Linke diskutierten noch einmal den Revisionismusstreit

Falsch abgebogen

Die Diskussion verschaffte den Eindruck einer Zeitreise in die frühen 1970er Jahre. Damals stritten sich in kommunistischen Aufbauorganisationen meist junge Akademiker*innen intensiv darüber, wann der Revisionismus in der Arbeiter*innenbewegung begonnen hatte. Die Frage bleibt, was solche Debatten zu einer Erneuerung der gesellschaftlichen Linken heute beitragen.

Heute dürften den meisten Linken die Begriffe Revisionismus und Anti-Revisionismus wenig sagen. Dabei geht es um einen zeitweise in der kommunistischen Bewegung erbitterten Streit darüber, wann die Sowjetunion vom Weg in eine kommunistische Gesellschaft abgekommen sei. Rätekommunist*innen würden das Jahr 1921 nennen, als der Matrosenaufstand von den Bolschewiki niedergeschlagen wurde. Andere setzen bei der Ausschaltung von Trotzki und seinen Anhänger*innen an. Und es gibt Strömungen, die den 20. Parteitag als Beginn sehen, als Chruschtschow in einer Geheimrede mit der Stalin-Herrschaft zumindest in Teilen brach. Vom 25. bis 27. Januar sorgte der Revisionismusstreit auf der …

… Europäischen Platypus-Konferenz an der Berliner Humboldt-Universität für Diskussionen, die dem 100. Todestag von Lenin gewidmet war. Bei der Podiumsdiskussion über die Krise im sozialistischen Lager sorgte schon die Besetzung für Kontroversen. Dieter Ilius von der MLPD traf auf einen Vertreter der trotzkistischen Spartakist-Arbeiterpartei. Dabei handelt es sich um zwei randständige Gruppen der Linken, die wohl selten zusammen auf einem Podium sitzen, weil sie völlig verschiedene Pole des sozialistischen Spektrums repräsentieren.

Illius betonte, dass er seine Partei nicht als stalinistisch verstehe, und kündigte an, dass die MLPD demnächst Texte herausgegeben werde, die auf die großen Fehler von Stalin eingingen. Gleichwohl betonte er, dass die MLPD Stalin für seine Verdienste würdige, wozu er auch den Sieg über den Nationalsozialismus zähle. Der Spartakist-Vertreter interessierte sich wenig für historische Themen. Er warf der MLPD vor, sich nicht genügend von der »bürgerlichen Führung in den Arbeiter*innenparteien und DGB-Gewerkschaften« abzugrenzen. Beide Referenten hatten ihre Unterstützer*innen im Publikum.

Zu kurz kam in der Debatte der Historiker Ewgeniy Kasakow, der Erhellendes beizutragen hatte: So konnte er mit Zitaten nachweisen, dass Stalin tatsächlich in vielen Fragen genau die Positionen vertrat, die manche seiner Verteidiger*innen an anderer Stelle als Revisionismus brandmarken.

Die Diskussion verschaffte den Eindruck einer Zeitreise in die frühen 1970er Jahre. Damals stritten sich in kommunistischen Aufbauorganisationen meist junge Akademiker*innen intensiv darüber, wann der Revisionismus in der Arbeiter*innenbewegung begonnen hatte. Die Frage bleibt, was solche Debatten zu einer Erneuerung der gesellschaftlichen Linken heute beitragen. Es blieb auch offen, warum ausgerechnet die beiden Vertreter von Spartakist und MLPD eingeladen wurden. Vielleicht sollte so wirklich eine Debatte der sich widersprechenden Strömungen ausgetragen werden? Oder aber es ging um den Unterhaltungswert, den die Diskussion zweifellos hatte. So bleibt das ernüchternde Fazit, dass die Konferenz eine Spielart des Seminarmarxismus war, die an den Problemen für eine aktuelle gesellschaftliche Linke vorbeigeht. Peter Nowak

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