Der Streit um die Empfehlung der Berliner Amtsärzte zeigt, dass die ständige Aufforderung, der Wissenschaft zu folgen, politische Entscheidungen nicht ersetzt

Corona an den Schulen: Wissenschaft und Angst

Es gibt sehr unterschiedliche Wissenschaftler mit sehr unterschiedlichen Erkenntnissen. Es muss die Aufgabe der Politik bleiben, diese unterschiedlichen Erkenntnisse zu gewichten und nach politischen Kriterien zu beurteilen. Es ist daher, unabhängig von der inhaltlichen Beurteilung der Empfehlung der Amtsärzte, sehr positiv, dass der Berliner Senat diesen Sachverhalt noch mal deutlich gemacht hat.

Gestern haben sich die Gesundheitsminister der Länder auf eine bundesweit einheitliche Regelung [1] für den Umgang der Corona-Pandemie an Schulen ausgesprochen. Die wichtigste Neuerung besteht in der Lockerung der Quarantäneregelungen. Bei einem Quarantänefall in einer Schulklasse müssen künftig nicht mehr …

… die ganze Gruppe oder Klasse, sondern nur noch die Nachbarn des Betroffenen in Quarantäne. Es gehe darum, möglichst viel Präsenzunterricht zu gewährleisten [2], begründete der bayerische Gesundheitsminister Klaus Holetschek, der aktuell als Vorsitzender der Gesundheitsministerkonferenz fungiert, die Lockerungen.

Erst letzte Woche hatte eine Empfehlung von zwölf Amtsärzten [3] verschiedener Berliner Bezirke für Aufregung gesorgt. Sie hatten eine Abschaffung der Quarantänepflicht auch für Sitznachbarn von Infizierten angeregt. Ihrer Empfehlung nach hätten nur noch Kinder und Lehrer bzw. Erzieher mit einem positiven PCR-Test und deren engste Familienangehörige in eine 14-tägige Quarantäne gemusst – nicht mehr sonstige Kontaktpersonen wie Sitznachbarn oder die ganze Klasse/Gruppe.

Die Amtsärzte begründen diesen Strategiewechsel mit dem Schutz von Kindern und Familien vor den sozialen und psychologischen Folgen einer Quarantäne. Zudem verwiesen sie auf Studien, die im Testen enger Kontaktpersonen von Infizierten eine ebenso große Schutzwirkung wie in Quarantänemaßnahmen [4] sehen.

Da die Quarantäne größere Auswirkungen auf die Betroffenen und ihr Umfeld hätte, wäre sie unverhältnismäßig, wenn die Schutzwirkung mit Mitteln mit geringeren Auswirkungen ebenso zu erreichen ist.

Streit unter Elternorganisationen

Während einige Elternorganisationen diese Empfehlungen unterstützen [5], kam von anderen vehementer Widerstand.

Die Amtsärzte würden mit ihrer Empfehlung „die Durchseuchung der Kinder in Kauf nehmen“, lautete der Vorwurf. Zurückgewiesen wurde auch das Argument, dass bei Kindern die Erkrankungen in der Regel sehr milde verlaufen, mit dem Hinweis, dass es auch unter Schulkindern Spätfolgen gäbe und die Forschungen dazu noch am Anfang seien.

Die Berliner Schulbehörden haben sich letztlich nicht an den Lockerungsempfehlungen der Amtsärzte orientiert [6], aber die Quarantänezeiten von 14 auf fünf Tage verkürzt.

Neben der Ratio gibt es die Emotionen

Die für das Thema Schule zuständige taz-Reporterin Anna Lehmann kommentiert die Entscheidung [7] so:

Die Argumentation der AmtsärztInnen war in sich durchaus logisch: Es stimmt, dass Kinder in aller Regel nicht im Krankenhaus landen. Und die Krankenhausauslastung ist, mit dem Inzidenzwert und der Intensivbettenbelegung, immerhin der zentrale Indikator, an dem Berlin künftig, wie ebenfalls am Dienstag im Senat beschlossen, sein Coronamanagement ausrichten will. Und es stimmt auch: Die vulnerablen Gruppen, die Omas zu Hause, sind mit hoher Wahrscheinlichkeit längst geimpft.

Anna Lehmann, Taz [8]

Doch sie verteidigt die Entscheidung des Berliner Senats, da es neben der Ratio die Emotionen gibt. Demnach ist es für manche Eltern ein Anschlag auf die Gesundheit ihrer Kinder, wenn die neben Infizierten auf einer Schulbank sitzen müssen. Sicher, rational ist das nicht und es kann sogar zur Stigmatisierung Infizierter führen.

Eigentlich müsste daher jetzt ein rationaler Diskurs einsetzen, der eben auch mit wissenschaftlicher Expertise im Hintergrund die Lockerungen der Quarantäneregelung verteidigt. Jedenfalls, müssten das diejenigen fordern, die immer so sehr betonen, man müsse auf die Wissenschaft hören und wer das nicht tue, sei schon fast ein Verschwörungstheoretiker.

Doch die Berliner Amtsärzte wurden von diesen Kreisen nicht verteidigt, was auch noch mal deutlich macht, dass das Argument, man müsse auf die Wissenschaft hören, sehr strategisch eingesetzt wird.

Es gibt „die Wissenschaft“, auf die man hören soll, gar nicht

In den jüngsten Videos des Youtubers Rezo geht es hier [9] und hier [10] um inkompetente Politiker, die angeblich nicht auf die Wissenschaft hören. Mehrmals wiederholt Rezo den Vorwurf, als sei es das größte Stigma.

Bei ihm kommen, wie bei nicht wenigen Kritiker des fossilen Kapitalismus, keine gesellschaftlichen Verhältnisse vor. Die Alternative, die ihm und seinem Klientel vorschwebt, ist ein technokratischer Kapitalismus, die Vorstellung einer Gesellschaft jenseits des Kapitalismus kommt nicht vor. Jede Opposition, die angeblich nicht auf die Wissenschaft hört, könnte dann ins gesellschaftliche Abseits gestellt werden.

Angesichts solcher dystopischer Zukunftsentwürfe, die selbst von Menschen, die den gesellschaftlichen Verhältnissen gegenüber kritisch sind, stark gemacht werden, ist es gut, dass auf die Empfehlung der Berliner Amtsärzte nicht gehört wurde. Denn so kann deutlich gemacht werden, dass es „die Wissenschaft“ gar nicht gibt.

Es gibt sehr unterschiedliche Wissenschaftler mit sehr unterschiedlichen Erkenntnissen. Es muss die Aufgabe der Politik bleiben, diese unterschiedlichen Erkenntnisse zu gewichten und nach politischen Kriterien zu beurteilen. Es ist daher, unabhängig von der inhaltlichen Beurteilung der Empfehlung der Amtsärzte, sehr positiv, dass der Berliner Senat diesen Sachverhalt noch mal deutlich gemacht hat. Peter Nowak