»Wir schützen Kinder – wer schützt uns?« Transparente mit diesen Parolen waren am 8. Februar vor dem Roten Rathaus in Berlin zu sehen. Dort schlugen Sozialarbeiter:innen aus verschiedenen Jugendämtern Alarm. Sie wehrten sich gegen unzumutbare Arbeitsbedingungen. Die Notdienste mit ihren Krisenplätzen verzeichnen teilweise eine Überbelegung von fast 100 Prozent. Tausenden Jugendlichen kann auch in kritischen Situationen nicht angemessen geholfen werden, weil das Hilfesystem überlastet ist. Die Hauptstadt kann die gesetzlichen Verpflichtungen der Kinder- und Jugendhilfe immer seltener erfüllen. Das war die Klage der Sozialarbeiter:innen, …
… und es war nicht das erste Mal.
»Wir Beschäftigte in der Sozialen Arbeit sind von den Folgen der sozialen Krise gleich in zweierlei Form betroffen. Wir bekommen mit, wie Menschen, die wir unterstützen, zu Es- senstafeln gehen müssen, weil das Geld für den Einkauf nicht mehr reicht. Wir bekommen aber auch selber die Folgen der Kürzungs- und Sparpolitik zu spüren«, sagt Clemens. Er ist aktiv im Solidaritätsreff Soziale Arbeit im Kapitalismus, der sich seit drei Jahren im Kiezhaus Agnes Reinhold im Berliner Stadtteil Wedding trifft. Das nach einer Frühsozialistin benannte Kiezhaus wurde von der Stadtteilinitiative »Hände weg vom Wedding« gegründet. Es ist ein Ort für Nachbarschaftsaktivitäten, aber auch für Kämpfe in der Arbeitswelt. In den letzten Jahren haben sich dort aktive Menschen aus unterschiedlichen Arbeitsfeldern, oft auch sol- chen, in denen Kämpfe liefen, getroffen, haben sich dort beraten und auch mit anderen Kol- leg:innen koordiniert. Denn an den Arbeitsplätzen fehlen häufig Räume, in denen sich Be- schäftige unabhängig von den Chefs treffen und koordinieren können. Hier bekommen Orte wie das Kiezhaus eine wichtige Bedeutung.
Selbstorganisierung in der Sozialen Arbeit
Doch der Sozialtreff für Sozialarbeiter:innen hat eine besondere Bedeutung: Hier nutzen Sozialarbeiter:innen aus ganz Berlin nicht nur eine Örtlichkeit für ihren Austausch und die Vorbereitung von Aktionen. Hier geht es um eine Organisierung von Beschäftigten. »Der Solidaritätstreff Soziale Arbeit ist eine Folge der Feststellung, dass viele von uns selbst im sozialen Bereich beschäftigt sind. Einige von uns sind bereits seit Jahren politisch aktiv, haben aber ihre eigenen (prekären) Lohnarbeitsverhältnisse bisher kaum in den Blick genommen«, erklärt Marc, einer der Mitbegründer des Sozialtreffs. Betriebsrat, Betriebsgruppe oder gar gewerkschaftliche Organisierung – solche Formen seien auch in großen Teilen der außerparlamentarischen Linken wenig populär oder gar nicht bekannt gewesen. Viele radikale Linke sahen ihren Arbeitsplatz nicht als Kampfplatz für politische Veränderungen. Vielmehr trennten sie die Lohnarbeit von der politischen Arbeit. Das wollen Initiativen wie »Hände weg vom Wedding« ändern. Sie gehen von dem Prinzip aus, dass sich Linke dort organisieren sollen, wo sie leben und auch, wo sie arbeiten. Von dieser Überlegung ist der Solidaritätstreff Soziale Arbeit geprägt. »Schließlich bedeutet Lohnarbeit immer noch Ausbeutung, auch im sozialen Bereich. Wenn wir derzeit noch einen großen Teil unseres Lebens für den Verkauf unserer Arbeitskraft opfern müssen, sollen wir auch gefälligst davon besser leben«, benennt Marc den Grundsatz des Solidaritätstreffs. Geworben wurde mit Flyern und auch über Mund-zu-Mund-Propaganda. Zu den monatlichen Treffen kommen ca. 30 bis 40 Menschen aus unterschiedlichen Bereichen der Sozialarbeit. Viel Raum wird den Erfahrungen der Kolleg:innen gegeben. Eine Sozialarbeiterin berichtet, wie sie überrascht feststellen musste, dass sie zu niedrig eingestuft wurde und daher zu wenig Lohn bekam, weil ihr Chef aus Unkenntnis nicht genügend Geld für ihren Lohn beantragt hatte. Sie selbst habe sich darüber erst durch den Sozialtreff infor- miert. Sie sieht das Treffen als Informationsaustausch, aber auch als Ermutigung für ihre Aus- einandersetzung mit dem Chef.
Soziale Arbeit – unverwertbar?
Ein anderer Sozialarbeiter und Betriebsrat berichtet vom langwierigen Kampf mit dem Chef um jede noch so kleine Verbesserung. Auch er holt sich bei den monatlichen Treffen Anregung und Unterstützung.
Schließlich hatte das erste Treffen des Solidaritätstreffs im Februar 2020 das Oberthema »Betriebsratsarbeit in der Sozialen Arbeit«. Kurz nach seiner Gründung waren wegen der Corona-Pandemie öffentliche Treffen nicht möglich. Doch für die junge Initiative bedeutete der Lockdown nicht das Ende der politischen Arbeit. In dieser Zeit erstellte sie eine 45-seitige »Handreichung für betriebliche Organisierung in der Sozialen Arbeit«, die mittlerweile in zweiter Auflage erschienen ist und auch online abgerufen werden kann.1 Dort wird kritisch auf die Rolle der Sozialarbeit im Kapitalismus eingegangen. Möglichkeiten und Grenzen betrieblicher Mitbestimmung in der Sozialen Arbeit werden erörtert. Einen großen Raum in der Broschüre nimmt die Frage ein, wie sich Sozialarbeiter:innen an ihrem Arbeitsplatz gewerkschaftlich organisieren können. »Wenn wir unsere Arbeitsbedingungen substanziell verbes- sern wollen, müssen wir den gewerkschaftlichen Organisationsgrad in der Sozialen Arbeit deutlich erhöhen. Daher motivieren wir Kolleg:innen, in die Gewerkschaften einzutreten«, betont Marc.
Unterstützung der Tarifkämpfe
Das wird bei den anstehenden Tarifkämpfen noch eine besondere Bedeutung bekommen. »Auch wenn der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen (TVöD) für uns als Sozialarbeitende in Berlin nicht angewendet wird, sondern der TV-L, blicken wir erwartungsvoll und solidarisch auf die anstehende Tarifrunde. Der TV-L wird erst im Herbst dieses Jahres verhandelt. Es ist davon auszugehen, dass die anstehenden TVöD Verhandlun- gen hierfür eine richtungsweisende Wirkung einnehmen werden«, betont Marc. Die Tarifverhandlungen für den TVöD haben bereits begonnen. Die erste Verhandlungsrunde am 24. Ja- nuar wurde ohne Ergebnis beendet. Der nächste Verhandlungstermin ist der 22. und 23. Februar (nach Redaktionsschluss, Anm. d. Red.), dann soll nochmal eine Runde im März folgen. Der TV-L wird im Herbst verhandelt.
Der TVöD ist der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen. In den meisten Bundesländern sind Kitas, Horte, Jugendämter – im Grunde der gesamte soziale Bereich – Sache der Kommunen, soweit es sich nicht um kirchliche Träger handelt, für die kein Tarifvertrag gilt. Berlin hingegen ist ein Stadtstaat, hier gibt es keine gesonderten Kommunen und keine Kommunalverwaltung, daher gilt in Berlin das Tarifrecht der Länder. Der maßgebende Tarifvertrag für den sozialen Bereich ist in Berlin daher der TV-L und nicht der TVöD. Die Aktivist:innen des Solidaritätstreffs wollen in der aktuellen TVöD-Tarifrunde beobachten, wie die Gegenseite in den Verhandlungen argumentiert, um dann im Herbst gestärkt in die Verhandlungen um den TV-L zu gehen. Wichtig ist für sie der betriebs- und branchenübergreifende Zusammenschluss, um eine größere Schlagkraft zu entwickeln. »In der Sozialen Arbeit sind die Arbeitsbedingungen ohnehin so prekär, dass wir aktuell dafür kämpfen müssen, dass in Betrieben überhaupt Tarifverträge angewendet werden«, erinnert Marc an die aktuelle Situation in der Sozialen Arbeit, wo der gewerkschaftliche Organisierungsgrad gering ist (Sebastian Ulfik schätzt 2020 einen Organisationsgrad von 20 bis 30 Prozent, Anm. d. Red.2). Das will der Solidaritätstreff ändern. Er ist somit auch ein Laboratorium für Solidarität in der Sozialen Arbeit mit Ausstrahlung. Anfragen aus anderen Städten haben die Akti vist:innen schon bekommen.
* Peter Nowak ist Journalist und Aktivist.
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https://www.labournet.de/express/