Geht es um Rassismus oder um Regierungsfähigkeit?

vom 26. September 2023

Der Streit in der Linkspartei ist nicht monokausal zu erklären

Nun herrscht vorerst wieder Burgfrieden in der Linkspartei. Doch wie lange er hält, ist unklar. Jedenfalls ist dem Taz-Kommentator Pascal Peucker zuzustimmen[1]:

Die gegenseitig geschlagenen Wunden sind tief. Es wäre naiv, zu glauben, dass nach dem halbgaren „Kompromiss“ zwischen den Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch auf der einen und den Parteichefs Katja Kipping und Bernd Riexinger auf der anderen Seite nun der Streit beigelegt wäre. Wer den grimmigen Auftritt Wagenknechts nach ihrer Wiederwahl gesehen hat, dem dürfte klar sein: Der Kampf geht weiter.

Pascal Peucker

Der Taz-Kommentator verfällt auch nicht in die üblichen Anti-Wagenknecht-Reflexe, nach der die Politikerin schon fast auf AfD-Kurs ist[2]. Dagegen stellt Peucker fest:

Wenn es auf den ersten Blick anders erscheinen mag, geht es realiter nicht um Inhalte. Auch nicht um die tatsächlich bestehenden Differenzen in der Flüchtlings- und Integrationspolitik oder beim Thema Europa. Ginge es nur darum, dann könnte der Streit rationaler und mit weniger Verletzungen ausgetragen werden – und die innerparteilichen Frontstellungen würden anders aussehen. Denn dann bekäme das Bündnis der „Wagenknechtianer“ mit den „Bartschisten“ schnell Brüche. Doch obwohl der sogenannte Reformerflügel dem Parteizentrum um Riexinger und Kipping eigentlich inhaltlich wesentlich näher steht, hat er sich dafür entschieden, lieber im Windschatten der Traditionslinken um Wagenknecht zu segeln – bis hin zur politischen Selbstverleugnung. Anstatt in die inhaltliche Auseinandersetzung zu gehen, reibt sich die Parteirechte die Hände: Während sich das Wagenknechtlager und das undogmatisch linke Parteizentrum um Riexinger und Kipping zerfleischen, sichern Dietmar Bartsch & Co. ihre Pfründe.

Pascal Peucker

Manche sehen in Wagenknecht ein rotes Tuch, weil sie die Regierungsfähigkeit der Linken behindere. Dabei muss erwähnt werden, dass es in dem Streit um unterschiedliche Flügel der linken Sozialdemokratie geht. Alle maßgeblichen Protagonisten sind zum Mitregieren bereit, auch Sahra Wagenknecht.

Doch für manche ist sie wegen ihrer Vergangenheit in der Kommunistischen Plattform noch immer ein rotes Tuch. Führende SPD-Mitglieder haben ganz klar benannt, eine Linke auf Wagenknecht-Kurs könne für sie kein Partner sein. Deshalb sollen ihr Grenzen gesetzt werden.

Dabei werden die Differenzen in der Flüchtlingsfrage in den Mittelpunkt gestellt. Das ist das Futter für die außerparlamentarischen Linken, die sich nun mit Offenen Briefen und Appellen für eine Positionierung im Machtkampf der linken Sozialdemokraten benutzen lassen.

Mit linken Phrasen beim Merkel-Lob gelandet

Doch was haben die außerparlamentarischen Wagenknecht-Kritiker außer Moral denn inhaltlich zu bieten? Wenn man das Interview[3] mit einem der Protagonisten, dem Philosophen Thomas Seibert[4], in der Taz liest, so bleibt nur ein Lob für die Merkel-Phrase „Wir schaffen das“ übrig.

Taz: Der offene Brief diskutiert keine konkreten Äußerungen, sondern ist eine pauschale Attacke auf Wagenknecht. Ist Exkommunikation aus der Reihe der Rechtgläubigen nicht ein Ritual linker Debatten, das man besser hinter sich lässt?

Thomas Seibert: Es geht nicht um innerlinke Querelen, sondern um Merkels Entweder-Oder und die Zukunft unserer Gesellschaft. Geben wir dem rassistischen Viertel weiter Raum, oder sammeln wir eine Mehrheit für das „Wir schaffen das!“ Hier ist die Rose, hier tanze!

Nicht um die Autonomie der Migration geht es Seibert, der vor einem Jahrzehnt mal als Gesinnungsfreund von Antoni Negri galt. Er will den Merkel-Fan-Club stärken und ist von der Idee so begeistert, dass er sie gleich noch mal ausführt:

In diesem Land haben sich Millionen für den Weg des „Wir schaffen das“ entschieden. Linke Politik schließt daran an – oder sie ist keine linke Politik.

Thomas Seibert
Das ist sinnfrei und Seibert macht auch nicht den leisesten Versuch, seine steilen Thesen zu begründen. Was hat es mit linker Politik zu tun, wenn ein Merkel-Statement wie eine Monstranz herumgetragen wird? Ich würde es als ein Indiz für das Ende einer außerparlamentarischen Linken interpretieren.

Er hätte sich auf die Autonomie der Migration berufen können, auf zaghafte Versuche von transnationalen Arbeitskämpfen, auf selbstorganisierte Migrantenkämpfe. Doch ausgerechnet eine Merkel-Phrase bläst Seibert zur Monstranz auf und vergisst zu erwähnen, dass in den letzten Jahren von der Merkel-Regierung die restriktivsten Flüchtlingsgesetze verabschiedet wurden.

Warum hat die Migrationsfrage für die Restlinke einen solchen Stellenwert?

Es stellt sich nun die Frage, warum für Seibert und einige andere Linksliberale die Migrationsfrage eine solche Zentralität bekommt? Auch davon findet man nichts in dem Interview und auch nicht in den Erklärungen anderer außerparlamentarischer Gruppen. Man findet nicht den Hauch eines linken Konzepts, wonach eine größere migrantische Population die Bedingungen für linke Politik hierzulande verbessern könnte.

Wenn es auch illusionär sein mag, so hätte ein solches Konzept zumindest den Charme, dass man darüber diskutieren und dafür und dagegen argumentieren kann. Da bleibt am Ende nur der Verdacht, Seibert und seine Freunde wissen, wie dringend der Wirtschaftsstandort Deutschland auf Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen ist. Deswegen unterstützen ja auch große Teile der deutschen Wirtschaft den Merkel-Kurs und nicht die AfD.

Der Soziologe Stephan Lessenich[5], der im Neuen Deutschland mit seiner Polemik gegen Wagenknecht[6] eine lebhafte Diskussion auslöste, erkennt anders als Seibert:

Die „Wir schaffen das“-Parolen Angela Merkels waren nicht nur unglaubwürdig, sondern geradezu zynisch, weil sie den Worten keine infrastrukturellen und anerkennungspolitischen Taten folgen ließ – im Gegenteil.

Stephan Lessenich
Lessenich, der im Umfeld der linksliberalen Kleinstpartei Mut[7] aktiv ist, kommt zu einigen diskussionswürdigen Vorschlägen einer gemeinsamen Interessenvertretung unabhängig von Herkunft und Pass:

Warum können Frau Wagenknecht, Herr Lafontaine und ihre Linken Mitredner/innen nicht verstehen, dass unter alledem Arm („deutsch“) und Arm („nicht-deutsch“) gleichermaßen leiden – und daher tunlichst Hand in Hand für eine progressive und emanzipatorische Umgestaltung dieses Gemeinwesens kämpfen, gemeinsam für eine andere Republik streiten sollten?

Stephan Lessenich
Doch dann sollte man die Migranten nicht als „hilfsbedüftige Flüchtlinge“ titulieren, eine Formulierung, die sich auch in Lessenichs Text eingeschlichen hat. Natürlich gibt es die auch, doch der Großteil der Migranten sucht selbstbestimmt ein besseres Leben in Europa, was der kürzlich angelaufene Film Als Paul über das Meer kam[8] noch einmal gut deutlich machte[9].

Solidarität statt Caritas

Wenn der Großteil der selbstbestimmten Migranten zu hilfsbedürftigen Flüchtlingen gemacht wird, hat das zwei fatale Folgen. Die Migranten werden zu Opfern erklärt, die weißer Helfer bedürfen, obwohl sie die schwierigen Wege auf sich genommen haben. Zudem verhindert man, dass in der Gesellschaft über die Migration argumentativ und nicht moralisch diskutiert wird.

Da könnte auch darüber diskutiert werden, dass es für einkommensarme Menschen auch in Deutschland Sinn macht, sich mit anderen Menschen zusammenzuschließen, die in einer ebenso schlechten oder noch schlechteren Lage sind. Das ist der Gedanke der Solidarität, der keine Hautfarbe und Grenzen gibt. Dieser Gedanke leitete die Gewerkschafter, die eine Gewerkschaftsmitgliedschaft unabhängig vom Aufenthaltsstatus[10] forderten.

Der Gedanke der Solidarität war auch maßgeblich, als die Basisgewerkschaft Freie Arbeiterunion (FAU) Bauarbeiter der Mall of Berlin[11] beim Kampf um den ihnen vorenthaltenen Lohn unterstützten. Dieser Solidaritätsgedanke ist eben keine Caritas und sie geht davon aus, dass es im Interesse aller Ausgebeuteten liegt, wenn sie sich zusammenschließen.

Solche Fragen wurden schon in der historischen Arbeiterbewegung vor mehr als hundert Jahren gestellt. Daher ist es auch so fatal, wenn postmoderne Theoretiker wie Mario Neumann und Sandro Mezzadra in ihrer Flugschrift Jenseits von Interesse und & Identität[12], die im Laika-Verlag erschienen ist, die Klassenfrage zugunsten von Identitätspolitik ausblenden.

Wenn es in der Verlagsankündigung über die Autoren heißt: „Sie zeigen, dass die Kämpfe der Jugend, der Migrant*innen und der Frauenbewegung spätestens seit 1968 im Zentrum jeder Klassenpolitik stehen“, dann wird die Geschichte der Arbeiterbewegung retuschiert. Der Kampf der Frauen spielte dort eine große Rolle[13]. Es war vor 100 Jahren in der frühen Sowjetunion eine Alexandra Kollontai[14], die die Befreiung der Frau das erste Mal zum Gegenstand von Regierungspolitik machte.

Zudem war die reale Arbeiterklasse in Deutschland immer transnational und migrantische Arbeiter waren oft diejenigen, die am entschiedensten im Streik die Interessen aller Kolleginnen und Kollegen verteidigten. Identitäts- versus Klassenpolitik, das ist eine falsche Alternative , und doch diskutieren Linke in aller Welt genau darüber. Dagegen wäre eine Klassenpolitik auf der Höhe der Zeit angesagt, die anerkennt, dass die Klasse nicht nur aus Männern besteht und dass sie transnational ist. Damit kann sie an Traditionen der Arbeiterbewegung anknüpfen, die von den feindlichen Brüdern Stalinismus und Sozialdemokratie weitgehend ausgeschaltet wurden.

Dass sich manche Linke heute hinter Merkel stellen oder sich im Machtkampf der neuen Sozialdemokraten positionieren, zeigt aber auch, wie tief diese Erkenntnisse verschüttet sind.

Peter Nowak
https://www.heise.de/tp/features/Geht-es-um-Rassismus-oder-um-Regierungsfaehigkeit-3865979.html

PURL dieses Artikels:
http://www.heise.de/-3865979

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.taz.de/!5453694/
[2] https://www.heise.de/tp/features/Wagenknecht-unter-Druck-3864860.html
[3] http://www.taz.de/!5455168/
[4] https://www.solidarische-moderne.de/de/article/22.dr-thomas-seibert.html
[5] http://www.stephan-lessenich.de/
[6] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1066535.der-rassismus-im-lafonknechtschen-wagentainment.html
[7] https://www.zeitzuhandeln-bayern.de/
[8] http://www.farbfilm-verleih.de/filme/als_paul_ueber_das_meer_kam/
[9] https://www.heise.de/tp/features/Als-Paul-Nkamani-Jakob-die-Show-stahl-3820703.html
[10] http://www.frsh.de/fileadmin/beiboot/BB6/BB-6-14-Anlage.pdf
[11] https://berlin.fau.org/kaempfe/mall-of-shame
[12] https://www.laika-verlag.de/laika-diskurs/jenseits-von-interesse-identitat
[13] http://www.mlwerke.de/beb/beaa/beaa_000.htm
[14] http://www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie/alexandra-kollontai/
Copyright © 2017 Heise