Anarchist*innen in Russland und in der Ukraine

„Wir werden uns niemals auf die Seite eines Staates stellen“

An der Haltung zum aktuellen Krieg scheiden sich in der anarchistischen Bewegung die Geister. Peter Nowak beleuchtet in seinem Artikel für die Graswurzelrevolution die teils gegensätzlichen Positionen unter russischen und ukrainischen Anarchist*innen anhand einiger markanter Beispiele.

Für Anarchist*innen und Antimilitarist*innen aus Russland ist die Eskalation des Krieges durch den Einmarsch der russischen Armee keine Überraschung. Schließlich kämpfen sie seit Jahren gegen ein repressives kapita- listisches Regime, das jegliche Opposition unterdrückt. Natürlich waren Anarchist*innen und Antimilitarist*innen besonders betroffen. Mit Kriegsbeginn hat sich die Unterdrückung noch weiter verschärft, wie die Bilder von Menschen zeigten, die verhaftet wurden, weil sie Schilder trugen, auf denen sie gegen den Krieg Stellung nahmen. Doch ihr Verhalten zeugt von großer Zivilcourage. Anarchistische Gruppierungen haben trotz …

… verschärfter Gesetze nach dem Einmarsch in die Ukraine zu Protesten und Demonstrationen aufgerufen. Eine der schon länger aktiven russischen anarchistischen Gruppen in Moskau ist „Food not Bombs“, die sich zu Kriegsbeginn mit einer Stellungnahme zu Wort meldete.

„Wir werden uns niemals auf die Seite dieses oder jenes Staates stellen, unsere Flagge ist schwarz, wir sind gegen Grenzen und Trittbrettfahrer-Präsidenten. Wir sind gegen Kriege und die Ermordung von Zivilisten“, heißt es in ihrer Erklärung, in der sie auch auf die Klassenspaltung eingingen, die mit den Kriegen nach außen zementiert werde. „Es gibt Menschen, die nichts zu essen haben und nirgendwo wohnen können, nicht weil es nicht genug Ressourcen für alle gibt, sondern weil sie ungerecht verteilt sind: Jemand hat viele Paläs- te, während andere nicht einmal eine Hütte bekommen haben.“

Spaltungen in der anarchistischen Bewegung der Ukraine

Auch in der Ukraine war die anarchistische Bewegung Repressalien ausgesetzt, allerdings nicht so massiv wie in Russland und Belarus. Viele Libertäre, die in diesen Ländern verfolgt wurden, lebten im Exil in der Ukraine. Zudem hatte sich die libertäre/anarchistische Bewegung in den letzten Jahren ausdiffe- renziert. Nach einer Analyse des Netzwerks Crimethinc begannen die Auseinandersetzungen schon 2014 in Bezug auf das Verhalten bei den Maidan-Protesten. Während ein Teil der anarchistischen Bewegung versuchte, dort libertäre Inhalte einzubringen, lehnten das andere ab, weil sie nicht mit den dort aktiven rechten Gruppen gemeinsam agieren wollten. Auch wenn die Rechte nur eine Minderheit der Demonstrieren- den ausmachte, fand sie viel Akzeptanz im nationalistisch aufgeheizten Klima der Maidan-Ereignisse. Für libertäre Gruppen war es schwer, dort zu agieren.

Diese Ausdifferenzierung der anarchistisch-libertären Szene setzte sich in den folgenden Jahren fort. Laut Crimethinc beteiligte sich eine kleine Gruppe von Anarchisten aus Russland an den Kämpfen des Rechten Sektor mit der Begründung, dass dieser als einzige Kampfstrukturen entwickelt habe. Der ultranationa- listische Rechte Sektor entstand im Zuge der Maidan-Ereignisse 2014, hat enge Kontakte zum staatlichen Apparat und kooperiert mit extremen Rechten in anderen Ländern. Anderer- seits engagierte sich eine kleine Gruppe von Anarchist*innen aus der Ostukraine auch in den so genannten Volksrepubliken. Die von der russischen Staatsmacht unterstützten Entitäten wurden zumindest anfangs von einem Teil der Bevölkerung in der Ostukraine unterstützt.

„Es geht um die Verteidigung unserer Viertel“

Der russische Einmarsch bedeutete auch für die ukrainischen Anarchist*innen eine Zäsur. Eine Kiewer Anarchistin, die Anfang März wie viele andere Menschen nach Deutschland gekommen war, betonte auf einer Veranstaltung in einem autonomen Zentrum in Berlin, dass es jetzt in der Ukraine um Leben und Tod und nicht mehr um theoretische Diskussionen gehe. „Wir verteidigen jetzt wie Tausende Menschen in der Ukraine unsere Städte und Viertel“, erklärte sie. Wenn Libertäre betonten, dass es für sie auch in einer solchen zugespitzten Kriegssituation keinen Grund gäbe, auf den Sieg einer Nation zu setzen und die Nato nicht mehr zu kritisieren, kam die Antwort, das sei aktuell für die Anarchist*innen in der Ukraine nicht das Thema. Für sie gehe es jetzt darum, den Aggressor zu bekämpfen und zu besiegen. Auf die Forderung, Deserteur*innen auf allen Seiten, also auch in der Ukraine, zu unterstützen, kam der Einwand, dass es aktuell dort so viele Freiwillige gäbe, dass niemand zum Kampf gegen die russischen Truppen gezwungen werden müsse. Tatsächlich aber hat die ukrainische Regierung allen männlichen Personen über 18 Jahren verboten, die Ukraine zu verlassen, weil sie eben doch zum militärischen Kampf gezwungen werden.

Wie bei anderen linken Debatten zur ukrainischen Krise spielten gewaltfreie Konzepte des Widerstands gegen einen Aggressor auch in dieser Diskussion keine Rolle. Die ukrainische Journalistin Anastasia Tikhomirova, die unter anderem für die Jungle World schreibt, verwahrte sich in einem Gespräch mit der linken Stuttgarter Initiative „Emanzipation und Frieden“ gegen „pazifistische Ratschläge“, während die russische Armee in der Ukraine schießt; sie fordert sogar ein Eingreifen der Nato. Das zeigt einmal mehr, dass auch bei vielen anti-autoritären Linken Gewaltfreiheit mit Wehrlosigkeit und Kapitulation vor einem Aggressor verwechselt wird. Dabei konnte man in den letzten Tagen sehen, wie Einwohner*innen von Städten, die von der russischen Armee besetzt wurden, vor den Panzern demonstrierten und diese ein- kreisten, sodass sie sich zeitweilig aus der Innenstadt zurückzogen.

Peter Nowak

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