Toni Andreß: Das postkapitalistische Manifest Wie wir unsere Wirtschafts- und Umweltkrisen lösen können Oekom Verlag, München 2023 522 Seiten, 36 Euro ISBN 978-3-98726-008-7

Marktwirtschaft ohne Kapitalismus?

Ein Wirtschaftsprogramm mit einigen nützlichen Reformen, aber kein Ausweg aus den Krisen. Doch wer sollte es umsetzen? Andreß sollte vielleicht bei der neuen Partei „Bündnis Sahra Wagenknecht“ nachfragen, die auch einen Reformkapitalismus propagiert. Dort wäre ein solches Konzept, wie es Andreß vertritt, schon ein Fortschritt.

Wenn ich in einem Vortrag ständig die Vorsilbe „post“ höre, rufe ich meinen Freund Hartmut an. Der ist Briefzusteller und kennt sich zumindest in einem wichtigen Teilbereich der Post aus. Natürlich weiß ich, dass der Kalauer schon abgegriffen ist. Trotzdem reagiere ich eher allergisch auf Wortzusammensetzungen, die mit dem Vorsatz „Post-“ beginnen. Deshalb habe ich auch das umfangreiche Kompendium erstmal ins Regal gestellt, das mir unter dem Titel „Das postkapitalistische Manifest“ zugesandt wurde. Zumal mich auch der Untertitel nicht zur schnellen Lektüre anspornte. Er lautet: …

… „Wie wir unsere Wirtschafts- und Umweltkrisen lösen können“. Das ist mir erstmal suspekt, denn ich denke, wenn es diese Lösungen gibt, warum werden sie nicht überall propagiert? Was ist mit „unseren Wirtschafts- und Umweltkrisen“ überhaupt gemeint? Die Krise des Kapitals, die der kapitalistischen Gesellschaften – oder wirklich aller Menschen, die heute auf der Erde leben?

Der Text auf der Rückseite des Buches gibt Aufklärung. „Unsere Gesellschaft leidet durch stete Wirtschafts- und Umweltkrisen an der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Das bringt unsere Welt an die Grenzen“, heißt es dort. Hier wird ein Gegensatz zwischen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung und der Gesellschaft hergestellt. Damit knüpft das Buch an Diskussionen an, wie sie in vielen Nichtregierungsorganisationen und ihrem politischen Umfeld schon lange geführt werden.

Begeistert von der Freiwirtschaftslehre

In dem kurzen Vorwort wird dann klar, was der Autor, der Ökonom Toni Andreß, als Alternative anbietet: die mehr als hundert Jahre alte Freiwirtschaftslehre von Silvio Gesell, dem ein Kapitalismus ohne Zinsen vorschwebte. Andreß beschreibt seine Hinwendung zu diesem Ansatz so: „Nach längerer Recherche entfachte im Jahr 2001 der Artikel ‚Das System des dynamischen Geldes‘ eine Flamme der Hoffnung in mir. Er thematisierte die Idee der Freiwirtschaftslehre, die das Zinssystem grundlegend infrage stellt. Fortan durchforstete ich Bücher und unzählige Medien, die sich mit der Volkswirtschaftslehre und insbesondere mit dem Kapitalismus beschäftigten. Schließlich wurde ich von der Idee des Postkapitalismus im Sinne einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft ohne Kapitalismus ergriffen, die ich gerne mit Ihnen teilen würde.“

In diesen wenigen Sätzen wird der Inhalt der folgenden knapp 300 Seiten gut beschrieben. Weitere 200 Seiten nehmen der umfangreiche Quellenapparat und ein ausführliches Stichwortregister ein.

Andreß nimmt es als Tatsache, dass eine Marktwirtschaft ohne Kapitalismus möglich und wünschenswert für eine emanzipative Gesellschaft ist. Auf die jahrzehntelange Diskussion über eine sozialistische Marktwirtschaft und die Versuche, sie in verschiedenen Teilen der Welt wie etwa in Kuba umzusetzen, geht der Autor nicht ein. Überhaupt führt er keine argumentative Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Ansätzen. Dass zeigt sich schon daran, dass Karl Marx, der eine wissenschaftliche Kapitalismuskritik lieferte, im umfangreichen Register nur zweimal erwähnt wird, und dann immer negativ. „Leider fand der Geist von Silvio Gesell im Gegensatz zu Karl Marx wenig Beachtung“, heißt es an einer der beiden Fundstellen.

Völkische Hintergründe ausgeblendet

Und so findet sich auch kein kritisches Wort über Silvio Gesell in dem Buch. Ignoriert wird etwa Gesells Nähe zur völkischen Bewegung. So verweist der Historiker Udo Kissenkoetter auf Veranstaltungen der antisemitischen Deutschsozialistischen Partei (DSP) in den 1920er Jahren, bei denen sowohl das frühe NSDAP-Mitglied Gottfried Feder als auch Silvio Gesell als Hauptreferenten und Konkurrenten im Kampf um eine Finanzpolitik der völkischen Bewegung auftraten. Diese Auseinandersetzung in der frühfaschistischen Bewegung wurde auf einem NSDAP-Treffen in Linz zugunsten der Grundsätze von Gottfried Feder entschieden.

Bis heute ist in der Forschung umstritten, ob die Forderung nach „Brechung der Zinsknechtschaft“, eine zentrale Forderung im 25-Punkte-Programm der NSDAP, auf Gesells Freiwirtschaftslehre zurückgeht. Stimmen, die Gesell verteidigen, verweisen auf einen Artikel im NSDAP-Organ „Völkischer Beobachter“, in dem Gottfried Feder 1923 schrieb, die „restlose Ablehnung und wissenschaftliche Erledigung der Gesellschen ‚Irrlehre‘“ könne „als Gemeingut des Nationalsozialismus angesehen werden“. Trotzdem versuchten auch danach bekannte Anhänger von Gesell, ihre Wirtschaftsideen in die NSDAP hineinzutragen. Darüber findet man in dem Buch kein Wort.

Lexikon der Umweltgefahren

Im größten Teil des Buches werden reale Probleme des real existierenden Kapitalismus benannt und analysiert. Von Treibhausgasen über Ozon und Chlor bis zu Radionukliden reichen die Stichworte, unter denen wichtige Umweltprobleme gut lesbar behandelt werden. Hier erreicht das Buch einen besonderen Mehrwert und informiert in leicht verständlicher Sprache kurz und knapp über sehr unterschiedliche Gefährdungen von Umwelt und Gesundheit. Quellen und weitere Informationen werden mitgeliefert.

Allerdings findet man auch eine teilweise naiv zu nennende Technikbejahung, wenn beispielsweise von einer Zukunft geschwärmt wird, in der In-vitro-Fleisch durch 3D-Druck in kurzer Zeit hergestellt werden kann, oder wenn das Ausbringen von Pflanzenschutzmitteln durch Drohnen als großer Beitrag für den Umweltschutz beschrieben wird. „Eine weitere sehr erfolgversprechende Technologie könnte die sogenannte Genschere Cas9 sein, mit der die DNA-Bausteine umgebaut und entfernt werden können“, schreibt Andreß. Die kritischen Stimmen auch von Bäuerinnen und Bauern gegenüber Crispr-Cas und neuer Gentechnik werden hier ebenfalls überhaupt nicht erwähnt.

Zwar ist es begrüßenswert, einer allgemeinen Technikfeindlichkeit, wie sie in Teilen der ökologischen Bewegung zu finden ist, zu widersprechen. Genauso wichtig ist es aber, immer sehr genau zu fragen, welche Technik in einer Gesellschaft gebraucht wird, in der nicht mehr das Profitinteresse an erster Stelle steht. Erfreulich ist allerdings, dass Andreß sowohl die Nutzung der Atomkraft in AKWs als auch die Atombombenproduktion als einen wichtigen Treiber für die Schädigung der Umwelt ablehnt.

Ausgearbeitetes Reformkonzept

Andreß kombiniert Gedanken aus der Freiwirtschaftslehre mit Grundgedanken des Keynesianismus, also einer Wirtschaftsvorstellung, die staatliche Eingriffe in die Marktwirtschaft befürwortet. Dadurch hat sein Konzept eine soziale Komponente. Im Schlusswort bezieht sich Andreß auch auf den anarchistischen Theoretiker David Graeber und den marxistischen Soziologen Hans-Jürgen Krysmanski. Einen Ausweg aus dem Kapitalismus bietet Andreß mit seinem Manifest sicher nicht, diesen Anspruch hat er auch nicht. Es ist ein ausgearbeitetes Reformkonzept, das sicher auch einige Verbesserungen für einkommensarme Menschen und Lohnabhängige bringen würde. Doch wer sollte es umsetzen? Andreß sollte vielleicht bei der neuen Partei „Bündnis Sahra Wagenknecht“ nachfragen, die auch einen Reformkapitalismus propagiert. Dort wäre ein solches Konzept, wie es Andreß vertritt, schon ein Fortschritt.

Peter Nowak