.0?

Die Menschen in der Umgebung des durchsuchten Areals haben andere Probleme. Eine aktive Stadtteilorganisation engagiert sich gegen zahlreiche Luxusneubauten, die dort am Entstehen sind. Zudem sorgt der drohende Weiterbau der A100 in der Gegend für Protest. Direkt neben dem durchsuchten Areal weist ein großes Protestbanner darauf hin. Manche fragen sich: Warum ist jetzt über eine so lange Zeit soviel Polizei hier, aber warum erklärten sie sich nicht für zuständig, als Anwohner die Polizei riefen, weil sich in den Wänden ihrer Wohnungen durch eine nahe Baustelle Risse bildeten.

Von Festnahmen im Zuge der „RAF-Fahndung“ war zunächst die Rede, später nur noch von freiheitsentziehenden Maßnahmen zur Identitätsfeststellung – die Gesuchten …

… Volker Staub und Burkhard Garweg waren jedenfalls an diesem Wochenende nicht dabei.

Seltene Polizeifahrzeuge: RAF-Fahndung mit schwerem Gerät

„Wir sind nicht alle, es fehlen die Gefangenen“ skandierten junge Menschen in Sprechchören. Sie standen am Sonntagabend vor einer Kette von Polizisten in der Grünbergerstraße in Berlin-Friedrichshain vor einem Haus. Dort wurde im Rahmen der Suche nach zwei angeblichen Mitgliedern der 1998 aufgelösten Rote Armee Fraktion (RAF) eine Wohnung durchsucht. Für mehrere Stunden wurden die Busse umgeleitet. Ein Hubschrauber kreiste über der Szene.

Wesentlich umfangreicher gestalten sich an diesem Sonntag die Polizeimaßnahmen auf dem Areal eines Wagenplatzes in der Nähe des Bahnhofs Ostkreuz in Berlin-Friedrichshain. Dort stehen Polizisten mit umgehängten Maschinenpistolen, andere Beamte in weißen Ganzkörperanzügen und Mundschutz durchsuchen über Stunden das Gelände. Die Straße ist gesperrt, nur Anwohner mit Personenkontrolle dürfen passieren.

Auf dem nahen Parkplatz einer Edeka-Filiale kommen neben Gefangenentransportern auch Fahrzeuge des Technischen Hilfswerks und ein besonders seltenes Polizeifahrzeug, ein sogenanntes Offensivfahrzeug Marke „Enok 6.2“ zum Einsatz.

25 Jahre nach RAF-Auflösung: Warum der Aufwand irritiert

Bald wird bekannt: Die gesuchten mutmaßlichen Ex-RAF-Mitglieder wurden nicht gefunden. Aber einer von ihnen soll dort zeitweise in einem Bauwagen gelebt haben, der zur weiteren Spurensicherung abtransportiert worden ist.

Anders als in der Grünbergerstraße gibt es hier keinen lautstarken Protest. Vor den Absperrungen versammeln sich immer wieder Passanten und auch Anwohner. Manche schütteln den Kopf über das große Polizeiaufgebot. Manche äußern auch Angst, in die Nähe der RAF gerückt zu werden, wenn sie sich kritisch äußern und beispielsweise fragen, was denn der Einsatz kostet, gegen vermeintliche Mitglieder einer politischen Gruppierung, die seit 25 Jahren gar nicht mehr existiert.

Kritik an staatlichem Vorgehen ist nicht gleich RAF-Sympathie

Das große Aufgebot der repressiven Staatsapparate macht Angst – und auch jüngere Menschen verweisen auf eine Vergangenheit, die sie nicht mehr kennenlernten. „Ich habe den Eindruck, der Deutsche Herbst wird neu inszeniert“, sagt ein Mann und rekurriert auf den Film „Deutschland im Herbst“ von Rainer Werner Fassbinder, der den autoritären Staat in den 1970er-Jahren dokumentiert.

Damals gab es allerdings noch eine starke außerparlamentarische Linke, die größtenteils zwar nicht mit der RAF sympathisierte, sich aber deshalb auch nicht auf die Seite des Staates stellte.

Verunsicherung und Angst – aber kaum vor der RAF

Das sieht 50 Jahre später anders aus. Die außerparlamentarische Linke ist ausgedünnt, das historische Bewusstsein nur noch in kleinen Zirkeln vertreten – und die Geschichte der RAF ist für die meisten Menschen weit weg. Doch das Polizeiaufgebot sorgt für Angst und Verunsicherung.

Die Menschen in der Umgebung des durchsuchten Areals haben andere Probleme. Eine aktive Stadtteilorganisation engagiert sich gegen zahlreiche Luxusneubauten, die dort am Entstehen sind. Zudem sorgt der drohende Weiterbau der A100 in der Gegend für Protest. Direkt neben dem durchsuchten Areal weist ein großes Protestbanner darauf hin.

Manche fragen sich: Warum ist jetzt über eine so lange Zeit soviel Polizei hier, aber warum erklärten sie sich nicht für zuständig, als Anwohner die Polizei riefen, weil sich in den Wänden ihrer Wohnungen durch eine nahe Baustelle Risse bildeten.

Terror-Hysterie wie vor 50 Jahren – diesmal ohne echten Gegner

Obwohl sich die RAF schon vor einem Vierteljahrhundert aufgelöst hat, und die Linke aktuell keine Gefahr für die Staatsapparate darstellt, agieren die Verantwortlichen in vielerlei Hinsicht wie vor 50 Jahren. Das große Polizeiaufgebot ist dafür ein Zeichen und deren martialisches Agieren verstärkt den Eindruck noch.

Der Polizeieinsatz auf dem Wagenplatz begann mit Schüssen gegen das Tor, das so aufgesprengt wurde, obwohl es nicht besonders gesichert war und alle problemlos ohne große Anstrengungen auf das Gelände gekommen wären. Eine LKA-Sprecherin erklärte laut zahlreichen Medienberichten, dass es hier „nicht um konkrete Tatvorwürfe“ gegangen sei.

Auch ein großer Teil der Medien bettet sich wie vor 50 Jahren selbst beim Staatsschutz ein und übernimmt fast völlig unkritisch die Versionen des Staatsapparats. Dabei gehört doch eigentlich zum journalistischen Grundverständnis, alle Quellen kritisch zu hinterfragen.

Links-Rechts-Schere: Wer kennt diese gesuchten Extremisten?

Denn es ist nicht so, dass nach allen mutmaßlichen Extremisten, die wegen ihnen vorgeworfener Gewaltdelikte zur Fahndung ausgeschrieben sind, mit gleicher Intensität gesucht wird. Im vergangenen Jahr galten beispielsweise 674 Neonazis als untergetaucht – 169 mit dem Personenhinweis „gewalttätig“. Nur gibt es dazu kaum Öffentlichkeitsarbeit oder spektakuläre Razzien.

Da wäre es doch interessant zu wissen: Warum wird in einer Zeit die Fahndung nach den drei mutmaßliche Ex-RAF-Mitgliedern wieder hochgefahren, in dem der Staat „kriegsfähig“ werden will? Dafür ist Gehorsam nach innen die Grundvoraussetzung. Hinzu kommt, dass die RAF explizit den militärisch-industriellen Komplex zu ihrem Gegner erklärt hatte.

Zumindest in der taz wurde nicht vergessen, dass die Zeitung einst auch gegen die Selbstgleichschaltung der Medien im „Deutschen Herbst“ gegründet wurde. Dankenswerterweise erinnerte Helmut Höge kürzlich in einem Artikel daran.

Ex-RAF-Mitglied kritisch und selbstkritisch

Die junge Welt lässt nach der Verhaftung von Daniela Klette mit Karl-Heinz Dellwo sogar ein ehemaliges RAF-Mitglied zu Wort kommen, das durchaus nicht unkritisch auf seine Vergangenheit und seine Ex-Organisation blickt, ohne sich aber vom sozialen Aufbruch zu distanzieren, der auch hinter deren Gründung stand.

Ansonsten dominiert aber in den meisten Medien die Sicht des Staatsschutzes, was sich schon daran zeigt, dass fast unisono von gesuchten oder gefangenen RAF-Mitgliedern die Rede ist. Dabei wird einfach das Adjektiv „mutmaßlich“ vergessen, dass eigentlich zwingend notwendig ist, solange sie nicht rechtskräftig wegen RAF-Mitgliedschaft verurteilt wurden oder sich selbst dazu bekennen.

Beginnt wieder eine Jagd auf vermeintliche RAF-Sympathisanten?

Seit Tagen warnen Medien, vor dem angeblich großen Sympathisantenkreis, den eine Organisation haben soll, die es gar nicht mehr gibt. Als Beleg werden Transparente – beispielsweise an dem linken Zentrum Rote Flora in Hamburg – angeführt. Auch die Gefangenensolidaritätsorganisation Rote Hilfe wird angegriffen, weil sie in einer Erklärung daran erinnerte, dass in RAF-Verfahren die Rechte der Angeklagten und ihrer Verteidiger massiv eingeschränkt waren.

An diesem Montagmorgen wurde laut Eilmeldungen ein weiteres Objekt in der Corinthstraße in Berlin-Friedrichshain durchsucht – laut einer Sprecherin des federführenden Landeskriminalamts Niedersachsen nur wenige Meter von der Markgrafenstraße und der Grünberger Straße entfernt, wo am Sonntag die Einsatzkräfte angerückt waren.

Im Neuen Deutschland befürchtet Nora Noll nach der neuen RAF-Fahndung weitere Einschränkungen beispielsweise beim Datenschutz.

Die Rolle Künstlicher Intelligenz und der Medien

Doch nicht nur ein mögliches Rollback sollte Sorgen bereiten, sondern die Forderung der Polizeigewerkschaften nach neuen technischen Befugnissen, die jetzt an Schlagkraft gewonnen haben. Wenn ein Journalist Daniela Klette über ein KI-Gesichtserkennungsprogramm mühelos aufspüren konnte, dann sollte dieses Instrument doch auch den Ermittlungsbehörden zur Verfügung stehen, lautet das Argument.

Es wäre auch die Aufgabe der Presse, mal aufzuklären, ob es sich bei den Team, dass in den letzten Monaten mit allen Mitteln nach Klette gefahndet hat um im Staatsschutz eingebettete Journalisten gehandelt hat oder ob es eine reine Staatsschutzorganisation handelte. Hier wären kritische Berichte und Analysen gefragt, auf die sich kritische Menschen stützen könnten.

Peter Nowak