Beobachtungen vom Wahlausgang aus einer Kleinstadt in Thüringen und einer Debatte im akademischen Rahmen. Braucht das linke Lager eine neue Partei oder andere Organisationsformen?

Wie sich die Linke selbst abschafft

Der Wahlausgang im kleinen Hildburghausen, wo Kirner am 18. Juni mit 42 Prozent der abgegebenen Stimmen unterlag, zeigt ebenso wie die Podiumsdiskussion im akademischen Rahmen die aktuellen Probleme der Linken – nicht nur der Partei, sondern der gesellschaftlichen Kraft insgesamt.

Warum blicken jetzt so viele Medien auf den kleinen thüringischen Ort Sonneberg? Weil sich dort gerade an diesem Sonntag entscheidet, ob die AfD einen Landrat stellen kann. Bei der Stichwahl stehen sich ein AfD-Kandidat und ein CDU-Mitglied gegenüber. Letzteres wird von einer ganz großen Koalition von der Linkspartei über Grüne und SPD bis zur FDP unterstützt. Die AfD lässt die Gelegenheit nicht aus, von einer Neuauflage der Nationalen Front in der DDR zu polemisieren. Nun fragen sich wieder Kommentatoren von Medien, die erst mal googeln mussten, wo Sonneberg liegt, ob die berühmte „Brandmauer“ hält, die die AfD von der Macht fernhält – und geht es nur um den weitgehend einflusslosen Posten eines Landrats. Auch Hildburghausen ist nicht so weit von Sonneberg entfernt, nicht geographisch und noch weniger politisch. Die Stadt wurde lange Zeit von …

… Mitgliedern der Partei Die Linke beziehungsweise deren Vorgängerpartei PDS im Amt des Bürgermeisters regiert, erst 18 Jahre lang von Steffen Harzer, darauf folgte ab 2014 für sechs Jahre ein CDU-Mitglied, bis 2020 mit Tilo Kummer wieder ein Linke-Politiker zum Stadtoberhaupt gewählt wurde. Dessen Abwahl wegen des Vorwurfs der schlechten Amtsführung wurde allerdings von einer ganz großen Koalition betrieben, die von weit rechts bis zu ehemaligen Unterstützern reichte.

Zu letzteren gehörte auch Florian Kirner, der im Gespräch mit Telepolis betont, dass er sogar für kurze Zeit Mitglied der Linkspartei geworden sei, um Kummer bei der Bürgermeisterwahl zu unterstützen. Warum er dann später für seine Abwahl eingetreten ist, begründet Kirner gegenüber Telepolis:

Ich hatte Tilo Kummer im Wahlkampf 2020 sehr aktiv unterstützt, musste aber leider bald erkennen, dass er der Aufgabe nicht gewachsen gewesen ist. Die Situation war am Ende außer Kontrolle, die Stadtverwaltung extrem zerstritten und in wesentlichen Teilen nicht mehr handlungsfähig.


Florian Kirner

Für Kirner lagen die Gründe für das Desaster auch beim Bürgermeister. „Kummer lag aber am Ende wie ein toter Fisch im Wasser. Man konnte das nicht mehr weiter laufen lassen.“ Kirner kandierte daraufhin als Parteiloser selbst für das Amt des Bürgermeisters und kam in die Stichwahl gegen Patrick Hammerschmidt. Auch der ist parteilos, wurde aber von einer illustren Runde unterstützt, die man laut Kirner auch „Querfront“ nennen kann.

Die beinhaltet wirtschaftliche Akteure wie einen örtlichen Baumarkt und einen Eventveranstalter, einige starke Vereine und eine Allianz im Stadtrat. Letztere setzt sich zusammen aus Pro-HBN, einer CDU-Abspaltung, Liste Feuerwehr, AfD und dem Stadtrat das offen neofaschistische Bündnis Zukunft Hildburghausen (BZH).

Da gab es das linke Lager in Hildburghausen nicht mehr

Da standen sich zumindest von Außen betrachtet in der Stichwahl also zwei Parteilose gegenüber: Hammerschmidt, der von einem Bündnis aus regionaler Wirtschaft und rechten Parteien unterstützt wird und Florian Kirner, der unter seinen Künstlernamen Prinz Chaos vor mehr als 15 Jahren aus München nach Südthüringen gezogen ist, der dort Musikfestivals organisiert und auch schon durch eine Kooperation mit Konstantin Wecker bekannt wurde. Ein freigeistiger Künstler, der sich auch schon lange als schwul geoutet hatte, steht einem von Rechten unterstützten Mann der Wirtschaft gegenüber.

So zumindest scheint es von außen. Dann schließt sich sofort die Frage an, was macht die Partei Die Linke in Hildburghausen, wo sie immerhin im Stadtrat noch die stärkste Partei ist? Sie nennt die Wahl zwischen Kirner und Hammerschmidt eine Entscheidung zwischen „Pest und Cholera“ und ruft dazu auf, die Stimmen ungültig zu machen.

Neonazis kommunizierten unterdessen sehr deutlich, wer aus ihrer Sicht auf keinen Fall gewählt werden sollte – nämlich Florian Kirner – und riefen, wenn auch ohne Absprache mit diesem, zur Wahl von Patrick Hammerschmidt auf.

Die Linke, die ohne Probleme einen Kandidaten der FDP oder CDU unterstützt, wenn es um den Kampf gegen Rechts geht, kann sich also nicht durchringen, einem Linken, der sogar mal in der eigenen Partei war, ihre Stimmen zu geben, um einen Kandidaten zu verhindern, zu dessen Wahl extreme Rechte aufrufen?

Nicht nur Kirner sieht darin ein Beispiel, wie sich Die Linke als Partei selbst überflüssig macht. In der Stadt, in der sie über viele Jahre den Bürgermeister stellte, blieb sie unter neun Prozent. „Die hiesige Linke muss sich derweil grundsätzliche Fragen stellen. So haben alleine in den letzten Wochen die Fraktionsvorsitzende der Linken im Kreistag, eine Linke-Stadträtin und ein Mitglied des Stadtvorstands die Partei verlassen“, beschreibt Kirner die Krise der Partei am Beispiel Hildburghausen.

Rechts gegen „Querfront“?

Doch dann gibt es noch die andere linke Erzählung zur Wahl in Hildburghausen. Für Die Linke vor Ort ging es bei der Stichwahl nicht um eine Frage rechts gegen links. Die Sache sei schon komplexer, zur Wahl hätten eher Rechts gegen „Querfront“ gestanden, sagt ein Mitglied des Kreisvorstands Hildburghausen. Es verweist darauf, dass sich Kirner bei der Abwahl Kummers auch der Unterstützung von Rechten bedient habe. Zudem moniert sie, dass Kirner bei Protesten gegen die Corona-Maßnahmen mitgelaufen sei und damit auch die Erzählung befeuert hätte, ein linker Bürgermeister gehe gegen friedliche Demonstranten vor.

Nach Medienberichten hatte Kirner zu dieser Auseinandersetzung gemeinsam mit einem Pfarrer und einer Grünen-Politikerin einen „Bürgerdialog“ moderiert, an dem sowohl Bürgermeister Tilo Kummer als auch Landrat Thomas Müller (CDU) und Landespolizeiinspektions-Chef Wolfgang Nicolai teilgenommen hatten.

Kirner versuchte sich demnach eher als Brückenbauer zwischen Linken, bürgerlichen Demokraten und diffus Unzufriedenen, die vielleicht teilweise für rechte Parolen anfällig sind – nicht aber an einer „Querfront“, in der Linke mit rechten Organisationen oder Kadern zusammenarbeiten. Letztere wussten dann bei der Stichwahl auch genau, dass sie ihn auf keinen Fall als Stadtoberhaupt wollten.

Tatsache bleibt, dass das Ergebnis der Bürgermeisterwahl eine Niederlage für Die Linke in einer Stadt war, die einmal den ersten PDS-Bürgermeister gestellt hatte. Folgt man dieser Erzählung, ist die Situation der Linken desolat. Sie zeigt auch, welche Verwerfungen die Corona-Jahre und dann auch noch der Krieg in der Ukraine im sogenannten linken Lager ausgelöst haben. Es stand – wie so oft bei den Wahlen der letzten Zeit – im klassischen Sinn gar nicht mehr zur Wahl.

Wenn die Linke nicht einmal mehr zur Wahl steht

Sind das schon die italienischen Verhältnisse, vor denen der Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Ingar Solty am Donnerstagabend auf einer Diskussionsveranstaltung unter dem Motto „Die Linke ist tot, es lebe die Linke“ in Berlin warnte? Eingeladen hatte das transnationale linke Netzwerk Platypus, das sich der Kritik an linker Theorie und Praxis widmete. Gleich zu Beginn wurde schon die Begrenzung des Diskussionsfelds benannt. Man hatte niemand eingeladen, der die Frage der Partei nicht als das größte Problem der gesellschaftlichen Linken ansah.

Da gibt es historische Argumente – Rätekommunisten propagierten schon vor mehr als 100 Jahren, dass die Revolution keine Parteisache sei. Andere lehnen Parteien nicht generell ab, sehen sie aber hier und heute nicht als relevant für eine linke Praxis an. Aber auch in der Diskussion mit den prinzipiellen Vertretern der Position, dass eine starke linke Massenpartei nötig sei, zeigten sich große Unterschiede.

Hier wurde noch einmal auf theoretischer Ebene deutlich, was sich in Orten wie Hildburghausen in der Praxis zeigt: Das linke Lager ist eher eine Floskel als eine Realität. Da forderte Sebastian Schneider vom trotzkistischen Projekt Klasse gegen Klassemit dem Verweis auf eine bestimmte Trotzki-Rezeption eine revolutionäre Partei. Dabei bezog er sich auf eine Schrift von Leo Trotzki im Exil, in der dieser sehr richtig dafür plädierte, sich mit Blick auf die Französische Revolution auf deren fortschrittlichste Traditionen zu beziehen. Also nicht auf Napoleon, der die Französische Revolution beendet hatte wie Stalin die Oktoberrevolution.

Doch dann fällt Trotzki als fortschrittlichster Teil der Französischen Revolution jener Jakobiner-Konvent ein, der ja ein Interessenvertreter des Bürgertums war und die Selbstorganisation der Plebejer, der Vorläufer des Proletariats, weiter unterdrückte. Sie zu organisieren und einen Aufstand der Gleichheit vorzubereiten, war das Ziel der Assoziation „Verschwörung der Gleichen“. Die Orientierung an dem jakobinischen Konvent zeigt schon, dass damit an ein bürgerliches Konzept angeknüpft wird.

Die Ignoranz gegenüber Forderungen der Erwerbslosen

Praktisch kann man das an den Ausführungen des linkssozialdemokratischen Gewerkschaftssekretärs Ralf Krämer sehen, der mittlerweile aus der Partei Die Linke ausgetreten ist und wohl eine neue Partei, wie sie Sahra Wagenknecht möglicherweise anstrebt, unterstützten würde.

Krämer hatte schon längere Zeit Konflikte mit dem gegenwärtigen Mehrheitsflügel in der Linkspartei gehabt. Sein unmittelbarer Austrittsgrund war aber das Ergebnis einer Mitgliederbefragung zur Frage eines bedingungslosen Grundeinkommens in der Partei. Die Mehrheit war dafür – und ein sozialdemokratischer Gewerkschaftssekretär sieht hier die Gefahr, dass er als Vermittler im Konflikt zwischen Kapital und Lohnarbeit an Bedeutung verlieren könnte. Zudem sieht er das Gespenst des leistungslosen Einkommens.

So sprach sich Krämer denn auch ganz im Sinne von Wagenknecht für Leistungsgerechtigkeit aus und formulierte das erfreulich: Wer mehr für die Gesellschaft leiste, solle auch mehr verdienen. Damit knüpft er die Rechte von Menschen an einen ominösen Leistungsbegriff. Das sehen viele arme Menschen mit Recht als Gefahr. Daher ist eben das bedingungslose Grundeinkommen nicht nur, wie Krämer und Wagenknecht behaupten, ein neoliberales Projekt, sondern in einer egalitären Form auch eine Forderung von einkommensschwachen Menschen.

Sie wurde und wird in Teilen der Erwerbslosenbewegung propagiert, die sich gegen Hartz IV wandte. Der Gründungsmythos der Partei Die Linke besagt, dass aus dieser Bewegung jene Gruppen hervorgingen, die dann mit der PDS den Relaunch der Partei bewerkstelligten. Dabei zeigt eben die Positionierung Krämers gegen eine zentrale Forderung dieser Erwerbslosen, dass lange Zeit nicht sie, sondern ein Teil der linkssozialdemokratischen Gewerkschaftsbürokratie in der Partei den Ton angaben.

Wenn dann eine Forderung dieser unabhängigen Erwerbslosenbewegung zum Parteiaustritt führt, ist das auch ein Zeichen. Sie kann er also nicht gemeint haben mit den Menschen, denen angeblich eine politische Heimat fehlt. Hier gibt es durchaus Überschneidungen zu Florian Kirner, der von der Heimatlosigkeit von Menschen spricht, „die sich in keinem politischen Angebot des früheren ‚linken Lagers‘ wiederfinden“. Anders als Krämer setzt Kirner auch wenig Hoffnungen in ein neues Parteiprojekt mit Wagenknecht und Co. Desillusioniert habe ihn seine Arbeit bei der Sammlungsbewegung Aufstehen, sagt er gegenüber Telepolis.

„Sahra Wagenknecht kann, nach meiner persönlichen Erfahrung, leider überhaupt nicht organisieren und ist als Team-Spielerin nicht geeignet. Sie verbindet eine in weiten Teilen sehr richtige Kritik der herrschenden Politik mit einem sehr problematischen Führungsstil“, formuliert er seine Ernüchterung.

Der Wahlausgang im kleinen Hildburghausen, wo Kirner am 18. Juni mit 42 Prozent der abgegebenen Stimmen unterlag, zeigt ebenso wie die Podiumsdiskussion im akademischen Rahmen die aktuellen Probleme der Linken – nicht nur der Partei, sondern der gesellschaftlichen Kraft insgesamt.

Daher ist auch die Warnung von Ingar Solty ernstzunehmen, dass ein endgültiges Verschwinden der Linkspartei aus den Parlamenten auch die gesellschaftliche Linke weiter marginalisieren würde. Diesen Befund kann man sich auch als Kritiker der Parteiform nicht schönreden. Denn die Rätebewegung als große Alternative steht eben momentan – anders vor 100 Jahren – nicht bereit, dafür aber verschiedene irrationalistische und faschistische Scheinalternativen. Peter Nowak