Über richtige Lehren, Irrtümer und Mythen

Scheiterte die globalisierungskritische Bewegung vor 20 Jahren in Genua?

Erst diese Niederlage schuf die rechte Hegemonie in Italien, gegen die sich in Genua die außerparlamentarische Bewegung stellte. Der Berlusconismus, der von ihr herausgefordert wurde und in Genua vor 20 Jahren mit der "chilenischen Nacht" blutig zurückschlug, hat die italienische Gesellschaft massiv verändert.

Dass die aktuelle US-Regierung auf außenpolitischem Gebiet die Trump-Regierung rechts überholen kann, zeigt sich bei den neuen Sanktionen gegen Kuba, die von der Biden-Administration verhängt wurden (Was ist los in Kuba?). Von den politischen Kräften, die der Meinung waren, Biden werde zu Obamas Taktik des Wandels durch Annäherung zurückkehren, hört man kaum Kritik, dass Biden die Sanktionen jetzt noch verschärft. Schließlich wird eine sicherlich berechtigte Protestbewegung gegen reale Missstände auf Kuba vereinnahmt. Da wird dann von der US-Regierung gleich von niedergeschlagenen Massenprotesten halluziniert. Dabei jährte sich am 20. Juli zum zwanzigsten Mal der Jahrestag gegen einen brutal niedergeschlagenen Massenprotest, der den die Verantwortlichen…

… keine Sanktionen der sogenannten demokratischen Welt befürchten mussten.

Der niedergeschlagene Protest

Es handelt sich um ein die globalisierungskritischen Proteste gegen den G8-Gipfel in Genua. 20 Jahre später wurde in verschiedenen Teilen der Linken daran erinnert. Schließlich standen die Proteste von Genua im Kontext einer transnationalen globalisierungskritischen Massenbewegung, die eine ganze Generation junger Menschen politisierte. Es gab damals die Hoffnung, dass darauf eine weltweite Opposition entstehen würde.

Doch Genua war nicht nur ein Höhepunkt der Repression, sondern auch der Massenmobilisierung, die bald abflaute. Zwanzig Jahre später gibt es verschiedene Erklärungsversuche, für die Gründe. Der Italien-Korrespondent der Taz Michael Braun erinnerte in einem Essay „Der zerschlagene Protest“ noch mal daran, dass eine italienische Rechtsregierung unter Einschluss der Faschisten, die bald nicht mehr so genannt wurden, verantwortlich war, dass nicht nur ein junger Demonstrant, Carlo Guilliani, von der Polizei erschossen wurde, sondern ein Medienzentrum gestürmt wurde.

Dort wurde ein Großteil der Menschen im Schlaf überrascht und misshandelt. Die Folterungen und Demütigungen gingen danach noch in den Gefängnissen weiter. Für diese Repression gab es bald den Begriff der chilenischen Nacht.

Man kann auch sagen, dass sich in Genua vor 20 Jahren gezeigt wurde, dass die Staatsapparate zu faschistischen Methoden greifen, wenn die Proteste der Massen sich nicht mehr im gesetzlichen Rahmen bändigen lassen. Die Erkenntnis, dass Opposition gegen die herrschenden Verhältnisse zu schweren Verletzungen, langer Haft und unter Umständen den Tod führen kann, war ein Schock für viele der Demonstrierenden.

Daher ist es richtig, den Anteil der Repression an den der Zerschlagung bei der Domestizierung der transnationalen Protestbewegung nicht kleinzureden. Schließlich war die Staatsreaktion nicht nur in Italien brutal. In der Schweiz wurden 2003 Viehgatter ähnliche Sperren eingesetzt, um zu verhindern, dass die Protestierenden nach Davos kommen, wo das Weltsozialforum tagte.

In vielen Ländern wurden Ausreisesperren gegen Globalisierungskritiker verhängt und harte Urteile verhängt. Dass geschah in all den demokratischen Staaten, die sich trotzdem über Repressalien in Kuba aufregen. Es ist allerdings nicht nur Heuchelei, wie auch von linker Seite oft schnell unterstellt wird, wenn die Polizei Proteste niederschlägt.

Dabei wird verkannt, dass die bürgerliche Demokratie eine Herrschaftsform ist, die auf der Durchsetzung der Staatsgewalt beruht und faschistische Elemente gerade gegen Massenproteste, die noch nicht integriert sind, immer Teil dieser Herrschaftspraxis ist.

Islamistische Anschläge als „Game Changer“

Es wäre aber fatal, die Ursache für den Niedergang der globalisierungskritischen Bewegung allein in der Repression zu sehen. Mit Recht weist der Projektmitarbeiter des Bildungswerks Helle Panke, Frank Engster, in einem Beitrag für das Neue Deutschland auf die islamistischen Anschläge vom 11. September 2001 in den USA hin.

Die Globalisierungsbewegung endete ebenso plötzlich, wie sie begonnen hatte – allerdings weder durch den Tod von Carlo Giuliano noch durch die Verlegung der Gipfeltreffen an abgelegene Orte. Die Ursache für das jähe Ende ereignete sich vielmehr nur sechs Wochen nach dem G8-Gipfel in Genua: die Terroranschläge auf das World Trade Center in New York City am 11. September 2001. 

Obwohl es auch nach Genua weiterhin Gipfelproteste gab, war „9/11“ ein game changer, durch den sich die Diskussion weg von der Globalisierung und hin zu den neuen Kriegen und dem „Krieg gegen den Terror“ verschob. Der politische Islam trat in das Machtvakuum, welches das Scheitern des Realsozialismus hinterlassen hatte. Er diente fortan als Legitimation für militärpolitische Interventionen und eine Politik im Namen der „Sicherheit“ sowohl in den sogenannten westlichen Ländern als auch in Russland.

Frank Engster, Neues Deutschlands

So richtig der Verweis auf das Auftauchen des Islamismus als neues konterrevolutionäres Element in der Weltpolitik ist, so muss doch betont werden, dass die globalisierungskritische Bewegung mit Genua noch nicht beendet war. Noch 2003 also zwei Jahre nach Genua fuhren Tausende zu globalisierungskritischen Protesten nach Evian und Genf, teilweise reisten sie mit einem von Attac finanzierten Sonderzug an.

Auch die Repression gegen die globalisierungskritische und ihre Medien ging weiter. So gab es bereits 2004 einen länderübergreifenden Repressionsschlag gegen Indymedia, was vielen nicht mehr bekannt war, als 2017 in Deutschland die Plattform Indymedia linksunten verboten wurde.

Wenige Wochen zuvor hatten die militanten Proteste gegen das G8-Treffen in Hamburg ein Stück Genua-Feeling auch nach Deutschland gebracht. Insofern hat die Überschrift über Engsters Text im ND „Globalisierung, der Kampf geht weiter“ seine Berechtigung. Dabei kann man allerdings nicht von einer zielgerichteten Bewegung sprechen, die auch im Alltag und vor allem im Arbeitsleben der Menschen Einfluss hat.

Mit dem Politikwissenschaftler Joshua Clover, dessen Buch Riot. Strike. Riot im Verlag Galerie der abseitigen Künste erschienen ist, kann man sagen, dass die Treffen der herrschenden Elite, Riots und Unruhen hervorrufen.

Doch am Leben des Großteils der Menschen, die von Ausbeutung und Unterdrückung betroffen sind, geht das vorbei.

Globalisierungskritik und Alltagswiderstand

Die Kritik am Event-Hopping gab es schon sehr früh in Teilen der globalisierungskritischen Bewegung. Es gab auch praktische Ansätze, den Protest gegen Elitengipfel und Alltagswiderstand zu verbinden, beispielsweise bei den heute auch schon wieder fast vergessenen Blockupy-Protesten gegen die Europäische Zentralbank in Frankfurt, wo es auch Solidarisierungsaktionen gemeinsam mit den gekündigten Maredo-Beschäftigten oder den Beschäftigten des Discounter Schlecker gab.

Vor allem traditionalistische Linke sehen in den Problemen bei der Verstetigung solcher Proteste die Missachtung der Organisierungsfrage, was meistens auf die alte Diskussion „Bewegung versus Partei“ hinausläuft. Der sozialistische Philosoph Stefano G. Azzarà sieht in einem in der jungen Welt veröffentlichten Diskussionsbeitrag vor allem postmoderne Theorie und Praxis als Grund für den Niedergang der globalisierungskritischen Bewegung.

Richtig ist Einschätzung, dass in Italien vor ca. 20 Jahren nicht nur in der außerparlamentarischen Linken Aufbruchsstimmung herrschte. Mit der Rifondazione schien auch eine moderne sozialistische Partei zu entstehen. Heute ist die radikale Linke im Parlament kaum mehr vertreten und auch außerparlamentarisch marginalisiert.

Ein Teil der Protagonisten der globalisierungskritischen Kämpfe von vor 20 Jahren haben resigniert, sich ins Privatleben zurückgezogen, wenn sie nicht jahrelang mit Repression überzogen wurden.

Souveränismus statt linke Globalisierungskritik

Erst diese Niederlage schuf die rechte Hegemonie in Italien, gegen die sich in Genua die außerparlamentarische Bewegung stellte. Der Berlusconismus, der von ihr herausgefordert wurde und in Genua vor 20 Jahren mit der „chilenischen Nacht“ blutig zurückschlug, hat die italienische Gesellschaft massiv verändert.

Die Rechten reagierten mit dem Konzept des Souveränismus auf die linke Globalisierungskritik. Stefano G. Azzarà arbeitet in seinen Beitrag gut heraus, dass es hier um den Kampf um Anteile am Kuchen innerhalb des globalen Kapitalismus geht und nicht wie beim linken Flügel der Globalisierungskritik um eine Infragestellung des Kapitalismus.

War die globalisierungskritische Bewegung eurozentristisch?

Azzarà irrt, wenn er der globalisierungskritischen Bewegung Eurozentrismus vorwirft und sie gar als letzte Zuckungen des Widerstands der fordistischen Welt interpretiert. Dabei vergisst er, dass wesentliche Impulse für die globalisierungskritische Bewegung von den Zapatistas aus Südmexiko oder den bäuerlichen Bewegungen in Indien kamen, die in der Bewegung Via Campesino zusammengeschlossen waren.

Kaum noch bekannt ist, dass im Sommer 1999 Hunderte indische Bauern nach Europa kamen, um Bündnispartner für ihren Kampf gegen die kapitalistische Globalisierung zu suchen. Sie fanden sie in der temporären Bewegung People global Action.

Auch das Weltsozialforum, das eine wichtige Rolle beim reformistischen Flügel der globalisierungskritischen Bewegung spielte, hatte ihre Wurzeln im globalen Süden, im brasilianischen Porto Alegre. Am Beginn des bolivarischen Prozesses in Venezuela spielte die globalisierungskritische Bewegung eine große Rolle. Es ist bedauerlich, dass schon 20 Jahre später diese Bezüge nicht mehr gesehen werden.

Zwanzig Jahre später blickt man gerne zurück. Doch man sollte die Gefahr von Mythologisierung und auch eines Selbstbezugs sehen. Denn dann sieht man nicht mehr die aktuellen Kämpfe.

Es sei nur an die Streiks bei Amazon in Italien in den letzten Wochen zu erinnern. Hier und nicht im Betrauern der verpassten Chancen vor 20 Jahren oder gar in einem Rückgriff auf Organisationsmodelle, die vor 100 Jahren in der Arbeiterbewegung eine Grundlage haben, liegen die Grundlage für eine neue linke Bewegung. Peter Nowak