Arbeiten gehen mit Corona?

Klassenfrage Krankschreibung

Aber längst schon schleppen sich Menschen wieder krank zur Arbeit, weil sie Angst vor Sanktionierungen bis hin zur Entlassung haben – wovon naturgemäß diejenigen mit den schlechtesten Arbeitsverträgen und den härtesten Arbeitsbedingungen am stärksten betroffen sind. So wird klar: Auch der Zugang zur Krankschreibung ist eine Klassenfrage

Seit dem 1. März 2023 müssen Lohnabhängige auch dann zur Arbeit kommen, wenn sie positiv auf das Coronavirus getestet wurden, aber keine Symptome haben. »Grundsätzlich kommt es bei der Anwesenheitspflicht trotz einer Corona-Infektion auf die Vorgaben des Arbeitgebers an. Laut Gesundheitsministerium können Arbeitgeber nun selbst festlegen, welche Maßnahmen zum Infektionsschutz am Arbeitsplatz eingehalten werden müssen«, schreibt Viktoria Gerg in der wirtschaftsnahen Online-Zeitung »ka-news«. Seit einem halben Jahr ist die kapitalistische Ordnung an den Arbeitsplätzen in Deutschland …

… also wiederhergestellt; das Kapital entscheidet wieder sehr viel uneingeschränkter über die Gesundheit derer, die gezwungen sind, hierzulande ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Dies ist wahrlich nichts Neues. Seit Jahrhunderten sind die Arbeiter*innen durch ungesunde Arbeitsbedingungen in den Bergwerken, der Chemieindustrie, aber auch an vielen anderen Arbeitsplätzen krank geworden. Viele schufteten sich buchstäblich zu Tode und starben jung.

Der Arbeitswissenschaftler Wolfgang Hien schreibt darüber sehr eindringlich in seinem Buch »Die Arbeit des Körpers von der Hochindustrialisierung bis zur neoliberalen Gegenwart«, das jüngst in einer Neuauflage im Mandelbaum-Verlag erschienen ist. Darin informiert er auch über die Arbeiter*innengesundheitsbewegung, die in den 1960er Jahren in Italien entstand und auch in der BRD auf Unterstützung stieß. Ihre Devise lautete, dass die Lohnabhängigen über ihre Gesundheit selbst bestimmen und nicht mehr die Bosse oder ihnen nahestehenden Ärzt*innen und Expert*innen. Ausgangspunkt der Bewegung war der Kampf gegen gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen vor allem in der Chemieindustrie; in den 1970er und 1980er Jahren organisierten sich auch Arbeiter*innen in anderen Branchen gegen diese Zustände. In Deutschland arbeiteten in dem – auch von Wolfgang Hien mit aufgebauten – Netzwerk Arbeit und Gesundheit Betriebslinke mit engagierten Mediziner*innen zusammen. Mit dem endgültigen Übergang zum Neoliberalismus in den 1990er Jahren wurde das dort gesammelte Wissen allerdings zu großen Teilen verschüttet.

In Zeiten der Covid-Pandemie schien nun das Bewusstsein über die Bedeutung der eigenen Gesundheit und deren Abhängigkeit von »Arbeitgeber*innen« in der Bevölkerung wieder gewachsen zu sein. Aber längst schon schleppen sich Menschen wieder krank zur Arbeit, weil sie Angst vor Sanktionierungen bis hin zur Entlassung haben – wovon naturgemäß diejenigen mit den schlechtesten Arbeitsverträgen und den härtesten Arbeitsbedingungen am stärksten betroffen sind. So wird klar: Auch der Zugang zur Krankschreibung ist eine Klassenfrage. Und umgekehrt kann der Akt, die eigene Gesundheit dennoch wichtiger zu nehmen als die Lohnarbeit, auch eine Form des Klassenkampfs sein. Peter Nowak

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