Das Bundesverfassungsgericht hat im Sinne der Immobilienkonzerne entschieden, als es den Berliner Mietendeckel für nichtig erklärte. Wie werden soziale Bewegungen reagieren?

Angriff auf Mieterinnen und Mieter

Nachdem 1975 das Bundesverfassungsgericht die Fristenlösung, die Abtreibungen in einen bestimmten Zeitraum legalisieren sollte, gekippt hatte, radikalisierten sich Teile der Frauenbewegung. Sie fragten sich mit Recht, warum eigentlich ein Klüngel von Männern, die niemand gewählt hatte, über ihren Bauch entscheiden sollte. Heute sollten sich die aktiven Mieterinnen und Mieter fragen, warum eine Gruppe von Männern und Frauen, die alle keine Sozialmieter sind, über den Mietendeckel entscheiden sollen.

Schon wenige Minuten nachdem das Bundesverfassungsgericht als letzte Instanz im Staat den Berliner Mietendeckel gekippt hat, stiegen am Donnerstag die Aktienkurse der Immobilienbranche. Die Medien der Kapitalverbände jubeln nicht nur, sondern verbreiten auch schon …

Meldungen, was jetzt zu tun sei Die Deutsche Wohnen, eine der großen Player in der Berliner Immobilienbranche, verspricht, dass keine Mieterin und kein Mieter die Wohnung verlieren werde.

Doch zugleich machte das Unternehmen klar, dass es früher oder später auf jeden Fall Geld eintreiben will, das ihm wegen des Mietendeckels durch die Lappen gegangen ist. Für die Begleichung des Restbetrags der fälligen Miete bietet es verschiedene Möglichkeiten an – von Einmal- über Ratenzahlungen bis hin zu Stundungen. „Bei sozialen Härtefällen wird das Unternehmen gemeinsam mit den Mietern individuelle Lösungen finden.“ Zugleich stellt die Deutsche Wohnen klar, wie sie ihre Klasseninteressen verteidigt:

„Mit diesem Vorgehen handelt die Deutsche Wohnen in völliger Übereinstimmung mit dem Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen e.V. (BBU), der mehr als 729.000 Wohnungen und damit 44 Prozent des Bestands in Berlin repräsentiert.“

Dadurch, dass es den Mietendeckel für nichtig erklärt hat, gibt das Bundesverfassungsgericht den Immobilienbesitzern die Möglichkeit, Nachforderungen für Mieten zu stellen, die gemindert wurden, nachdem er im Februar 2020 in Kraft getreten war. Da können schnell vierstellige Beträge zusammenkommen. Philipp Möller von der Berliner Mietergemeinschaft sagte Gespräch mit Telepolis, dass dies vor allem Mieter mit geringen Einkommen hart treffe, die nicht die Möglichkeit hatten, den Differenzbetrag zurückzulegen. Da könnten ganz schnell Kündigungen und Räumungen drohen, was besonders unter Corona-Bedingungen noch fataler sei.

Senat soll Mieten für öffentliche und kommunale Wohnungen deckeln

Daher fordert die Berliner Mietergemeinschaft vom Senat jetzt die Einrichtung eines Fonds, aus dem Menschen mit geringen Einkommen unbürokratisch finanzielle Unterstützung bekommen. Zudem fordert Möller den Berliner Senat auf, eine Initiative auf den Weg zu bringen, die festlegt, dass für öffentliche und kommunale Wohnungen weiterhin der Mietendeckel gilt. Durch das Karlsruher Urteil zeige sich einmal mehr, wie wichtig die alte Forderung der Berliner Mietergemeinschaft nach kommunalen Wohnungsbau sei, betonte Möller. Er warnt zudem davor, wie die Partei Die Linke jetzt die Hoffnung auf eine „rot-rot-grüne“ Bundestagsmehrheit zu setzen, die dann einen bundesweiten Mietendeckel durchsetzt.

Sicher hat der Jubel von AfD, FDP und CDU/CSU klar gezeigt, wie einig sich hier der Eigentümerblock ist. Aber auch die Berliner SPD hatte bereits vor dem Urteil erklärt, am Mietendeckel nicht festhalten zu wollen. Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) forderte zwar am Donnerstag angesichts erwartbarer Proteste ein „Mietenmoratorium in Märkten mit angespannter Wohnlage“, das spätestens die nächste Bundesregierung auf den Weg bringen müsse. Aber hier wäre wohl wie bei der „Mietpreisbremse“ entscheidend, wer die Definitionsmacht über „angespannte Wohnlagen“ hat.

Die Karlsruher Richter hatten in ihrem Urteil auf die vielfach kritisierte „Mietpreisbremse“ verwiesen, die bis heute nur in Teilen Deutschlands für Mieten ab zehn Prozent oberhalb der ortsüblichen Vergleichsmiete gilt – denn damit habe schon der Bundesgesetzgeber das Mietpreisrecht „abschließend geregelt“. Tatsächlich wurde es damit per Bundesgesetz an die Landesebene delegiert, zu entscheiden, in wo die „Mietpreisbremse“ mit diversen Ausnahmeregelungen überhaupt greifen soll: „Die Landesregierungen werden ermächtigt, Gebiete mit angespannten Wohnungsmärkten durch Rechtsverordnung für die Dauer von jeweils höchstens fünf Jahren zu bestimmen“, heißt es in § 556d des Bürgerlichen Gesetzbuchs.

Etwas anderes ist es, wenn ein großes Berliner Mietenbündnis unter dem Motto „Mietendeckel bundesweit“ dazu aufruft, den Widerstand jetzt auszuweiten.

Es bleibt die Erfahrung: Mieterhöhungen sind kein Naturgesetz

Viel wichtiger ist die Reaktion der sprichwörtlichen Berliner Mietrebellen, wie die aktive Berliner Mieterbewegung genannt wird. Sie haben durch die wenigen Monate, als der Mietendeckel gegolten hat, die Erfahrung gemacht, dass Mieterhöhungen kein Naturgesetz sind. Erstmals wurde die Miete gesenkt – und das Bundesverfassungsgericht hat sich als letzte Instanz des Kapitals erwiesen. Viele Mieterinitiativen orientieren jetzt darauf, den außerparlamentarischen Druck zu verstärken.

„Das Gericht hat sich auf die Seite des heiligen Marktes gestellt und gegen uns“, hieß in einem Redebeitrag auf dem Hermannplatz in Berlin, wo sich am frühen Abend mehrere tausend Menschen versammelt hatten, um für einen bundesweiten Mietenstopp zu demonstrieren. Viele ihnen machen Lärm mit Kochgeschirr. Zu dem Protest aufgerufen hatte der Berliner Mieterverein, zu sehen waren auch zahlreiche Schilder und Fahnen der Initiative „Deutsche Wohnen & Co. Enteignen“, die gerade Unterschriften für einen Volksentscheid sammelt und sich jetzt noch mehr Zuspruch erhofft. Betroffen wären gewinnorientierte Privatunternehmen mit einem Bestand von mehr als 3.000 Wohnungen.

Auch wenn das Versprechen, dass damit Mieterhöhungen für immer verhindert werden, wohl zu großspurig ist, könnte zumindest ein Teil der einst vom Berliner Senat privatisieren Wohnungen wieder den Verwertungsbestrebungen entzogen werden. Die Mietaktivisten betonen, dass es jetzt wichtig sei, möglichen Ohnmachtsgefühlen, die durch das Urteil ausgelöst werden sollen, entgegenzutreten. Schließlich gab es in der Vergangenheit schon mehrfach Urteile des Bundesverfassungsgerichts, die gegen die Anliegen außerparlamentarischer Bewegungen gefällt wurden und diese eher radikalisiert haben.

Nachdem 1975 das Bundesverfassungsgericht die Fristenlösung, die Abtreibungen in einen bestimmten Zeitraum legalisieren sollte, gekippt hatte, radikalisierten sich Teile der Frauenbewegung. Sie fragten sich mit Recht, warum eigentlich ein Klüngel von Männern, die niemand gewählt hatte, über ihren Bauch entscheiden sollte. Heute sollten sich die aktiven Mieterinnen und Mieter fragen, warum eine Gruppe von Männern und Frauen, die alle keine Sozialmieter sind, über den Mietendeckel entscheiden sollen. Dass auch weiterhin Druck wirkt, zeigte sich bereits: Der massiv in der Kritik stehende Immobilienkonzern Vonovia will auf Mietnachforderungen verzichten.(Peter Nowak)