Einige Klarstellungen zu einer populistischen Debatte. Ein Kommentar

Die Senioren und die Corona-Krise

Der Kampf um eine solidarische Gesellschaft nach Corona wird durch die Einschränkung von Versammlungs- und Organisierungsfreiheit tatsächlich behindert. Er wird auch dadurch erschwert, dass aus einer gesellschaftlichen Frage ein Generationskonflikt konstruiert wird.

Jetzt haben wir mehrere Wochen unter extremen Ausnahmebedingungen gelebt, und nun gibt es zumindest Licht am Horizont. Eine solche Kommentierung der Erleichterung angesichts der Perspektive, dass der …

…. Corona-Notstand zumindest teilweise gelockert wird, findet man in belgischen Medien. In Deutschland überwiegt vor allem in linken und liberalen Medien eher die Kritik, dass man zu schnell die Einschränkungen hinter sich bringen will. Sicher ist daran eines richtig: Die Normalität, die ein Großteil der Wirtschaft und der politischen Parteien wiederhaben will, ist die kapitalistische Normalität mit all ihren Klassenspaltungen, mit Ausgrenzung und Ausbeutung.

Nur war dies auch zu Corona-Zeiten vorhanden und hat bestimmte Bevölkerungsgruppen besonders stark betroffen. Dazu gehören all die Menschen, die von einer Rente leben müssen, die zum Leben nicht reicht. Sie sind schon dadurch besonders betroffen, dass sie als Risikogruppe ihren Zusatzjob aufgeben müssen und dann weniger Geld haben, oder sie laufen Gefahr, sich mit dem Coronavirus oder anderen Krankheiten anzustecken.

Der Zusatz ist wichtig, nur hat es bisher kaum jemand interessiert, wenn Seniorinnen und Senioren sich etwa beim Supermarkt an der Kasse oder beim Warenauffüllen oder Zeitungsaustragen mit einer Erkältungskrankheit anstecken. Die ist vornehmlich für ältere Menschen mit Vorerkrankungen längst nicht so harmlos, wie es jetzt oft dargestellt wird, wenn immer wieder kritisiert wird, manche Menschen würden Corona zu einer harmlosen Grippe kleinreden.

Am falschen Virus erkrankt

Eine Grippe ist nie harmlos und eine solche Behauptung vergisst die vielen Grippeepidemien in den letzten Jahrzehnten. Es fällt auf, dass schon immer rassistische Anwandlungen dabei waren, die Krankheit irgendwelchen Ländern zuzuordnen. Wer erinnert sich noch an die schwere Grippewelle in den Jahren 2017/18

Doch man muss nicht einmal in die Vergangenheit gehen. Parallel zur Corona-Berichterstattung gehen die Toten der Influenza beispielsweise im Kreis Pinneberg in der Berichterstattung unter. Sie waren Opfer des falschen Virus und ihre Fälle waren für die Medien nicht interessant. Wären sie an oder mit Corona gestorben, wäre das anders gewesen. 

So stört scheinbar nicht, wenn permanent die Grippe verharmlost und der Anschein erweckt wird, eine Influenza ist nicht gefährlich. Dabei ist nachgewiesen, dass vor allem für die vielbemühten Risikogruppen nicht nur eine Grippe, sondern auch andere infektiösen Erkältungskrankheit eine Gefahr sind. Vor allem, aber nicht nur für ältere Menschen mit Vorerkrankungen trifft das zu.

Sie werden jetzt gerne herangezogen, um vor voreiligen Lockerungen der Corona-Beschränkungen zu warnen. Wo war die Sorge über ihre Gesundheit bei den permanenten Grippe-Wellen? Und ginge nicht die einzig richtige Forderung dahin, dass Senioren sich nicht mehr der Gefahr aussetzen müssen, ihre Gesundheit in einem unzumutbaren Maß zu riskieren, weil sie ihren Lebensunterhalt verdienen müssen?

Das bedeutet, für armutsfeste Renten für alle Senioren einzutreten und für die Förderung und den Ausbau des Gesundheits- und Caresystems; dass allen Menschen weltweit die Gesundheitsförderung zukommt, die sie brauchen und wollen, und die im Rahmen der modernen Forschung möglich ist. Wichtig ist, dass die Ergebnisse absolut allen Menschen zugutekommen müssen.

Es kann nicht sein, dass in Afrika Menschen an Krankheiten sterben müssen, die im globalen Norden längst besiegt sind, nur weil sie das Pech hatten, nicht dort geboren zu sein. Die Corona-Krise könnte hier ein Umdenken bewirken, weil allen klar ist, dass die Krankheit in der globalisierten Welt nicht auf einige Bereiche beschränkt bleiben wird. Das sollte die Chance eröffnen, für eine globale Gesundheitspolitik einzutreten.

Zudem sollte eben auch die Debatte über die Senioren als Risikogruppe genutzt werden, um deutlich zu machen, dass Senioren mit Armutsrenten, die noch zur Tafel gehen oder Flaschen sammeln müssen, mit und ohne Corona ein größeres Krankheitsrisiko haben als Senioren, die in komfortablen Seniorenwohnanlagen ihren Lebensabend verbringen.

Aus diesem gesellschaftlichen Segment kommen auch die Senioren, die via Taz verkündet haben, sich selber zu isolieren, um so den Jüngeren zu ermöglichen, weiter so wie bisher zu leben. Sie haben nur nicht bedacht, dass für Senioren mit einer geringen Rente und einer kleinen Wohnung eine Selbstisolation kaum in Frage kommt.

Corona und die 68er

Zu den arrivierten Senioren gehören überdies die vielzitierten „68er“, die auch in der Coronakrise wieder viel bemüht werden. Hier wird eine Jahreszahl zur Chiffre, wie schon so oft in der Debatte. Gemeint sind die Menschen, die 1968, also vor über 50 Jahren, politisch aktiv waren, aber auch die vielen Menschen, die in den Jahren danach von der 68er-Bewegung beeinflusst waren.

Oft wird noch an die Bewegung gegen die Notstandsgesetze erinnert, die 1968 verabschiedet wurden. Tatsächlich hatte der Kampf gegen die Notstandsgesetze, der bereits in den 1960er Jahren geführt wurde, zum Ergebnis, dass die alte und neue Linke in dieser Frage kooperierten.

Dabei zählt zur alten Linken die traditionalistische, eher an der Kommunistischen Partei orientierten Linke. Aber dazu gehören auch linkssozialistischen Gruppen, die sich gerade in Abgrenzung zur autoritären Politik des Nominalsozialismus organisierten. Genauso heterogen war von Anfang an die „Neue Linke“. Nur spielen die Widersprüche heute keine Rolle mehr, wenn pauschal von den 68ern die Rede ist. In einem Essay in der Zeitung Neues Deutschland beschreibt Velten Schäfer einen Generationenkonflikt beim Umgang mit dem Lockdown in der Corona-Krise:

Zu den Merkwürdigkeiten der „Corona-Krise“ gehört ihr absurder Effekt auf die gesellschaftliche Linke. Gerade „Ältere“ – die selbst, soweit man das weiß, ja eher zu den „Risikogruppen“ zählen – scheinen zuweilen fast mehr als vom Virus selbst davon erschreckt zu sein, wie schnell, weitreichend und widerstandslos Grundrechte suspendiert werden können und wie stark die jeweiligen Machthaber davon profitieren. Die „Jüngeren“ dagegen, die persönlich weniger gefährdet sind, neigen offenbar häufig dazu, der existenziellen Bedrohung durch die Infektionskrankheit alles unterzuordnen und eher noch konsequentere „Maßnahmen“ zu fordern. Während diese idealtypischen Älteren also bei politischem Pessimismus zu „virologischem“ Optimismus neigen, ist es bei den Jüngeren umgekehrt. Und eine negative Cui-bono-Frage – wen stört die Situation am meisten, richtig: die Konzerne – trägt zu einer Haltung bei, die linke Gesinnung am Härtegrad des „Lockdowns“ misst.

Velten Schäfer, Neues Deutschland

Schäfer bringt diese von ihm diagnostizierten Unterschiede mit dem Kampf gegen die Notstandsgesetze in Verbindung und erinnert auch daran, dass schon vor der Klimakrise von jüngeren Aktivisten unbefangen der Ausrufung eines Notstands gefordert wurde:

Diese Verdrehung der Positionen hat Geschichte. Die heute älteren Traditionen der Linken – rund um die „Neue Linke“ der 1960er und 1970er Jahre – haben als Kristallisationspunkt den Widerstand gegen die Notstandsgesetze von 1968. In der jüngeren Tradition gilt hingegen gerade das Ausrufen von Notständen – von Beschneidungen des politischen Prozesses durch die Exekutive – als Mittel gesellschaftlicher Transformation. Am Sichtbarsten wurde dies zuletzt in der Klimafrage. So schließen sich diese Jüngeren zunehmend unkritisch vermeintlichen Maßnahmenchampions à la Markus Söder an, während jene Älteren plötzlich neben den Neoliberalen stehen, denen es freilich weniger um demokratische Rechte geht als um das Wiederanfahren der Profitwirtschaft.

Velten Schäfer, Neues Deutschland

Wenn aus einer gesellschaftlichen Frage ein Generationskonflikt gemacht wird

Tatsächlich könnte man hier fragen, ob die unbefangene Herangehensweise jüngerer Leute an die Politik des Notstands wirklich damit zu tun hat, dass sie nicht mehr viel über die Bewegung gegen die Notstandsgesetze wissen?

Ist es nicht das Schwinden einer generellen Macht- und Staatskritik, die auch durch die Internetkultur und die damit verbundene Datenfreigabe gefordert wird? Ist dieses Vertäuen in Staats- und Machtapparate nicht das Kennzeichen einer Epoche, in der eine Linke schwach ist? Selbst große Teile der Datenschutzbewegung kritisieren lediglich den Missbrauch von Macht, aber stellen gar nicht in Frage, ob es überhaupt Macht und Herrschaft geben muss.

In der Umweltbewegung wurden dann die Staatsapparate regelrecht aufgefordert, den Notstand auszurufen und sich zu ermächtigen. Da war es dann nur ein weiterer Schritt, auch den Corona-Notstand als notwendiges Übel hinzustellen. Schäfer zeigt die Gefahren auf und weist darauf hin, dass die Frage, wie eine Gesellschaft nach Corona aussieht, eine Folge von Klassenkämpfen ist.

Wenn sie nicht von den unteren Klassen geführt werden, bestimmen die oberen Klassen und siegen im Klassenkampf. Sie brauchen dazu keine Streiks und Demonstrationen. Beim Klassenkampf von unten ist das aber sehr wohl der Fall. Der wird durch die Einschränkung von Versammlungs -und Organisierungsfreiheit tatsächlich behindert. Er wird auch dadurch erschwert, dass aus einer gesellschaftlichen Frage ein Generationskonflikt konstruiert wird.

Hier werden Spaltungslinien aufgebaut, die schon lange vor der Corona-Krise angelegt waren. Das Gerede von den alten weißen Männern, die endlich verschwinden sollen, war noch vor wenigen Wochen auch in linken und linksliberalen Medien zu lesen. Es trägt genauso zur Propagierung eines Generationskonflikts bei, wie die Egotour des Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer, die wiederum aufgebauscht und moralisiert wurde.

Stattdessen sollte besser über die Frage diskutiert werden, die Velten Schäfer in den schon erwähnten ND-Artikel stellt: „Wie lässt sich bewirken, dass sich die solidarische und nicht die neoliberale Deutung der Corona-Erfahrung durchsetzt?“

Schäfer spricht drei Politikfelder an. Die Reichen sollen für die Krise zahlen, das Gesundheitssystem und die Rente müssen Markt- und Kapitalgesetzen entzogen werden.

Zudem könnte die Parole „Leave no one behind“ zur handlungsleitenden Maxime werden. Nicht nur Geflüchtete sollen nicht zurückgelassen werden, auch nicht die Rentnerin, die weder eine Armutsrente noch einen Minijob hat, oder der Senior, der Flaschen sammeln muss, um überleben zu können. Der Kampf darum sollte eine Aufgabe für Menschen jeden Alters sein. Peter Nowak