Dietmar Lange: Aufstand in der Fabrik, Arbeitsverhältnisse und Arbeitskämpfe bei Fiat-Mirafiori 1962 bis 1973, 400 Seiten, Böhlau 2021 ,

Aufstand in der Fabrik

Ende 1960er-Jahre erhofften sich viele westeuropäische Linke von den Turiner Fiatwerken eine Erneuerung des Marxismus. In seinem Buch «Aufstand in der Fabrik» zeichnet Dietmar Lange die Arbeitskämpfe bei Fiat in Turin nach.

Mit dem Operaismus entstand eine linke Strömung, die den Anspruch erhob, sich an tatsächlichen Kämpfen der Arbeiter*innenklasse und nicht der Politik der Gewerkschaften zu orientieren. Die jungen kommunistischen Intellektu- ellen um die Zeitung Quaderni Rosso machten Ende der 1950er-Jahre in den Turiner Fiatwerken ihre Arbeiter*innenuntersuchungen. Dort trafen sie auf eine Situation im Umbruch: …

…. alte kommunistische Arbeiter*innen, die politisch kaltgestellt waren, junge, unzufriedene Facharbeiter*innen und neu vom Land und vor allem aus dem Süden in die Fabrik gekommene, ungelernte Arbeiter*innen, die vorher Bauer* und Bäuerinnen* gewesen waren.

Der Berliner Historiker Dietmar Lange untersucht in «Aufstand in der Fabrik», warum die Turiner Fiatwerke für eine ganze Generation radikaler Linker zu seinem Ort der Hoffnung wurden. Lange zeichnet nach, wie schon Ende der 1950er-Jahre eine junge Generation von Gewerkschaftler*innen «viele der bisherigen Gewissheiten der kommunistisch-sozialistischen Arbeiter*innenbewegung» infrage stellte. Die Gewerkschaftler*innen trafen auf linke Soziolog*innen wie Raniero Panzieri: «Seine Hoffnungen beruhten darauf, in Zusammenarbeit mit den Metallgewerkschaften eine Veränderung der Arbeiter*innenbewegung aus den Betrieben heraus in Gang zu setzen», schreibt Lange. Ein erster Schritt sollte eine Untersuchung der Arbeitsverhältnisse bei Fiat in den Jahren 1959 und 1960 sein. Der Historiker rekonstruiert hier eine Geschichte des frühen Operaismus. Parallel dazu analysiert er die Gründe für die Wiederkehr des sozialen Konflikts in den lange sozialpartnerschaftlich befriedeten Fiatwerken.

Revolutionshoffnungen

Die Politisierung der jungen Arbeiter*innengeneration begann 1960 mit militanten Demonstrationen gegen einen Parteitag der italienischen Neofaschisten. Durch sie kehrten auch der Konflikt und der Streik zurück in die Fabrik. Die keinesfalls gradlinige Geschichte bis zum heissen Herbst 1969 bei Fiat, der viele junge Linke in Europa in Revolutionshoffnungen schwelgen liess, wird von Lange dicht und informativ rekonstruiert. Dabei wird auch deutlich, dass der Kampfzyklus bei Fiat, der im Herbst 1969 eingeleitet wurde, seinen Höhepunkt mit der Betriebsbesetzung im Frühjahr 1973 erreichte. Aller- dings gab es keine Versuche, während der Besetzung die Produktion in Selbstverwaltung fortzusetzen. Es ging bei der Besetzung um eine totale Unterbrechung der Produktion, damit Streikbrecher*innen den Arbeitskampf nicht unterlaufen. Aber Lange sah in der Besetzung des Werks mehr als eine Abwehrreaktion. «Dass die Arbeiter*innen die Kontrolle über die Zugänge zum Werk übernahmen, und das Eindringen ihrer Familien auf das Gelände, mithin die Aufhebung zwischen Arbeits- und Lebensraum, hatte auch ein nicht zu unterschätzendes befreiendes Moment, das Ahnungen einer alternativen Arbeits- und Lebenswirklichkeit aufkommen liess», so die Einschätzung des Historikers.

Irrtümer der Operaisten

In dem Buch untersucht Lange auch die Irrtümer der operaistischen Linken, die die Arbeits- kämpfe in Mailand als Zäsur interpretierten. Nach ihrer Vorstellung hätten die Kämpfe bei Fiat gezeigt, dass die Ära der alten Arbeiter*innenbewegung, in der sich ein Grossteil der Beschäftigten in Gewerk- schaften organisieren, an ihr Ende gekommen sei. In den Kämpfen von Turin sahen sie eine neue Ära der Massenarbeiter*in oder in der operaistischen Diktion die gesellschaftlichen Arbeiter*innen, die sich nicht mehr von den Gewerkschaften repräsentieren lassen und den Kampf gegen die kapitalistische Gesellschaft insgesamt richte. Die Zerstörung von Maschinen bei den regelmässigen Demonstrationen durch das Fabrikgelände wurde von den Operaist*innen als Beispiel für den Kampf der Beschäftigten gegen die Arbeit interpretiert. Lange zeigt auf, dass diese Thesen mit der Realität bei Fiat wenig zu tun hatten. Während die Operaist*innen von einem Bedeutungsverlust der Gewerkschaften in dem neuen Kampfzyklus ausgin- gen, profitierten sie tatsächlich davon.

Kampf der Fabrikguerilla

Neue Kampfformen und egalitäre Forderungen der radikalen Linken fanden partiell Eingang in die Praxis der Gewerkschaften. Auch einige der Protagonist*innen der neuen Linken fanden später ihr Betätigungsfeld am linken Flügel der Gewerkschaften. Bei aller berechtigten Kritik am Prozess der Parlamentarisierung der Kommunistischen Partei Italiens (KPI) zeigt Lange an verschiedenen Stellen auf, dass, in einen längeren historischen Prozess gesehen, aus der Mitgliedschaft der Partei wichtige Impulse für die Kämpfe bei Fiat kamen. Vor allem die der KPI nahestehenden Gewerkschaften leiteten Ende der 1950er und Anfang der 1960er-Jahre den Prozess der Erneuerung in den Fiat-Werken an, die mit zur Vorgeschichte des Kampfzyklus nach 1969 gehören. Dabei traten immer wieder Konflikte mit den Funktionär*innen auf, die jede Neuerung ablehnten. Aber vor allem an der Basis der KP gab es immer auch Unterstützung für linke Initiativen bis hin zum bewaffneten Kampf einer Fabrikguerilla.

Dazu schreibt Lange: «In den Forschungen gelten vor allem die Ordnerdienste von Lotta Continua und Potero Operaia (zwei Organisationen der radikalen Linken mit klarer Distanz zur KPI P.N.) als Transitorganisationen für die bewaffneten Gruppen der 1970er-Jahre. Wie sich bei Mirafiori (Fiat-Werk P.N.) 1973 zeigte, spielten für die Roten Brigaden hingegen ältere, schon länger bei der Fiat präsente Betriebsfunktionäre der PCI und der Gewerkschaften eine wichtige Rolle.» Hier verweist Lange auf eine Arbeiter*innenmilitanz, die an der Basis der Kommunistischen Partei noch bis Ende der 1970er -Jahre spürbar war. Vor allem ehemalige Partisan*innen ge- gen den Faschismus betonten lange Zeit, sie hätten die Waffen nach dem Sturz Mussolinis versteckt und könnten sie jederzeit wieder hervorholen, wenn die Rechten stärker werden.

Vielleicht noch nicht zu Ende

Da sich die KPI als Hauptkraft des sogenannten Eurokommunismus Mitte der 1970er-Jahre immer mehr als Teil des italienischen Staatsapparates ge- rierte, wurden diese linken Kräfte an der Basis auch zunehmend bekämpft. Langes Untersuchung endet am Höhepunkt der Kämpfe bei Fiat 1973. Die Ge- schichte der Gegenbewegung, die Anfang der 1980er Jahre zur Niederlage der Linken und der kämpferischen Gewerkschaften bei Fiat führte und schon das Fiasko der italienischen Linken und natürlich auch der Kommunistischen Partei ankündigte, muss noch geschrieben werden. Schon in der Einleitung erinnert Lange daran, dass Turin 2016 durch einen Streik der Essensauslieferer*innen von Foodora Schlagzeilen machte. Vor einigen Wochen gab es in Italien ei- nen landesweiten Streik bei Amazon. Vielleicht ist die Geschichte der Kämpfe am Arbeitsplatz noch längst nicht zu Ende. Peter Nowak