Im Vorfeld der Seattle-Proteste wurde die Plattform Indymedia geboren, um die mediale Machtbalance zu verschieben.

»Die wirkliche Geschichte erzählen«

Bereitet Euch darauf vor, überschwemmt zu werden von der Welle aktivistischer Medienmacher*innen vor Ort in Seattle und überall auf der Welt, die die wirkliche Geschichte hinter der Welthandelsvereinbarung erzählen.« Mit dieser Erklärung trat das Independent Media Center (IMC) am 24. November 1999 erstmals an die Öffentlichkeit. Es war die Geburtsstunde der Internetplattform Indymedia.

Mit den Protesten gegen die Welthandelsorganisation (WTO) 1999 in Seattle erstarkte nicht nur die globalisierungskritische Bewegung. Sie baute sich auch einen eigenen Medienkanal auf, um die Berichterstattung nicht den etablierten Zeitungen und Fernsehstationen zu überlassen. »Bereitet Euch darauf vor, überschwemmt zu werden von der Welle aktivistischer Medienmacher*innen vor Ort in Seattle und überall auf der Welt, die die wirkliche Geschichte hinter der Welthandelsvereinbarung erzählen.« Mit dieser Erklärung trat das ….

… Independent Media Center (IMC) am 24. November 1999 erstmals an die Öffentlichkeit. Es war die Geburtsstunde der Internetplattform Indymedia.
Wenige Tage später, vom 30. November bis 2. Dezember, tagten die Wirtschafts- und Handelsminister der WTO in Seattle. Das Treffen endete ergebnislos, was an den schwer überbrückbaren Differenzen in der Handelspolitik lag. Vor den Konferenzräumen jedoch wurde eine transnationale Protestbewegung hör- und sichtbar, die die Stadt blockierte. Die Bilder, Videos und Erklärungen der Gipfelgegner*innen wurden von den Medienaktivist*innen fast in Echtzeit in alle Welt übertragen und ebenso die Polizeigewalt. Ziel von Indymedia war kein Nachrichtenjournalismus, sondern die Bereitstellung einer Veröffentlichungsplattform, auf der jede und jeder selbstverfasste Berichte publizieren kann.
Der neue Zyklus der globalisierungskritischen Proteste wäre ohne den Einsatz der Medienaktivist*innen der ersten Stunde nicht denkbar gewesen. Die erste Erklärung des IMC war geprägt von der Überzeugung, dass die neuen Medien im Kampf für eine gerechtere Gesellschaftsordnung eine zentrale Rolle spielen werden.
»Das Web verändert die Balance zwischen multinationalen und aktivistischen Medien dramatisch«, heißt es in der Erklärung. »Mit ein bisschen Code und etwas billigem Equipment können wir eine automatisierte Live-Website aufsetzen, die den Unternehmen Konkurrenz macht.«
Was ist 20 Jahre später von diesem Aufbruch geblieben? Diese Frage stellt sich Anne Roth in einem Beitrag unter dem programmatischen Titel »Ein anderes Internet schien möglich«. Roth engagierte sich einige Jahre bei Indymedia Deutschland und ist heute Referentin für Netzpolitik bei der Linksfraktion im Bundestag. ‚Eine andere Welt ist möglich‘ sei ein Slogan des Weltsozialforums und der Antiglobalisierungsbewegung gewesen, so Roth. »Indymedia ist gemeinsam mit ihnen um die Jahrtausendwende entstanden und der Slogan drückte die Vorstellung aus, dass es möglich sein muss, die Weltwirtschaft anders als entlang der kapitalistischen Verwertungslogik zu organisieren«, beschreibt sie gegenüber »nd« die damalige Stimmung. Roth weist darauf hin, dass erst Ende der 1990er Jahre eine Software möglich gemacht habe, Texte, Videos und Fotos schnell und ohne große Vorkenntnisse im Internet zu veröffentlichen.
Heute nur noch Nischen
Heute sieht Roth im durchkapitalisierten World Wide Web nur noch einige Nischen für Projekte, bei denen es nicht ums Geschäftemachen geht. Doch sei das Internet noch immer »ein wichtiges Werkzeug für Minderheiten, Bewegungen oder Aktivist*innen in repressiven Umgebungen, um sich ausdrücken und organisieren zu können«. Auch Johanna S., die ihren vollständigen Namen nicht in der Zeitung lesen will, bezeichnete das Internet heute als eine Voraussetzung, um sich eine nichtkapitalistische Gesellschaft auf globaler Ebene überhaupt vorstellen zu können. Johanna S. gehörte im April 2000 gehörte zu den Mitbegründer*innen des aktivistischen Videokollektivs Kanal B. In der ersten Zeit erschienen in kurzer Folge Kanal-B-Ausgaben, die die Aktionen der globalisierungskritischen Bewegung dokumentierten. Später spielten Arbeitskämpfe und internationalistische Themen eine stärkere Rolle. Die letzte Kanal-B-Ausgabe 2010 dokumentierte den Kampf gegen Paramilitärs in Kolumbien. Heute bemüht sich Johanna S. mit der von ihr gegründeten Onlineplattform Labournet.tv, Arbeitskämpfe in aller Welt bekannt zu machen.