"Pragmatiker sagen, dass man für Menschenrechte keinen Atomkrieg führen kann": Der Tochter des in Russland inhaftierten Oppositionspolitikers Nawalny gefällt das nicht

Brandrede gegen Pragmatismus im Atomzeitalter

Der Auftritt der Nawalny-Tochter ist aus zwei Gründen bemerkenswert. Hier reiht sich Nawalny über seine Tochter in die kleine Gemeinde der EU-Fans in Russland ein. Dass ist politisch riskant, denn diese Gruppierungen sind weitgehend isoliert. Die EU ist in der Mehrheit der russischen Gesellschaft nicht beliebt. Zudem hat die russische Regierung nach der Rede leichtes Spiel, Nawalny und sein Umfeld als "ausländische Agenten" weiter zu isolieren. Dafür hat dessen Tochter mit ihrer Rede Munition geliefert.

Noch ist es ein Kalter Krieg, der in diesen Tagen zwischen der USA, der EU und Russland um die Ukraine geführt wird. Der Vergleich mit der Kuba-Krise vor 59 Jahren ist nicht sehr weit hergeholt. Damals waren die USA bereit, sogar einen atomaren Krieg in Kauf zu nehmen, um zu verhindern, dass die …

… Sowjetunion in unmittelbarer Nähe zu den USA Raketen aufstellt. Die kubanische Regierung war nicht darüber informiert, als damals der sowjetische Präsident beschloss, die Raketen zurückzuführen. Dafür zogen die USA, was weniger bekannt ist, Mittelstreckenraketen aus der Türkei zurück, die von den Regierungen der Warschauer Pakt als Bedrohung angesehen wurden. Die Pragmatiker hatten sich damals durchgesetzt.

Nun fordert Russland Regierung Verhandlungen mit den führenden westlichen Staaten, mit denen verhindert werden soll, dass Offensivwaffen stationiert wurden. Die russische Regierung will also verhindern, dass sich das Szenario der Kuba-Krise jetzt in Osteuropa auf umgekehrte Weise wiederholt. Eine pragmatische Lösung würde sicher darin bestehen, dass Russland von jeglichen Angriffsplänen auf die Ukraine Abstand nimmt und es umgekehrt Zusicherungen gibt, dass die Ukraine nicht Nato-Mitglied wird.

Da die Ukraine gegenwärtig zentrale Bedingungen für eine Nato-Mitgliedschaft nicht erfüllt, dürfte eine solche pragmatische Lösung des Konflikts nicht so schwer sein. Doch entscheidend ist natürlich, ob auf beiden Seiten der politische Wille dafür vorhanden ist.

Klare Absage an Pragmatismus

Da ist es natürlich kein Zufall, wenn in einer solchen Krise im Europaparlament eine Rede gehalten wird, die jeden Pragmatismus mit Russland eine Absage erteilt. Gehalten wurde sie von Daria Nawalnaja, die dort für ihren in Russland inhaftierten Vater Alexej Nawalny den vom EU-Parlament verliehenen Sacharow-Preis entgegennahm. Daria Nawalnaja sprach sich für eine besonders konfrontative Politik des sogenannten Westens gegen Russland aus.

Sie erklärte offen, dass sie sich mit ihrer Rede dem Pragmatismus entgegenstellen wolle und bezeichnete es als naiv, mit „Diktatoren“ pragmatisch umgehen zu wollen. Es gehe darum, mit Wladimir Putin anders umzugehen, verdeutlichte Nawalnaja, was sie mit ihrer Absage an den Pragmatismus meinte. Welchen Umgang mit dem gegenwärtigen Russland sie anstrebte, blieb offen. Doch eine Stelle ihrer kurzen Rede lässt aufhorchen:

„Pragmatiker sagen, dass man für Menschenrechte keinen Atomkrieg führen kann“, kritisierte sie. Im Kontext ihrer Rede kann das nur bedeuten, dass sie den Inhalt des Satzes widerspricht, also als „Nicht-Pragmatikerin“, der Meinung ist, dass für Menschenrechte ein Atomkrieg geführt werden kann.

Im Folgenden wiederholte Nawalnaja alles, was der russischen Regierung in den letzten Jahren von westlicher Seite schon immer vorgeworfen wurde. Sie verwies auf Boris Nemzow, eines besonders neoliberalen Politiker des postsowjetischen Russland, der in Moskau erschossen worden war. Obwohl die Hintergründe seines Todes nicht aufgeklärt sind, ist für Nawalnaja klar, dass nur die russische Regierung dahinterstehen kann.

Im Anschluss erklärte Nawalnaja, was ein Großteil des Publikums im Europaparlament gerne hören will. Russland gehöre zu Europa, und Europa müsse für seine Werte kämpfen. Russische Beamte in Belarus sind für Daria Nawalnaja Kriminelle, die frei herumlaufen. Zudem bekräftige sie, dass mit ihrer Rede der Wille der russischen Bürger im EU-Parlament zum Ausdruck komme.

Andienen an die EU

Der Auftritt der Nawalny-Tochter ist aus zwei Gründen bemerkenswert. Hier reiht sich Nawalny über seine Tochter in die kleine Gemeinde der EU-Fans in Russland ein. Dass ist politisch riskant, denn diese Gruppierungen sind weitgehend isoliert. Die EU ist in der Mehrheit der russischen Gesellschaft nicht beliebt. Zudem hat die russische Regierung nach der Rede leichtes Spiel, Nawalny und sein Umfeld als „ausländische Agenten“ weiter zu isolieren. Dafür hat dessen Tochter mit ihrer Rede Munition geliefert.

Das ist auch deshalb bemerkenswert, wie Nawalny seine Oppositionsarbeit in Russland als extrem rechter Blogger begonnen hatte, der die Parole „Russland den Russen“ und eine Kampagne gegen Migranten aus dem Kaukasus in den Mittelpunkt stellte.

Zur einflusslosen liberalen Pro-EU-Opposition in Russland blieb Nawalny auf Distanz, auch weil er wusste, dass er sich mit einer Annäherung in Russland wenig Freunde machen würde. Diese Distanz scheint jetzt aufgehoben. Das Nawalny-Lager übt sich jetzt in als engster Freund der EU, der diese zu einer besonders harten Haltung gegenüber Russland drängt.

Weniger überraschend dürte sein, dass in der EU gar nicht thematisiert wird, dass der neue Freund Nawalny von weit rechtsaußen kommt und es auch keinerlei Hinweise dafür gibt, dass er seine politischen Positionen wesentlich verändert hat. Amnesty International hatte wegen seinen rechten politischen Hintergrunds Nawalny zeitweise nicht mehr als „gewaltlosen politischen Gefangenen“ geführt. Diese Entscheidung wurde erst im Mai 2021 wieder aufgehoben.

Für die EU ist die Unterstützung von Rechtsaußen-Politikern in der Tat kein Problem. Vielmehr hat sie sogar Tradition. Nach dem Auftritt der Nawalny-Tochter ist klar, Nawalny ist der Kandidat des Westens. Putin und sein Umfeld können sich dann als nationale Verteidiger der russischen Souveränität profilieren. Für die kleine linke Opposition in Russland ist diese Perspektive sehr unbefriedigend. (Peter Nowak)