Größte Regierungspartei redet, als wäre sie in der Opposition. Esken plädiert für soziale Politik, Kühnert für Seenotrettung. Was daran zynisch ist. Ein Kommentar.

Doppelmoral: SPD macht auf Opposition und lobt Pannen-Kanzler Scholz

Wenn dann über die Ergebnisse der Studie der Hans-Böckler-Stiftung zu Armut und Vertrauen in die Demokratie geschrieben wurde, hatte man oft den Eindruck, das größte Problem bestehe gerade in diesen Vertrauensverlust der Armen in die Staatsapparate. Dabei müsste doch die Frage lauten, warum sollten die Armen Vertrauen in ein System haben, dass für ihre Situation wesentlich verantwortlich ist?

Die Wahlprognosen für die SPD sind aktuell ebenso im Keller wie das Vertrauen in die von ihr geführte Bundesregierung. Doch die größte Regierungspartei erweckte auf ihrem Berliner Parteitag den Eindruck, sie habe mit alledem nichts zu tun. „Deutschland. Besser. Gerecht.“ schreien einen die Floskeln an, als würde die Partei nicht …

… den Kanzler stellen und wäre auch davor nicht viele Jahre in Regierungskoalitionen eingebunden gewesen.

Da lässt sich Bundeskanzler Olaf Scholz auch noch einmal gemeinsam mit dem SPD-Generalsekretär und Ex-Juso-Chef Kevin Kühnert fotografieren, der noch immer als Jungsozialdemokrat durchgeht.

Er steht aber vor allem dafür, dass ein Juso-Chef heute höchstens noch Monate braucht, um von etwas radikalerem Juso-Sprech in gehobene Parteifunktionen zu kommen und dort sozialdemokratische Realpolitik zu vertreten, wofür die SPD ja seit mindestens 110 Jahren bekannt ist. Kühnert schafft es dann auch, der Abschottungspolitik gegen Geflüchtete einen „human touch“ zu verleihen.

Zynismus der deutschen Migrationspolitik

Während der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil vollmundig erklärt, dass abgelehnte Migranten in Deutschland keine Bleibeperspektive hätten, setzt sich Kühnert für die weitere Förderung der Seenotrettung ein.

Diese vermeintlich humanere Position ist eigentlich ein Ausdruck des herrschenden Zynismus in der Migrationspolitik, den auch viele Unterstützergruppen nicht mehr ansprechen, wenn es nur noch um die unmittelbare Rettung von Menschenleben geht, aber viele dann doch wieder abgeschoben werden.

Da fragt man sich doch, ob es nicht weniger Menschenleben kosten würde, wenn die Überprüfungen in afrikanischen Ländern vorgenommen würden und damit weniger Menschen den lebensgefährlichen Schiffstransfer auf sich nähmen.

Würden dadurch nicht mehr Menschen gerettet? Diese Fragen richtet sich auch an Unterstützergruppen, die so vehement gegen solche Einrichtungen auf den afrikanischen Kontinent mobil machen.

Besonders zynisch ist es dann aber, wenn auf dem SPD-Parteitag das Plädoyer für die Seenotrettung als Ausweis der Humanität gilt und die Abschieberhetorik dadurch scheinbar besser erträglich wird.

Die Diskussion um den sogenannten Pisa-Schock nutzt die SPD-Vorsitzende Saskia Esken für ein Plädoyer für eine sozialere Politik. Auch hier wird der Eindruck erweckt, als säße die SPD nicht in Bund und Ländern in Positionen, in denen sie die reale Politik zu verantworten oder mindestens mitzuverantworten hat.

Pleiten-Kanzler wird bejubelt

Besonders bizarr waren dann die Szenen, in denen Bundeskanzler Scholz frenetisch bejubelt wurde. Dabei steht er nur für Pleiten und Pannen. Das bekommen auch die Wählerinnen und Wähler mit, wie die Umfrageergebnisse zeigen.

Die offenen Fragen über die Rolle von Scholz bei den Cum-Ex-Geschäften, einer besonders kreativen Form von Steuervermeidung für Kapitalisten, bestehen bis heute weiter. Doch die größte Niederlage für Scholz war das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das die Umgehung der Schuldenbremse im Nachtragshaushalt für verfassungswidrig erklärte.

Damit fehlen nicht nur Milliarden für Investitionen in Bereichen von Bildung, Soziales und Umwelt. Das führt die aktuelle Bundesregierung am Rande der Regierungsunfähigkeit.

Das Gericht hat auch einem Finanzierungsmodell die Grundlage entzogen, auf das Scholz sein gesamtes Programm gestützt hat. Es gab auch keinen Plan B, so dass die Bundesregierung seit dem Urteil in einer Dauerkrise ist.

In anderen Ländern wäre ein Rücktritt die Folge gewesen. Wenn Scholz und sein Umfeld wirklich noch das Heft des Handelns in der Hand hielten, würde er selbst seinen Rücktritt und Neuwahlen anbieten und für eine Mehrheit werben, die die Rücknahme jener Schuldenbremse ermöglichen würde, die ja die Ursache für das ganze Debakel und auch für den Richterspruch ist.

Dass das Bundesverfassungsgericht diese Schuldenbremse noch besonders restriktiv auslegt, ist ein weiterer Skandal, der durchaus die Frage aufwirft, warum sich hier ein nichtgewählter Staatsapparat zum besonders orthodoxen Wächterrat für die Interessen des Kapitals aufspielt.

Doch in den Blick genommen werden müsste die Schuldenbremse selbst, mit der sich die Politik selbst aus reiner Kapitalhörigkeit in ein viel zu enges Korsett gespannt hat. Wie immer war auch die SPD dabei. Doch darüber gab es auf dem Parteitag kein kritisches Wort.

Keine Abkehr von Militarismus

Ebenfalls nicht in Frage gestellt wurde die militärische Unterstützung der Ukraine, gemeint ist damit, wie immer, wenn es diese Floskel fällt, der deutschfreundliche Teil des ukrainischen Nationalismus, der 2014 die Macht übernommen hat und seitdem in Konflikt mit der prorussischen Fraktion des ukrainischen Nationalismus steht.

Mittlerweile bekommen auch mehr und mehr Menschen in der Ukraine mit, dass sie in einen geopolitischen Konflikt verheizt werden, in dem es um die Interessen von Russland einerseits und der Deutsch-EU sowie weiteren westlichen Akteuren auf der anderen Seite geht.

Manchen schwant, dass eine neutrale Ukraine mit Sicherheitsgarantien vielleicht eine bessere Lösung gewesen wäre. Viele fragen sich: Wie viele Leute hätten nicht im Krieg sterben müssen, wenn es im Frühjahr 2022 zu einem Friedensvertrag gekommen wäre, der durch das Auftreten des damaligen britischen Premierministers Boris Johnson sabotiert wurde?

Für alle die geopolitischen Akteure des Westens stand der Kampf gegen Russland im Vordergrund – und die Ukraine zahlt den hohen Preis dafür. Eigentlich hätte man denken können, dass die SPD auf Verhandlungen und Konfliktentspannung setzt. Aber dieses Bestreben ist heute auch vom deutschen Imperialismus nicht mehr gefragt.

Stattdessen darf eben gerade am Militärhaushalt und der Unterstützung der deutschlandfreundlichen Fraktionen in der Ukraine kein Zweifel gelassen werden. Dass diese Ankündigung im Widerspruch zu Scholz vollmundig vorgetragenen Erklärung steht, es werde keinen Sozialabbau mit ihm gehen, ist evident. Denn der Sozialabbau findet ja längst statt.

Die SPD und die Spaltung der Gesellschaft

Dabei beruft sich sich Scholz auf die Sozialdemokratie in ihrer reaktionärsten Form, wenn er erklärt, sie sei immer für die Armen eingestanden und hätte gegen eine Spaltung der Gesellschaft gestanden. Die reaktionäre Phrase von den Kampf gegen die Spaltung der Gesellschaft hat der Politikwissenschaftler Jan Schröder in der aktuellen Wochenend-taz gut desavouiert.

Besonders die SPD stand in ihrer Gründungsphase, nachdem sie sich auf die Grundsätze von Marx und Engels stützte, durchaus für eine Spaltung der Gesellschaft: Die Klassenspaltung in Kapital und Arbeit gehörte schließlich zu den Grundsätzen der Werke von Marx und Engels.

Diese Spaltung könnte nur durch ein Ende des Kapitalismus aufgehoben werden. Das war der SPD in den Gründerjahren klar. Doch bald setzte sich jene Fraktion durch, die die realen kapitalistischen Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft übertünchen wollte, in dem sie die Arbeiter an den Extraprofiten von Kolonialismus und Eroberungskriegen beteiligen wollte.

Der Rätekommunist Willy Huhn hat beschrieben, welche besondere Rolle die SPD dabei spielte, das Millionenheer der organisierten Arbeiterschaft in Deutschland für die Interessen des deutschen Kapitalismus und seiner Kriege bereitzumachen. Huhn beschrieb diesen Prozess der Militarisierung der Arbeiterbewegung am Beispiel des Ersten Weltkriegs.

In diese Tradition des Kriegssozialdemokratismus stellt sich Scholz, wenn er sich auf die Geschichte einer SPD beruft, die sich gegen die Spaltung der kapitalistischen Gesellschaft wandte. Das Bekenntnis zum Krieg in der Ukraine ist nur die andere Seite der Medaille, ebenso wie die Forderung seines Parteifreundes Pistorius, die Bundeswehr müsse kriegsfähig gemacht werden.

Respekt für die Armen statt Kampf gegen Armut

Eine solche Sozialdemokratie will auch gar nicht die Armut abschaffen, dann müsste sie ja den Kapitalismus antasten. Sie will höchstens Respekt für die Armen, die sollen dann eben auch in ihren schlecht bezahlten Jobs mit hochtrabenden Berufsbezeichnungen angesprochen werden. So sollen die Armen auch wieder Vertrauen in ein kapitalistisches System bekommen.

Das aber ist massiv geschwunden, wie eine vor einigen Wochen erschienene Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung zeigt. Da wird aufgezeigt, dass viele einkommensarme Menschen wenig Vertrauen in Polizei, Justiz und andere Staatsorgane haben.

Wenn dann über die Ergebnisse dieser Studie geschrieben wurde, hatte man oft den Eindruck, das größte Problem bestehe gerade in diesen Vertrauensverlust der Armen in die Staatsapparate. Dabei müsste doch die Frage lauten, warum sollten die Armen Vertrauen in ein System haben, dass für ihre Situation wesentlich verantwortlich ist?

Wäre es nicht wünschenswert, dass die Armen nicht nur das Vertrauen in ein System verlieren, dass Millionen Menschen als überflüssig erklärt? Das Problem besteht doch eher darin, dass heute eine handlungsfähige linke Organisierung fehlt, die einen emanzipatorischen Ausweg aus einem System erreicht, das Armut produziert.

Das zeigt sich schon daran, dass der SPD-Parteitag ohne linke Gegenproteste über die Bühne ging.

Der Autor hat mit Anne Seeck, Harald Rein und Gerhard Hanloser das Buch „Klassenlos … Sozialer Widerstand von Hartz IV bis zu den Teuerungsprotesten“ herausgegeben.

(Peter Nowak)