Letzte existierende Publikation der DDR-Opposition

Grundhaltung bewahrt

Der „telegraph“ ist die letzte noch existierende Publikation der DDR-Opposition. Die Redaktion befasst sich in der neuen Ausgabe mit gescheiterten Revolutionen

Wenn sich eine Publikation heutzutage als „ostdeutsche Zeitschrift“ bezeichnet, vermutet man schnell gesammelte DDR-Nostalgie und Berichte über Trabi-Gedenkfahrten. Doch im telegraph, der ebendies im Untertitel trägt, findet sich nichts von beiden. Kein Wunder, handelt es doch um die einzige noch existierende Publikation der DDR-Opposition. Sie wurde 1987 als Umweltpolitische Blätter gegründet und bestand aus hektografierten Schreibmaschinenseiten. Das ist lange her. Vor wenigen Tagen ist die neue Doppelnummer erschienen in einer Auflage von 1.000 Exemplaren. Ihr Cover ziert ein Verkehrsschild, das auf eine Sackgasse hinweist. Darunter der Satz: „Frei bis Deutsche Einheit“.

Mit dieser Fotomontage ist das Selbstverständnis der telegraph-Redaktion gut wiedergegeben. Nicht das vereinigte Deutschland, sondern eine basisdemokratische DDR ohne Deutsche Bank und Bild-Zeitung war ihr Ziel. „Im telegraph kamen die DDR-Oppositionellen zu Wort, die in den Wendemonaten Antifa-Demonstrationen organisierten und Häuser besetzten“, berichtet Dirk Teschner. Der Kurator an der Erfurter Kunsthalle ist der Einzige der fünfköpfigen Redaktion, der schon damals dabei war.

Der telegraph blieb politisch unabhängig und schloss sich keiner der in den Wendezeiten gegründeten Gruppen an, betont Teschner. Mitte der 90er Jahre, als die Redaktion eine Perspektivdebatte führte, entschied man sich trotz sinkender Absatzzahlen und Finanzierungsprobleme für das Weitermachen, weil es „keine kontinuierlich arbeitende Zeitschrift aus unserem Umfeld gab“.

1998 fiel die Entscheidung, den bisherigen Untertitel „behörden- und unternehmerunfreundlich“ durch „ostdeutsche Zeitschrift“ zu ersetzen. Es habe sich um eine politische Positionierung gehandelt, betont Teschner. „Der Untertitel wurde aber auch als Abgrenzung zu Westgruppen, wie den Wohlfahrtsausschüssen, gewählt, die alle DDR-BürgerInnen unter den Generalverdacht stellten, undemokratisch und rassistisch zu sein.“ Die Wohlfahrtsausschüsse waren ein loses Bündnis von überwiegend westdeutschen Antifagruppen und KünstlerInnen, die in den 90er Jahren mit Konzerten und politischen Veranstaltungen gegen die rechte Dominanz in verschiedenen ostdeutschen Städten agierten.
Für Kamil Majchrzak spielten bei dieser Auseinandersetzung auch Enttäuschungen und Neid von Ost- und Westlinken eine große Rolle. „Die linke Oppositionsbewegung war 1989 auf der Straße, und die Westlinke hat weitgehend zugeguckt“, skizziert der am Zentrum für Europäische Rechtspolitik (ZERP) in Bremen arbeitende Rechtswissenschaftler die Rollenverteilung. Majchrzak ist in Polen geboren und lebte mit seinen Eltern in den 80er Jahren mehrere Jahre in der DDR. Als er 1995 zum Studium nach Berlin zurückkehrte, suchte er den Kontakt zum telegraph, weil ihm der besondere Blick auf die osteuropäischen Oppositionsbewegungen sympathisch war. Majchrzak, der auch für die polnische Ausgabe der Le Monde diplomatique arbeitet, wurde 1997 Redaktionsmitglied. Er hat den telegraph zunehmend für linke Theoriedebatten geöffnet. So übersetzte er für die aktuelle Ausgabe ein Gespräch des in Polen geborenen Philosophen Zygmunt Baumann über dessen Hoffnungen und Enttäuschungen mit der Volksrepublik Polen; mit dem französischen Historiker Enzo Traverso führte er ein Interview über den Bedeutungswandel des Antifaschismus.

Ein reines Theorieorgan soll der telegraph auch in Zukunft nicht werden, betont Majchrzak. In der aktuellen Ausgabe ist der Mix aus Theorie und Praxis gelungen. Dort zieht der Stadtsoziologe Andrej Holm eine ernüchternde Bilanz von 20 Jahre Stadtsanierung in Prenzlauer Berg: „All die Aufwertungsprognosen der Vergangenheit haben sich erfüllt – aber ,recht haben‘ ist keine Kategorie des politischen Erfolges. Leider.“

Der Publizist Helmut Höge erinnert an die ostdeutsche Betriebsräteinitiative, die bis Mitte der 90er Jahre nicht immer erfolglos gegen die Abwicklung von DDR-Betrieben kämpfte. Die Geschichtsstudentin Christiane Mende wirft einen differenzierten Blick auf das Leben der ArbeitsmigrantInnen in der DDR. Obwohl für sie im wiedervereinigten Deutschland kein Platz sein sollte, haben es manche durch verschiedene Formen von Resistenz doch geschafft zu bleiben.

Zwischen Häuserkampf und Antifa
Und der Prenzlberger Blogger und Rapper Jenz Steiner beschreibt seine Politisierung als Jugendlicher in den frühen 90ern zwischen Hausbesetzungen und Antifa-Demonstrationen. „Der wilde Aktionismus der Pubertät ist bei fast allen verpufft. Ihre linke, humanistische und freidenkerische Grundhaltung haben sie sich hingegen bewahrt“, schreibt Steiner über seine Jugendfreunde von Prenzlauer Berg. Damit hätte er auch den telegraph im Jahr 2010 beschreiben können.

 telegraph 120/121: „Gescheiterte Revolutionen“. 160 Seiten, 6 €.

Bestellung über www.telegraph.ostbuero.de

http://www.taz.de/1/berlin/artikel/1/grundhaltung-bewahrt/

Peter Nowak


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