Kritik an der chinesischen Politik ist notwendig, aber oft ersetzen zweifelhafte Kampagnen die inhaltliche Auseinandersetzung

China-Bilder: Von Tibet über Falun Gong bis zu den Uiguren

Bevor man aber den modischen Trend folgt, das Verschwinden jeder alten Kultur zum Genozid zu erklären, sollte man doch erst einmal fragen, ob sich die Lebensbedingungen der großen Mehrheit der Bevölkerung damit verschlechtert oder unter Umständen sogar verbessert haben. Gilt es nicht auch in der westlichen Welt eher als Zeichen einer fortschrittlichen Politik, wenn vor allem junge Menschen säkular aufwachsen? Warum wird das im Fall von China fast zum Regimeverbrechen erklärt?

Am vergangenen Wochenende hat die taz mit der Schlagzeile „Die Welt zu Gast bei Verbrechern“ aufgemacht – und damit auf den Beginn der olympischen Winterspiele in China hingewiesen. Mittlerweile hat die Redaktion verbal abgerüstet und die Überschrift in „Die Welt zu Gast bei Autokraten“ geändert. Zahlreiche Leserinnen und Leser hatten nicht nur die martialische Diktion der Überschrift kritisiert. Sie störten sich daran, dass hier praktisch ein ganzes Land zu Verbrechern gestempelt wurde. Einige fragten, ob man die EU nicht ebenso bezeichnen könnte, wenn man nur die Zahl der an den EU-Grenzen gestorbenen Migranten berücksichtige. Mit etwas historischen Bewusstsein könnte man darauf verweisen, dass die in der taz gern eingeforderte antikoloniale Perspektive noch nicht besonders ausgeprägt ist, wenn es um die deutsche Geschichte geht. Dann würde man sich schon mal an die berüchtigte Hunnenrede erinnern, mit der …

… der Kaiser Wilhelm II im Jahr 1900 deutsche Truppen auf das folgende Massaker einstimmte, das als Niederschlagung des Boxeraufstandes in die Geschichte eingegangen ist. Die Rede endete mit den klaren Worten:

Kommt Ihr vor den Feind, so wird derselbe geschlagen! Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht! Wer euch in die Hände fällt, sei euch verfallen! Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in Überlieferung und Märchen gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutscher in China auf 1000 Jahre durch euch in einer Weise bestätigt werden, dass es niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen scheel anzusehen!


Wilhelm II bei der Verabschiedung Deutscher Truppen im Jahr 1900

Knapp ein Jahr später, der Aufstand wurde blutig niedergeschlagen, meldete Graf Waldersee, einer der beteiligten Militärs seinen militärischen Oberbefehlshaber Vollzug:

Ich bin frisch an die Arbeit gegangen und gesund wiedergekehrt…, Wir danken es dem Kaiser allein, dass wir Deutschlands große Bahnen eröffnet haben unseren Handel und unsere Industrie… Der deutsche Name ist hochgegangen.


Graf Waldersee nach der Niederschlagung des Boxer-Aufstands

Die verstörende Überheblichkeit der Ignoranz

Es ist schon erstaunlich, dass selbst eine linksliberale Zeitung wie die taz, die gerne für eine gewalt- und diskriminierungsfreie Sprache eintritt, davon ausgerechnet im Fall von China, einem Land, das vor 120 Jahren Opfer des deutschen Kolonialismus wurde, nichts wissen will. Ist es „die verstörende Überheblichkeit der Ignoranz“ von der der in Haiti geborene Regisseur Raoul Peck spricht?

So lautet auch die erste Folge seiner sehenswerten vierteiligen Saga der Verbrechensgeschichte des Kolonialismus, die unter dem Obertitel „Rottet die Bestien aus“ auf Arte lief und noch immer in der Arte-Mediathek abgerufen werden kann. Dort erfahren wir über das Massaker von weißen US-Einwanderern an den Indigenen bei Wounded Knee und die Schlauheit eines Geronimo, der die weißen Kolonisten bis heute zur Weißglut reizt, sodass das US-Militär die Aktion zur Tötung von Osama Bin Laden Aktion Geronimo taufte.

Die blutige Niederschlagung des Boxeraufstands gehört ebenso wie das Massaker an den Herero und Nama in der afrikanischen Wüste im Jahr 1904 zum deutschen Beitrag der blutigen Kolonialgeschichte. Auch dort galt „Rottet die Bestien aus“. Es gehört eben zur Überheblichkeit und Ignoranz auch des linksliberalen Milieus, dann völlig geschichtsvergessen ausgerechnet China als Verbrecher zu titulieren. Man kann nur hoffen, dass die stillschweigende Änderung auch aus Scham über diese Arroganz erfolgte.

Von der Tibet-Schwärmerei zu den Uiguren

Nun ist die Kolonialgeschichte kein Grund , sich nicht auch kritisch mit der politischen Entwicklung in China auseinanderzusetzen. Dort gibt sicher genug Anlass zur Kritik. Doch es fällt auf, dass gerade im Fall Chinas statt einer kritischen Auseinandersetzung oft Kampagnen mit zweifelhaften Quellen gefahren werden – und dass immer wieder mit Begriffen wie Genozid hantiert wird.

Um die Vorwürfe der Falun-Gong-Bewegung, die immer wieder von massiven Menschenrechtsverbrechen bis hin zu Organentnahme bei Oppositionellen gesprochen hatte, ist es still geworden, seit klar wurde, dass ein Großteil ihrer Vorwürfe nicht beweisbar ist.

Doch noch wird auch in manchen liberalen Kreisen recht unbefangen vom „Völkermord Chinas in Tibet“ gesprochen. Doch dagegen gab es schon Mitte der 1990er Jahre Widerspruch, beispielsweise von der streitbaren Linksökologin Jutta Ditfurth und dem Autor Colin Goldner. Beide wiesen daraufhin, dass die Tibet-Schwärmer das extrem unterdrückerische klerikale System der Gelbmützen, einer religiösen Kaste, verteidigen.

Zudem ist eine wichtige Quelle der deutschen Tibet-Schwärmerei eng mit den Romanen des langjährigen Nazis Heinrich Harrer verbunden. Schon bei der Tibet-Kampagne zeigte sich, wie eigenwillig mit Begriffen wie Völkermord oder Genozid umgegangen wurde. Unter dem Stichwort des kulturellen Genozids wurde nicht die Ermordung von Menschen, sondern die Vernichtung einer alten Kultur beklagt, ohne zu fragen, warum die erhaltenswert ist, wenn sie vor allem Verarmung, Analphabetentum und geringe Lebenserwartung für die Mehrheit der Bevölkerung bedeutet.

Niemand kann bestreiten, dass der Bildungs- und Lebensstandard der Menschen in China in den letzten 60 Jahren wesentlich gesteigert wurde. Es wurde also keineswegs ein Massensterben eingeleitet.

Kultureller Genozid an den Uiguren?

In der letzten Zeit, verschärft durch die Zunahme der Auseinandersetzungen zwischen China und der sogenannten westlichen Welt, wird der chinesischen Regierung ein Völkermord an den Uiguren, einer überwiegend muslimischen Ethnie in der autonomen Provinz Xinjiang, vorgeworfen. Anders als bei der Tibet-Schwärmerei hat das neuentdeckte Interesse an den Uiguren keine lange Geschichte. Viele kannten den Namen der Ethnie vorher nicht.

Mit Zwangsarbeit und Massenmord wird auch die komplexe Realität in der Region nicht korrekt beschrieben, wie der Sinologe Björn Alpermann kürzlich in einem Interview mit der Wochenzeitung Jungle World einräumte. Seine Einschätzung hat besondere Bedeutung, da er am Begriff des kulturellen Genozids festhält, weil die uigurische Sprache durch die Regierungspolitik in den Medien und der Kultur an Relevanz verloren hat.

Wenn es als schlecht gilt, dass die Jugend säkular aufwachsen soll

Dabei ist dort weder die uigurische Sprache oder der Islam noch die uigurische Kultur generell verboten, wie Alpermann einräumt. Seine Begründung zeigt aber, wie hier der Begriff des Genozids verwässert wird.

Erstens klafft eine Lücke zwischen dem alltagssprachlichen Verständnis des Begriffs Völkermord und dem juristischen Begriff Genozid. Letzterer kann unter Umständen schon zutreffen, wenn einer ethnischen Gruppe Maßnahmen zur Geburtenbeschränkung auferlegt werden. Ob diese Umstände in Xinjiang vorliegen, ist zwar fraglich, aber es muss nicht zwangsläufig ein Massenmord passieren, um im Sinn des Völkerstrafrechts von einem Genozid sprechen zu können. 

Zweitens erscheint mir „kultureller Genozid“ als passender Oberbegriff für die Gesamtheit aller Maßnahmen, die die chinesischen Behörden ergreifen, um die ethnische Identität der Uiguren und anderer Turkvölker zu überschreiben und sie an die Han-chinesische Mehrheitsgesellschaft zu assimilieren. 

Der Islam ist zwar nicht als solcher verboten, aber der Parteistaat setzt alles daran, dass die nächste Generation von Uiguren säkular aufwächst. Gebräuchliche Elemente des Islam – Bärte, Schleier, regelmäßiges Beten oder Fasten – werden als extremistisch verboten. 

Die Weitergabe der Religion in der Familie soll unterbunden werden. In Schulen ist schon lange jegliche Religionsausübung untersagt. Ab dem Vorschulalter wird in Xinjiang inzwischen großer Wert auf Mandarin als Unterrichtssprache gelegt – obwohl die Verfassung der Volksrepublik den in China lebenden ethnischen Minderheiten den Schutz und Erhalt ihrer Sprachen zusichert.


Björn Alpermann, Jungle World

Die problematische Verwässerung des Genozid-Begriffs

Gerade diese Ausführungen sollten Anlass sein, über eine problematische Verwässerung des Genozid-Begriffs nachzudenken. Während bei der Shoah oder den ethnischen Massakern in Ruanda 1994 Millionen Menschen starben, werden in China politische Entwicklungen zum Genozid erklärt, die mit der kapitalistischen Entwicklung in aller Welt einsetzten.

Karl Marx hat noch im Kommunistischen Manifest das Verschwinden alter Kulturen und Traditionen eher zu den positiven Funktionen des Kapitalismus erklärt. Man kann darüber streiten, ob er da nicht einer eurozentrischen Sichtweise gefolgt ist. Bevor man aber den modischen Trend folgt, das Verschwinden jeder alten Kultur zum Genozid zu erklären, sollte man doch erst einmal fragen, ob sich die Lebensbedingungen der großen Mehrheit der Bevölkerung damit verschlechtert oder unter Umständen sogar verbessert haben.

Gilt es nicht auch in der westlichen Welt eher als Zeichen einer fortschrittlichen Politik, wenn vor allem junge Menschen säkular aufwachsen? Warum wird das im Fall von China fast zum Regimeverbrechen erklärt? Galt es nicht auch in der westlichen Welt als Zeichen für eine fortschrittliche Politik, wenn die Zahl der Geburten zurückgeht? Drängten nicht vor allem Frauengruppen darauf, mit Aufklärung genau darauf hinzuwirken?

Warum wird eine solche Bevölkerungspolitik jetzt im Fall der Uiguren zum Verbrechen erklärt? Dabei behauptet niemand, dass hier Zwangssterilisierungen vorgekommen sind, wie sie beispielsweise aus Peru bekannt wurden. Auch der Terminus, den Uiguren würde Maßnahmen zur Bevölkerungspolitik auferlegt, bedarf genauer Forschungen.

Es gibt in solchen Gesellschaften sehr konservative Teile, die sich mit religiösen Begründungen gegen jede Maßnahme zur Bevölkerungspolitik wehren. Sie lehnen auch Verhütungsmittel oder Schwangerschaftsabbrüche ab. Es gibt in solchen Gesellschaften oft von Frauen getragene Bewegungen, die gerade für eine solche Bevölkerungspolitik eintreten, weil damit auch die Lebensbedingungen vor allem der Frauen verbessert werden. Alpermann räumt ein, dass darüber im Fall der Uiguren wenig bekannt ist. Umso erstaunlicher ist, dass dann der Begriff des Genozids verwendet wird.

Müssen die Uiguren Zwangsarbeit leisten?

Schwerer ist der Vorwurf zu beurteilen, ob die chinesische Regierung Zwangsarbeit als Disziplinierungsinstrument gegen die Uiguren einsetzt. Alpermann äußert sich dazu vorsichtig und verweist darauf, dass exiluigurische Organisationen vor wenigen Jahren noch monierten, dass bei der Baumwollernte Han-chinesische Migranten anstelle von Uiguren eingesetzt würden, denen so eine Einkommensquelle genommen werde. Alpermann sieht die verstärkte Industrialisierung auch im Kontext des Kampfes der chinesischen Regierung gegen die Armut.

Ein anderer Aspekt, der hier eine Rolle spielt, war eine Serie islamistischer Anschläge in Xinjiang. Danach rief die chinesische Regierung den Krieg gegen den Terror aus, wie es auch in der westlichen Welt geschah. Auch in China war und ist dieser Krieg gegen den Terror mit massiven Menschenrechtsverletzungen verbunden. Dabei ist es auch in China zu Massenverhaftungen gekommen, wie der Sinologe Felix Wemheuer richtig feststellt.

Dafür nun aber China des Genozids zu beschuldigen, geziemt sich vor allem für die westliche Welt nicht, die das Lager Guantanamo als wohl bekanntestes Symbol für Menschenrechtsverletzungen im Namen des Kampfes gegen den Islamismus noch immer nicht geschlossen hat. Wenn die nächsten Olympischen Spiele 2024 in Paris über die Bühne gehen, kommen vielleicht auch die historischen und jüngeren Verbrechen der westlichen Welt zur Sprache.

Da wären vor Ort das Massaker an algerischen Demonstranten am 17.Oktober 1961 ebenso zu benennen, wie an die zahlreichen Menschenrechsverletzungen in den französischen Banlieues oder bei der Niederschlagung der Protestbewegung der Gelbwesten zu erinnern. (Peter Nowak)