Auf das Scheitern der Hartz-IV-Proteste folgte der Aufstieg der Rechten. Zulauf bekamen nun Pegida und AfD. Noch fehlen Rezepte für eine Trendwende. Ein Kommentar.

Sozialer Sprengstoff und die Gefahr seiner Entladung nach rechts

So bleiben die Erinnerungen an den 1. November 2003 zwiespältig. Obwohl so viele Menschen protestierten, gelang es nicht, genügend Druck auf Regierung und Kapital auszuüben, um eine Rücknahme der Agenda 2010 zu erreichen. Es ist nicht gelungen, einen alltäglichen Widerstand zu etablieren. Vor allem ist es nicht gelungen, die organisierten Lohnabhängigen in den Kampf einzubinden, wie es in Frankreich immer wieder gelungen ist.

Am heutigen 1. November treffen sich im Mieterladen in Berlin-Neukölln Aktivisten, die vor 20 Jahren die Großdemonstration gegen Sozialabbauvorbereitet haben. Es dürfte bundesweit die einzige Veranstaltung sein, die an diese Demonstration erinnert. Tatsächlich ragt sie allein schon durch ihre Teilnehmerzahl aus der Fülle der damaligen Protestaktionen heraus. Mit rund …

… 100.000 Menschen hatte niemand gerechnet. Zumal viele im Vorfeld sogar davon abgeraten hatten. Eine bundesweite Demonstration könne nur ein Flop werden, warnten viele. Liest man Texte aus dieser Zeit, dann muss damals in Teilen der Bevölkerung eine ähnliche Stimmung geherrscht haben wie heute:

„Die Unzufriedenheit mit der Politik der Bundesregierung ist unserer Ansicht nach konstant auf hohem Niveau. Kaum jemand glaubt, dass die Maßnahmen der Bundesregierung für den Arbeitsmarkt oder im Gesundheitswesen die Probleme lösen werden, welche die Regierung vorgibt zu lösen.

Es ist unsere Ansicht nach deshalb falsch, von allgemeiner Resignation oder von neoliberaler Hegemonie in den Köpfen zu sprechen, sondern eher von einer Krise der Repräsentanz der Unzufriedenen und mangelnder Vernetzung und Organisierung des Widerstands von unten.“

Diese Sätze könnten die aktuelle politische Situation in Deutschland sehr gut beschreiben. Doch sie sind gut 20 Jahre alt. Der Absatz stammt aber aus einem Diskussionspapier der Sommerakademie der globalisierungskritischen Organisation Attac im August 2003. Überschrift: „Warum wir eine bundesweite Demonstration brauchen“.

Mobilisiert wurde damit zu jenem Protest gegen Sozialabbau am 1. November 2003 in Berlin, dessen Teilnehmerzahl alle Erwartungen übertraf. Selbst die größten Optimist:innen hätten nicht mit dieser Resonanz gerechnet.

Noch am Tag der Demonstration übte sich Mag Wompel von der Plattform labournet.de in einem Kommentar in der jungen Welt in Bescheidenheit. „Heute werden hoffentlich Zehntausende Menschen in Berlin auf der Straße sein. Das erlaubt diese Demonstration schon im Vorfeld als einen Erfolg zu bezeichnen, weil sie gegen viele Widerstände zustande kam.“

DGB setzte auf Standortlogik statt Klassenkampf

Zu den Hindernissen gehörte eine von SPD und Grünen getragene Bundesregierung, die mit der Agenda 2010 einen massiven Angriff auf die abhängig Beschäftigten startete, den die Konservativen in Regierungsverantwortung wohl nicht gewagt hätten. Denn nur die SPD konnte dafür sorgen, dass der DGB und seine Einzelgewerkschaften jede grundsätzliche Mobilisierung gegen die Agenda-Politik ablehnten.

Da 1998 auch viele Linke mit der Ablösung der Kohl-Regierung durch eine SPD/Grünen-Regierung Hoffnungen auf Reformen verbanden, die das Leben der Lohnabhängigen zumindest punktuell verbessern würden, war die Enttäuschung umso größer, als unter „Rot-Grün“ eine Politik im Interesse des Kapitals sogar noch forciert wurde.

Das war der Grund für die Resignation in weiten Kreisen der Bevölkerung. Dagegen wollte das Demobündnis ankämpfen. „Um nicht in der Hilflosigkeit gegenüber dem Klassenkampf von oben stecken zu bleiben, müssen wir erste Zeichen setzen, die aufzeigen, dass es auch anders geht, als sich anzupassen oder passiv zu bleiben“, hieß es im schon erwähnten Attac-Papier.

Die unerwartet hohe Zahl der Protestierenden zeigte, dass die Organisatoren die Stimmung in Teilen der Bevölkerung richtig eingeschätzt hatten. Langjährige SPD-Wähler, aber auch viele Mitglieder und Wähler der Grünen und der DGB-Gewerkschaften, sind vor 20 Jahren in Berlin auf der Straße gegangen und haben damit einen Protestzyklus eingeleitet.

Der 1. November 2023 gehörte zur Vorgeschichte der Montagsdemonstrationen, die im Sommer 2004 dezentral vor allem im Osten der Republik für Aufsehen sorgte. Doch die „rot-grüne“ Regierung ignorierte diese Proteste – und das Hartz IV-Regime konnte nicht verhindert werden. Auch davor hatte Mag Wompel im erwähnten jW-Kommentar gewarnt: „Auch wenn wir wissen, dass selbst Hunderttausende auf den Straßen die Regierung nicht beeindrucken würden“.

Schließlich war die Agenda 2010 ein von allen Kapitalfraktionen vorangetriebenes Programm zur Verbilligung der Ware Arbeitskraft. Sie durchzusetzen war ein wichtiges Ziel des Klassenkampfs von oben. Das Kapital hat diesen Kampf gewonnen. Es war eine Kampfansage nicht nur an die Erwerbslosen, sondern an alle Lohnabhängigen.

Nach der Niederlage kam der Aufstieg der Rechten

Das Scheitern der Protestbewegung hat bei vielen Menschen weitere Frustration ausgelöst. Dies war eine der Grundlagen für den Aufstieg der Rechtspopulisten in Deutschland und vielen EU-Ländern. Denn auch dort fanden zeitversetzt in den Jahren 2010 bis 2015 Kämpfe gegen die EU-Austeritätspolitik statt, die sich an der Agenda-Politik in Deutschland orientierte. Sie sorgte für Lohndumping im gesamten EU-Raum.

So bleiben die Erinnerungen an den 1. November 2003 zwiespältig. Obwohl so viele Menschen protestierten, gelang es nicht, genügend Druck auf Regierung und Kapital auszuüben, um eine Rücknahme der Agenda 2010 zu erreichen. Es ist nicht gelungen, einen alltäglichen Widerstand zu etablieren. Vor allem ist es nicht gelungen, die organisierten Lohnabhängigen in den Kampf einzubinden, wie es in Frankreich immer wieder gelungen ist.

Ein Arbeitskampf gegen die Einführung der Agenda-Politik war in Deutschland undenkbar. Dafür sorgte nicht nur die Illegalisierung des politischen Streiks. Dafür sorgte auch eine DGB-Führung, die in der Selbstorganisation der Lohnabhängigen eine Gefahr sah. So konnte die Einführung der Agenda 2010 trotz guter Ansätze der Linken in Deutschland nicht verhindert werden.

Trotz dieser Niederlage zeigt die Massendemonstration vom 1. November 2003, dass es auch in Zeiten der Defensive möglich ist, große Proteste zur Verteidigung sozialer Rechte zu organisieren. Daran sollten wir uns 20 Jahre später nicht nur aus historischen Gründen erinnern. Es stellt sich die Frage nach einer Organisationsform, die es ermöglicht, Sozialproteste zum Erfolg zu führen. Dafür reicht eine Massendemonstration nicht aus, auch das ist eine Lehre des 1. November 2003.

Aufstieg und Fall der Wahlalternative Arbeit & soziale Gerechtigkeit

Die Demonstration am 1. November 2003 wurde ohne Parteien und Großorganisationen vorbereitet. Als die Proteste bereits abflauten, wurde die Wahlalternative Arbeit & soziale Gerechtigkeit (WASG) gegründet, die sich später mit der PDS zur heutigen Partei Die Linke zusammenschloss.

Heute ist diese Partei gespalten: Ein Teil der WASG-Gründer ist jetzt im Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) aktiv. Schon wenige Jahre nach dem Abflauen der Sozialproteste hatten sich die rechten Pegida-Proteste formiert, an denen sich auch Menschen beteiligten, die am 1. November 2003 auf der Straße gewesen waren. Nun gaben sie Schwächeren die Schuld an einem Großteil der Missstände – Geflüchteten und Asylsuchenden.

Die Niederlage und die fehlende Verankerung linker Organisationen an der Basis hatten dazu geführt. Eine solche Verankerung fehlt bis heute. Der soziale Sprengstoff ist durch die Inflation nicht weniger geworden – im Gegenteil – und rechte Parteien warten nur darauf, aus der Frustration Kapital zu schlagen. Die Frage, was auf kurzfristige Massenmobilisierungen gegen weiteren Sozialabbau folgen muss, ist jedoch weiterhin unbeantwortet.

(Peter Nowak)