Regierende scheinen die Pandemiejahre schnell vergessen zu wollen. Das gilt auch für einen Großteil der Linken. Andere propagieren genau deshalb einen Bruch. Sie luden am 2. Juni zur Diskussion

Corona und die Folgen: Verschwörung an den Feuertonnen

Als die Antikriegslinke nach dem Ersten Weltkrieg den Bruch mit der Linken, die den Kriegskrediten zugestimmt haben, propagierte und auch durchsetzte, da hatte das eine gesellschaftliche Relevanz, weil große Teile der organisierten Arbeiterbewegung davon betroffen waren. Wenn 2023 vom Bruch mit der Linken gesprochen wird, bedeutet dass, das die Redaktion der Wochenzeitung Jungle World und einige andere linke Gruppen sich eine andere Stammkneipe gesucht haben.

Mit einer kleinen Meldung informierte der Deutschlandfunk, dass die Warnfunktion der Corona-App jetzt abgeschaltet wurde. Doch wen interessiert das noch? Besser könnte gar nicht deutlich werden, wie schnell große Teile der Bevölkerung in Deutschland die Pandemiejahre 2020 bis 2022 vergessen wollen. Nur schnell zurück zur Normalität ist die Devise. Und was macht die gesellschaftliche Linke? Die taumelte aus dem Corona-Lockdown in die regierungsamtlich ausgerufene Zeitenwende nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine. Auch dort gilt die Devise: Bloß nicht über die Corona-Jahre und vielleicht auch über die eigenen Fehler reden. Schließlich haben sich ja in den letzten drei Jahren politische Zusammenhänge zerstritten, Freundschaften gingen die Brüche. Doch nicht alle wollen über diese Jahre Schweigen, wie sich am 2. Juni im Berliner Veranstaltungsort Jockel zeigte. Dort lud die …

…  Magazin-Redaktion zu einer Diskussion über das Konspirationistische Manifest ein, das aus einer anarchistischen Perspektive sowohl die gesamte Pandemiepolitik als auch die Reaktionen der globalen Linken einer heftigen Kritik unterzieht.

Die Symbolik des 2. Juni

Es soll um das Manifeste conspirationniste gehen, gleichzeitig aber auch um die Mini-Covid-Riots an Silvester und überhaupt um die jüngstvergangene Zeit. Oder eher noch: Wo wir nach drei Jahren Frontalangriff auf Realität, Logik und Gefühl stehen, was wir aus der aktuellen Amnesie des ganzen Wahnsinns machen und wie es unter Bedingungen des permanenten Ausnahmezustands weitergehen könnte. 

Die Idee dahinter ist auch, zum vermeintlichen und vorläufigen Ende dieser Horror-Zeit nochmal alle Abweichler und Skeptiker an einem Tag zu versammeln. Also politisches »Palaver«, aber – Sinne des Manifests – eben nicht nur.


Aus dem Einladungstext zur Diskussion am 2. Juni

Der Sound des bewusst unklar formulierten Texts zog Menschen aus verschiedenen Spektren der gesellschaftlichen Linken an. Die Veranstalter waren über das große Interesse selbst überrascht. Natürlich war auch der Termin ein Symbol. Der 2. Juni 1967, der Tag an dem der Student Benno Ohnesorg bei einer Anti-Schah-Demonstration in Westberlin von einen Polizisten erschossen wurde, war im Bewusstsein vieler junger akademischer Linke jener Zeit ein Wendepunkt.

Nachdem ein Mensch durch die Polizei erschossen wurde, könne man nicht mehr mit der Politik der legalen Proteste fortfahren, als sei nichts geschehen, war eine Überzeugung, die auf vielen studentischen Teach-Ins, aber auch von der damals vielbeachteten linken Journalistin Ulrike Meinhof in Diskussionsveranstaltungen formuliert wurde.

Das zeitweilige KPD-Mitglied Meinhof dürfte aber – anders als viele junge Linke – nicht dem Irrtum aufgesessen sein, dass Benno Ohnesorg das erste Opfer der Polizei nach 1945 gewesen sei. In Essen war 1952 schon der Jungkommunist Philipp Müller bei einer Demonstration gegen die Remilitarisierung erschossen worden.

Nach dem 2. Juni 1967 wurde über neue auch militante Aktionsformen der außerparlamentarischen Linken diskutiert. Die militante „Bewegung 2. Juni“ nahm das Datum sogar in ihren Namen auf. Was bleibt von dieser Symbolik im Jahr 2023? Höchstens die radikale Geste. Die Referenten sahen in der Corona-Politik und dem Verhalten der meisten Linken eine Zäsur, die es unmöglich mache, einfach wieder da weiterzumachen, wo man im März 2020 aufhören musste.

Die Verschwörung der Feuertonnen als Alternative?

Doch was heißt das konkret? Das blieb auch nach der mehrstündigen Diskussion unklar. Der Autor eines Textes, der unter dem poetischen Titel „Verschwörung der Feuertonnen“ zirkuliert, brachte eine verbreitete Überzeugung auf den Punkt:

Wir haben fertig. Mit der historischen Linken. So sagen es die französischen Gefährten ebenso wie die aufständische chilenische Jugend, deren Revolte von der Präsidentschaft der Linken beerbt und verraten wurde. So sagen es auch hier die bescheidenen Versuche, einen grundsätzlichen Antagonismus aus dem Nichts aufzubauen. 

Historisch gesehen stehen wir hierzulande immer noch vor der Unmittelbarkeit jener Situation, von der das Unsichtbare Komitee 2006 schrieb: „Wir gehen aus von einem Punkt der extremen Isolation, der extremen Ohnmacht. Alles ist aufzubauen im aufständischen Prozess. Nichts scheint unwahrscheinlicher als ein Aufstand, aber nichts ist notwendiger“.


Aus dem Text „Verschwörung der Feuertonnen“

Was bedeutet die Phrase vom Bruch mit der gesellschaftlichen Linken?

Nun wird im Zitat schon deutlich, dass die Perspektive des aufständischen Anarchismus nun auf die Corona-Zeit angewandt wird. Immer geht es dabei um „Linke“, die die Revolution verraten würden und mit denen deshalb gebrochen werden müsse. Nur: Gibt es heute überhaupt noch eine relevante gesellschaftliche Linke, mit der gebrochen werden kann? Oder ist die gesellschaftliche Linke gar nicht mehr in einer Form, in der ein Bruch überhaupt noch möglich ist?

Hier wird ausgerechnet in einem Spektrum, das gegen alle linken Traditionen eine Aversion hat, selber eifrig im linken Traditionskabinett gestöbert. Als die Antikriegslinke nach dem Ersten Weltkrieg den Bruch mit der Linken, die den Kriegskrediten zugestimmt haben, propagierte und auch durchsetzte, da hatte das eine gesellschaftliche Relevanz, weil große Teile der organisierten Arbeiterbewegung davon betroffen waren.

Wenn 2023 vom Bruch mit der Linken gesprochen wird, bedeutet dass, das die Redaktion der Wochenzeitung Jungle World und einige andere linke Gruppen sich eine andere Stammkneipe gesucht haben.

Größere Relevanz hatten zweifellos die Silvester-Auseinandersetzungen in Berlin, die ein Referent als Aufstand des Surplus-Proletariats auch gegen die Einschränkungen der Corona-Zeit interpretiert hat. Selbst wenn man dem zustimmt, muss man sich aber fragen, was die Spätfolgen waren. Dass jetzt ein CDU-Bürgermeister Berlin regiert? Wird da weiter die These vertreten, es müsse alles nur Reaktionärer werden, dann werden die Verschwörungen an den Feuertonnen zunehmen?

Welche Normalität wurde eigentlich 2020 beendet oder unterbrochen?

Erstaunlich wenig wurde bei den radikalen Kritikern ein Widerspruch in der Debatte angesprochen. Welche Normalität wurde denn 2020 durch die Corona-Pandemie eigentlich unterbrochen? War das nicht genau der kapitalistische Normalzustand, dem die aufständisch-anarchistischen Autoren der Schrift „Der kommende Aufstand“ den Kampf angesagt haben? Schließlich wird doch viel darüber gesprochen und geschrieben, wie dieser Normalzustand unterbrochen werden kann.

Nun war diese Normalität ab März 2020 tatsächlich nachhaltig unterbrochen und den Freunden der Konspiration an den Feuertonnen fällt dazu nicht viel mehr ein, als von einer großen globalen Verschwörung der Herrschenden zu reden. In diesen Punkt muss man dem Publizisten Thomas Ebermann, der die Corona-Maßnahmen verteidigte, zustimmen: Der Ruf nach Rückkehr zur kapitalistischen Normalität kann keine Position einer emanzipatorischen Bewegung sein.

Da stellt sich schon die Frage, warum man nicht zur Diskussion auch Klima-Aktivisten eingeladen hat, die einen anderen Blick auf die Zeit des Lockdown haben. Damals mussten beispielsweise die Flugzeuge auf dem Boden bleiben – und genau das wollen sie jetzt durch verschiedene Aktionen erreichen.

Warum im Juni 2023 eine Diskussion führen, die bereits seit Dezember 2020 digital gelaufen ist? Wäre es nicht im Juni 2023 viel interessanter, mit Antimilitaristen, linken Klimaaktivisten, aber auch mit Lohnabhängigen ins Gespräch zu kommen, die gegen ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen aufbegehren?

Dagegen erklärte ein Referent, dass die Gewerkschaften mit dem Fordismus auf den Müllhaufen der Geschichte gehören. Diese Position hat historisch einen linken Hintergrund. Es waren links- und rätekommunistische Gruppen, die nach 1918 vom politischen Bankrott der Gewerkschaften schrieben.

Damals gab es allerdings eine starke Rätebewegung, in der sich in vielen Ländern, auch in Deutschland, Lohnabhängige organisiert hatten. Im Jahr 2023 gibt es diese Räte nicht. Sie können allerdings in Arbeitskämpfen entstehen. Dafür organisieren sich wieder verstärkt Beschäftigte auch aus Branchen in den Gewerkschaften, die wie die Fahrradkuriere lange Zeit auch dachten, dass sie so altmodische Organisationen nicht brauchten.

Wenn solche Bewegungen ignoriert oder sogar als Relikte aus einer vergangenen Epoche abgelehnt werden, bleibt eben nur die radikale Geste – und zu Silvester eine Verschwörung an der Feuertonne

Der Autor ist Mitherausgeber des Buches „Corona und die linke Kritikunfähigkeit“