Was wir im Jahr 2022 von einen konsequenten Antimilitarismus lernen können, der Nationalismus auf allen Seiten verurteilt.

Die Waffen nieder auf allen Seiten!

Konsequente Kriegsgegner*innen stellen sich auch heute auf keine Seite. Sie unterstützen vielmehr die Opfer der Kriege auf allen Seiten, beispielsweise Menschen, die aus den Konfliktzonen fliehen. Sie rufen Menschen auf Seien auf, sich nicht für Kriegsdienste zur Verfügung zu stellen und auch der Kriegspropaganda zu widersprechen. Und sie organisieren Solidarität für die Kriegsgegner*innen und Deserteurinnen und Deserteure, die Verfolgung und Repression erleiden müssen. Denn Kriegszeiten sind immer auch Zeiten von besonders starker Verfolgung aller oppositionellen Stimmungen. Zudem kritisieren sie Nationalismus und Chauvinismus auf allen Seiten. Nicht nur in Russland, auch in vielen osteuropäischen NATO-Staaten wurden nationale Identitäten mithilfe nationalistischer und rechtsgerichteter Ideologien konstruiert, darunter auch in der Ukraine.

„Ich habe keine Angst vor einem neuen Kalten Krieg. Ich habe Angst vor einem heißen Krieg in Europa“, sagte die Russland-Expertin der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik Sarah Pagung am 21. Februar in der Talk-Sendung „hart aber fair“. Sie sollte Recht behalten. Wenige Tage später hat dieser heiße Krieg mit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine begonnen. Nun reden Politiker*innen von einer Zäsur in Europa. Seit 1939 sei erstmals wieder ein souveräner Staat auf dem Kontinent angegriffen worden, wurde nun häufig behauptet. Da werden die Kriege nach dem Zerfall von Jugoslawien großzügig ausgeblendet. Denn damals griffen die NATO-Staaten an. Eine Zäsur stellt der Angriff auf die Ukraine sicherlich dar. Denn erstmals …

… ist es Russland, das die nach 1989 aufgebaute neue Nachkriegsordnung in Europa infrage gestellt. Die besagte, dass sich die Nato in ganz Osteuropa ausbreitet. In den 1990er Jahren schien Russland weder politisch noch militärisch in der Lage, darauf zu reagieren. Doch das sollte sich mit dem Aufstieg des Putin-Regimes ändern. Unter seiner Herrschaft wurde das Land nicht nur militärisch wieder aufgerüstet, sodass es in vielen Teilen der Welt von Syrien bis Mali wieder als Globalplayer auftreten konnte. 

Doch wurde diese Rekonstruktion der Staatlichkeit eines autoritären kapitalistischen Regimes kombiniert mit einer rückwärtsgewandten nationalistischen Ideologie, wie sie gut in der einstündigen Rede Putins vor der Anerkennung der abtrünnigen ukrainischen Provinzen zum Ausdruck gekommen ist. Sie bestand im Wesentlichen aus Mythen des großrussischen Nationalismus, angereichert mit Ideologiefragmenten, die die russische Rechte sofort nach der Oktoberrevolution 1917 gegen die Räte und die Bolschewiki erhoben hatte. Ihnen wurde vorgeworfen, die russische Nation zerstört zu haben. 

Schließlich warf Putin den ukrainischen Nationalisten vor, bei der von ihr propagierten Abkehr vom Kommunismus, der sich unter anderem im Zerstören von Lenin-Denkmälern ausdrückte, nicht konsequent genug zu sein. Putin und sein Regime wollten mit dem Zugriff in die Ukraine auch Ergebnisse dieser Oktoberrevolution rückgängig machen. Ihr legt Putin und die aktuelle russische Nomenklatura eine Vernachlässigung der nationalen Frage zu Last. Konkret heißt das, die russischen Nationalisten werfen den Bolschewiki vor, zumindest in ihren Anfangsjahren den Nationalismus insgesamt und den russischen Chauvinismus im Besonderen als reaktionäre Ideologie bekämpft zu haben. Damit reiht sich Putin in die lange Reihe rechter Ideologen ein, die die Bolschewiki dafür hassten, dass sie auf das Prinzip des proletarischen Internationalismus setzten und die Politik aller nationalistischen Regierungen ablehnten und bekämpften. Doch genau diese Position ist auch heute noch aktuell.

Ablehnung jeglichen Nationalismus

Dazu ist ein kurzer historischer Exkurs nötig, um zu verstehen, wie sich diese Position während des 1. Weltkriegs am linken Flügel der Arbeiter*innenbewegung entwickelt hat. Bekanntlich war die II. Internationale, in der sich sozialdemokratische Parteien zahlreicher Staaten vereinigt hatten, am Kriegsbeginn zusammengebrochen. Diese Parteien hatten jahrelang vor einem beginnenden Weltkrieg gewarnt und Friedensdemonstrationen organisiert. Als der Krieg begann, standen aber fast alle sozialdemokratischen Parteien auf Seiten ihrer Bourgeoisien, bewilligten Kriegsgewinne und feuerten die nationalistische Propaganda an. Lediglich die Bolschewiki und die bulgarische Sozialdemokratische Partei lehnten diesen Kurs des Burgfriedens ab und wandten sich gegen jeden Krieg. Daran orientierten sich dann im Laufe des 1. Weltkriegs auch die linken und pazifistischen Flügel vieler sozialdemokratischer Parteien. Sie standen damit in heftigen Widerspruch zu den Vorständen dieser Parteien. 

In Deutschland spaltete sich 1916 die Unabhängige Sozialdemokratische Partei (USPD) von der SPD ab, weil sie keine weiteren Kriegskredite mehr bewilligen wollte. In den meisten Ländern agierten sie zunächst aus einer absoluten Minderheitenposition. Aber es gab damals auch erste länderübergreifende Treffen in der neutralen Schweiz, die in die berühmte Zimmerwalder Konferenz im gleichnamigen Schweizer Ort im September 1915 mündete. Eingeladen vom Schweizer Sozialdemokraten Robert Grimm, trafen sich Sozialistinnen und Sozialisten sowie Pazifistinnen und Pazifisten unterschiedlicher Couleur, die alle ein Ziel einte. „Die Waffen nieder auf allen Seiten“ lautet das einigende Motto. Der Nationalismus auf allen Seiten wird bekämpft und abgelehnt. Leitfigur des linken Flügels der Konferenzteilnehmer*innen wurde bald Lenin, der zu dieser Zeit im Schweizer Exil lebte. Die Zimmerwalder Linke, wie diese Strömung bald historisch verortet wurde, setzte sich zum Ziel, den Weltkrieg in einen Bürgerkrieg zu verwandeln, der mit dem Sturz der kapitalistischen Herrschaft in allen Ländern enden sollte. Die Zimmerwälder Linke sah in Oktoberrevolution in Russland den Beginn dieser erhoffen Weltrevolution, die dann doch sehr isoliert blieb. 

Dieser kurze historische Exkurs sollte auf den historischen Kontext hinweisen, der zur Herausbildung eines linken Flügels der Arbeiter*innenbewegung führte, die sich gegen Nationalismus und Kriegsbefürwortung wandte. In Deutschland gehörten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zu den bekanntesten Exponentinnen und Exponenten dieser Strömung. Ihre Ermordung durch rechte Freikorps macht deutlich, wie stark die Kriegsgegner*innen von Nationalisten in allen Ländern bekämpft wurden. Putins Rede steht über 100 Jahre in der Tradition dieser rechten Kampagne.

Parolen der Kriegsgegner*innen weiter aktuell

Aber der historische Exkurs ist aus noch einem anderen Grund wichtig. Die Forderungen der Kriegsgegner*innen vor mehr als 100 Jahren sind auch heute noch aktuell. Es geht heute darum, den russischen Einmarsch in der Ukraine genauso zurückzuweisen, wie die Aufrüstungsbestrebungen und die Kriegspropaganda der NATO. Konkret geht es auch darum, zu verhindern, dass sich der Konflikt ausweitet und weitere Staaten mit hineingezogen werden. Konsequente Kriegsgegner*innen stellen sich auch heute auf keine Seite. Sie unterstützen vielmehr die Opfer der Kriege auf allen Seiten, beispielsweise Menschen, die aus den Konfliktzonen fliehen. Sie rufen Menschen auf Seien auf, sich nicht für Kriegsdienste zur Verfügung zu stellen und auch der Kriegspropaganda zu widersprechen. Und sie organisieren Solidarität für die Kriegsgegner*innen und Deserteurinnen und Deserteure, die Verfolgung und Repression erleiden müssen. Denn Kriegszeiten sind immer auch Zeiten von besonders starker Verfolgung aller oppositionellen Stimmungen. Zudem kritisieren sie Nationalismus und Chauvinismus auf allen Seiten. Nicht nur in Russland, auch in vielen osteuropäischen NATO-Staaten wurden nationale Identitäten mithilfe nationalistischer und rechtsgerichteter Ideologien konstruiert, darunter auch in der Ukraine. So notwendig es ist, den russischen Nationalismus zu verurteilen, so wichtig ist es auch, diese regressiven Ideologien in allen anderen Ländern zu verurteilen und zurückzuweisen. Das ist die immer noch aktuelle Lehre eines konsequenten Antimilitarismus, der nicht nur den Nationalismus beim Gegner angreift. 

Peter Nowak arbeitet als freier Journalist und dokumentiert seine Texte auf https://peter-nowak-journalist.de.