In der Zionskirche wurde über verlorene Utopien gesprochen

Zeiten enden und gehen weiter

Auf seinem neuesten Werk »Zeitstrahl« singt Geigerzähler über verlorene sozialistische Utopien. »Es sollte doch irgendwann Sozialismus geben, wo alle nach Glück und Freiheit leben und arbeiten nach Bedürfnis und Fähigkeit in der guten Zukunft in der neuen Zeit «, heißt es im titelgebenden Song »Der Zeitstrahl ist gebrochen«. In dem kurzen Song »Privilegien« wird gereimt: »Der Sozialismus mit menschlichen Antlitz wohnte nicht in Wandlitz«

Die Zionskirche im Berliner Bezirk Mitte hatte für die linke DDR-Opposition große Bedeutung. Dort fand im Oktober 1987 ein Punkkonzert statt, das von Neonazis überfallen wurde. Auch nach dem Mauerfall machte die Zionskirche als oppositioneller Ort Schlagzeilen. So ging dort am 1. Mai 1996 der Piratensender Pi-Radio auf Sendung und lieferte Infos über die linken Demonstrationen in der Stadt. Daran erinnerten die Veranstalter*innen, die am Samstagabend unter dem Motto …

… »Der Zeitstrahl ist zerbrochen« zu einer Musik- und Diskussionsveranstaltung eingeladen hatten.
Anlass war das neueste Album des Berliner Musikers Geigerzähler, der seit Jahren mit seinen Chansons eine feste Adresse in der linken Berliner Protestbewegung ist. Bundesweit bekannt wurde er 2011 mit seinem Album Berlinska Droha (Berliner Ecke), wo sorbischer Folk auf Berliner Punk trifft. Auf seinem neuesten Werk »Zeitstrahl« singt Geigerzähler über verlorene sozialistische Utopien. »Es sollte doch irgendwann Sozialismus geben, wo alle nach Glück und Freiheit leben und arbeiten nach Bedürfnis und Fähigkeit in der guten Zukunft in der neuen Zeit «, heißt es im titelgebenden Song »Der Zeitstrahl ist gebrochen«. In dem kurzen Song »Privilegien« wird gereimt: »Der Sozialismus mit menschlichen Antlitz wohnte nicht in Wandlitz«. Doch in der letzten Strophe heißt es: »Heute würde der Direktor einer Fabrik nicht in nem Bungalow wohnen, sondern in einer Vorstadtvilla mit gigantischen Zaun, und zu hinterfragen würde sich das niemand mehr traun«. Das ambivalente Verhältnis zur DDR, »wo Pioniere Fahnen schwenken, alte Helden vorwärts denken« wird auch im Song »Glückliche Kindheit« deutlich. Ein Highlight auf der CD ist der Chanson »Gestern morgen«, in dem Geigerzähler eine Textstelle aus dem gleichnamigen Buch der linken Autorin Bini Adamczak vertont. »Welche Revolution wäre in der Lage, nicht nur die grausame Herrschaft zu überwinden, sondern auch ihre erwartbare und erwartbar grausame Wiederkehr«, lautete die offene Frage.
Nicht ganz so philosophisch ging es in der knapp einstündigen Diskussionsrunde vor dem Konzert zu. Dort diskutierten der Mitbegründer der Autonomen Antifa Ostberlin Dietmar Wolf, die Soziologin Katharina Warda und zwei Aktivist*innen der Basisgewerkschaft Freie Arbeiter*innen-Union (FAU) aus dem sächsischen Plauen über die Frage, welche Bedeutung eine ostdeutsche Linke heute noch für sie hat. Alle Diskussionsteilnehmer*innen waren sich einig, dass das Adjektiv »ostdeutsch« auch mehr als 30 Jahre nach dem Mauerfall noch sinnvoll ist. Sie berufen sich dabei auf die speziellen Erfahrungen, die sie in der Wendezeit und den 1990er Jahren gemacht haben. Katharina Warda, die als Tochter einer deutschen Mutter und eines südafrikanischen Vaters in der DDR aufgewachsen war, fürchtet, dass sich die Neonaziüberfälle der 1990er Jahre, die heute »Baseballschlägerjahre« genannt werden, wiederholen könnten. Dietmar Wolf hingegen betont die Unterschiede. Heute gäbe es eine rechte Partei mit Massenanhang in einigen Bundesländern, doch die Straßenmilitanz der Rechten sei zurückgegangen. Dem stimmten auch die beiden Linken aus Plauen zu. In der Stadt bietet die neonazistische Partei Der III. Weg Hausaufgabenkurse für die Kinder und Kampfsportstunden für die Heranwachsenden an. Direkte Angriffe auf der Straße gäbe es allerdings in Plauen nicht, betonten die beiden Aktivist*innen. Sie riefen dazu auf, nicht immer nur auf die Rechten zu reagieren und stattdessen eigene linke Projekte aufzubauen. Mit der FAU gehe es darum, Menschen in Arbeitskonflikten zu unterstützen. Mittlerweile habe man Bündnispartner*innen, die von der Offenen Jugendarbeit, der evangelischen Kirche in Plauen über die Selbstorganisation migrantischer Frauen in Zwickau bis hin zu Kommunalpolitiker*innen der Linken reichen. Peter Nowak