In diesem Jahr ist die Frankfurter Schule endgültig in die Geschichte von Westdeutschland eingemeindet. Das zeigte sich an den Gratulant:innen zum 100sten Geburtstag des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt. Nun lässt sich nicht behaupten, dass die bekannten Köpfe der Frankfurter Schule Theodor W. Adorno und Max Horkheimer vernehmbar gegen solche staatlichen Vereinnahmungsstrategien protestiert hätten. Zumindest in den letzten 20 Jahren gaben sie sich schließlich eher staatstragend. Das zeigte sich spätestens, als Adorno 1968 die polizeiliche Räumung seines von Studierenden besetzten Instituts veranlasste und auch später die Anzeige gegen einen der Besetzer, …
… Hans-Jürgen Krahl, wegen Hausfriedensbruchs nicht zurückzog. Dabei hatte Krahl vorher ein besonders enges Verhältnis zu Adorno, den er auch zum Betreuer seiner Doktorarbeit wählte, die er wegen seines Unfalltods nicht mehr vollen- den konnte.
Am 14. Februar 1970 war das Fahrzeug, in dem der 27-jährige Hans-Jürgen Krahl auf dem Beifahrersitz saß, auf eisglatter Straße auf einer nordhessischen Bundesstraße gegen einen Lastwagen geprallt. Krahl war sofort tot, der Fahrer starb wenig später im Krankenhaus. Drei weitere Wageninsassen überlebten schwerverletzt. Sie waren auf der Rückfahrt von einem politischen Treffen. Schließlich gehörten Diskussionen über Strategie und Taktik revolutionärer Politik neben dem Verfassen von philosophischen und politikökonomischen Texten zu zentralen Beschäftigungen im kurzen Leben von Krahl. Er hatte keinen festen Wohnsitz, übernachtete bei Freund:innen und Bekannten, war immer unterwegs zu Veranstaltungen und Diskussionen und verfasste Texte zum Verhältnis von Arbeiterklasse und Intelligenz. Wenige Wochen nach seinem plötzlichen Unfalltod gab Oskar Negt eine Anzeige in SDS-Medien auf, in der er nach den verstreuten Manuskripten mit Ausarbeitungen und Tonbändern mit Reden von Krahl suchte. Daraus entstand 1971 der Sammelband »Konstitution und Klassenkampf«, der für kurze Zeit viel gelesen wurde. 1973 gab der marxistische Soziologe Helmut Reinicke in der Reihe »Internationale Marxistische Diskussion« des Merve-Verlags eine 70-seitige Broschüre unter dem knappen Titel »Für Krahl« heraus. Ausgehend von den sehr hermeti- schen Texten in »Konstitution und Klassenkampf« verfasste Reinicke eine Art Leitfaden, in dem er formulierte, was davon er für die weitere linke Debatte für brauchbar hielt. Doch da- mals begann schon die Ära der sogenannten K-Gruppen, verschiedener kommunistischer Kleinstparteien, die im Wesentlichen die KPD-Tradition der 1920er Jahre nachspielten und bald scheiterten. Für die offene theoretische Diskussion, für die Krahl stand, war wenig Raum. Auch deshalb geriet der politische Theoretiker Krahl weitgehend in Vergessenheit.
Dem wollen die Herausgeber:innen des Sammelbandes mit dem programmatischen Titel »Für Hans-Jürgen Krahl« entgegenwirken. In der Einleitung rekapitulieren die Herausgeber:innen die Biographie von Krahl, der seine politische Arbeit beim völkischen Ludendorff-Bund begann. Als er ihn 1961 verließ und die Junge Union (JU) im niedersächsischen Alfeld mitbegründete, sei das schon ein »enormer Schritt zur Aufklärung« gewesen, wie sich Krahl in einer Prozesserklärung selbst bescheinigte. An seinem ersten Studienort Göttingen trat Krahl in den SDS ein. In Frankfurt wurde er dann zum Theoretiker der Organisation, als der er bekannt wurde. Seiner Auseinandersetzung mit seinem Doktorvater widmen sich mehrere der 15 Aufsätze in dem Sammelband. »Kurz vor der Praxis wieder in die Theorie« heißt der Beitrag von Meike Gerber über das Spannungsverhältnis von Kritischer Theorie und Praxis. Gerber stellt ihrem Beitrag ein Zitat von Krahl voran: »Als wir […] das Konzil der Frankfurter Universität belagerten, kam als einziger Professor Herr Adorno zu den Studenten zum Sitin. Er wurde mit Ovationen überschüttet, lief schnurstracks auf das Mikrofon zu und bog kurz vor dem Mikrofon ins Philosophische Seminar ab, also kurz vor der Praxis wieder in die Theorie«.
Das Verhältnis von Theorie und Praxis kann als roter Faden zwischen den sehr unter- schiedlichen Aufsätzen im Buch verstanden werden. Während Adorno revolutionäre Praxis für unmöglich hielt, stellte sich mit Herbert Marcuse ein wichtiger Exponent der Frankfurter Schule auf die Seite der Protestbewegung. Auch die Marcuse-Schülerin Angela Davis wird in dem Buch als eine der Vertreterinnen des antiautoritären Marxismus in den USA vorgestellt, deren theoretische Arbeiten in den USA lange Zeit ebenso ignoriert worden seien wie die Texte von Krahl in Deutschland. Dass Krahl lange Zeit fast vergessen war, lag auch daran, dass sein Tod in die Zeit der Auflösungserscheinungen der Student:innenbewegung fiel. Am Rande seiner Beerdigung wurden die Modalitäten für die offizielle Auflösung des SDS beraten. Die Fraktionierung in diverse kommunistische Kleinstparteien, die die KPD der 1920er Jahre aufleben ließen, hat Krahl theoretisch immer bekämpft, wie in verschiedenen Texten im Buch deutlich wird. Andreas George und Samuel Denner analysieren in ihrem Beitrag, wie sich Krahl mit der veränderten Rolle der Intelligenz in der Gesellschaft beschäftigte und daraus eine neue Klassentheorie erarbeiten wollte. Ein zentrales Thema seiner nachgelassenen, überwiegend fragmentarischen Schriften war die Organisationsfrage, mit der sich Robin Mohan in seinem Text beschäftigt. Er schreibt, dass wir heute, 50 Jahre nach Krahls Tod, dringender denn je nach einer politischen Organisation auf der Höhe der Zeit suchen müssen. Dabei können wir in den oft fragmentarischen Gedanken des antiautoritären Marxisten Krahl, der in Kreisen der außerparlamentarischen Linken Italiens und Frankreichs schon länger rezi- piert wird, Anregungen finden, wie in zwei Aufsätzen am Ende des Buches nachgezeichnet wird. Tatsächlich hat Krahl in den letzten Jahren vor allem in linken akademischen Kreisen wieder an Bedeutung gewonnen. Schließlich steht er für jenen Teil der Frankfurter Schule, der sich eben nicht vom Staat vereinnahmen ließ. Dadurch wird Krahl vor allem für junge Akademiker:innen interessant, die weiter nach einer Theorie und Praxis jenseits des Kapitalismus suchen. Mitherausgeber Emanuel Kapfinger betont, dass Krahl auch heute für eine neue Perspektive wichtige Impulse liefern könne. Seine Auseinandersetzung über die Veränderungen in der Arbeiterklasse und die Bedeutung der Intelligenz darin ist ebenso aktuell wie seine Kri- tik an stalinistischen Organisationskonzepten. Aber auch eine bestimmte Lesart des Anarchis- mus, wie sie vor 50 Jahren vor allem in der damaligen Bewegung der Spontis zu finden war, lehnte er ab. Sie wollten – berechtigter Reflex gegen die autoritäre K-Gruppen-Linke – gar keine Organisierung, was aber in vielen dieser Gruppen eben nicht zu demokratischeren Strukturen, sondern zu informellen Hierarchien führte (exemplarisch dafür steht der spätere grüne Außenminister Josef Fischer, Anm. d. Red.). Heute gibt es aktuell wieder eine Organisationsdebatte in der außerparlamentarischen Linken, natürlich unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen als vor 50 Jahren. Es ist gut, dass die Herausgeber:innen des Buches Krahl wieder in die Diskussion bringen. Für eine neue linke Organisationsdebatte ist es in diesem Sinne auch interessant, an Organisationsmodelle wie das Sozialistische Büro zu erinnern, das einen Weg jenseits von Stalinismus und Sozialdemokratie suchte. Peter Nowak
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