Manche würden sich am liebsten im Ausnahmezustand einrichten - andere verfassen lange Wunschzettel für eine andere Welt

Nach dem Corona-Notstand – geht alles weiter wie bisher?

Es ist nicht nur in Brasilien die Angst der Mittelschichten, die sich aus Angst vor den Virus in ihren garantiert keimfreien klimatisierten Wohnungen selber einsperren, die im Corona-Notstand zu hören ist. Die Publizistin Charlotte Wiedemann sprach in einer Taz-Kolumne von einem Krisen-Biedermeier

Noch bestimmen die Corona-Meldungen nicht nur alle Nachrichten, sondern auch den Alltag von uns allen. Doch natürlich machen sich die Staatsapparate aller Länder Gedanken, wann die….

…..strengen Ausgangsbeschränkungen gelockert werden. Natürlich warnen wirtschaftsnahe Verbände an vorderster Front vor den Folgen einer womöglich monatelangen Notstandssituation.

Da sei nur stellvertretend der Präsident des Bundesverbands mittelständische Wirtschaft, Mario Ohoven, zitiert.

Dazu muss jetzt vor allem die Arbeitsfähigkeit der mittelständischen Unternehmen gesichert werden. Ansonsten drohen nachhaltige Wohlstandsverluste. Wir reden hier von wenigen Wochen, nicht von Monaten.

Mario Ohoven

Ähnliche Initiativen kommen auch aus weiteren Wirtschaftsverbänden und von wirtschaftsnahen Politikern. Spätestens nach Ostern müsse die jetzigen Beschränkungen schrittweise aufgehoben werden, heißt da unisono. Ähnliche Töne kamen auch von US-Präsident Trump, der sich momentan recht erfolgreich als Krisenpräsident inszeniert, wie ihm auch seine Kritiker zugestehen.

Linke und Liberale für längeren Notstand

Nur führten Trumps Überlegungen, in einigen Wochen zur Normalität des kapitalistischen Alltags zurückzukehren, zu ritualisierter Empörung der Trump-Kritiker. Abgesehen davon, dass die meisten aus Prinzip alles ablehnen, was er vorschlägt, könnten zumindest die Trump-Gegner in den USA sich keinen Gefallen erweisen, wenn sie als die Befürworter von noch längeren Beschränkungen auftreten.

Gerade in den USA, wo der Individualismus besonders ausgeprägt ist, dürfte Trump mit seinen Vorschlägen, den Notstand zu begrenzen, allemal auf Zustimmung stoßen. Trump agiert auch sehr geschickt, wenn er seine Sorge über Schäden für die US-Wirtschaft kombiniert mit seinem Wunsch, dass zu Ostern die Kirchen voll sind.

Wenn man weiß, dass das nicht unbedeutende christliche Klientel zu Trumps Wählerbasis gehörte, hört sich diese Forderung gar nicht mehr so anachronistisch an. Zudem haben auch für Menschen anderer Konfessionen die Ostertage Bedeutung. Abgesehen davon kann ein Politiker, der von Exitstrategien aus dem Notstand redet, auch Menschen erreichen, die nach Ende ihrer Wohnhaft nicht die Bet- und Gemeinschaftsräume der Religionen füllen werden.

Auch in Brasilien empören sich Linke und Liberale über den rechten Präsidenten Bolsonaro meistens berechtigt. Aber in der Corona-Frage scheint die paradoxe Situation auch darin zu bestehen, dass ein ultrarechter Präsident eher die Normalität verteidigt und vor Panikmache warnt.

Das müsste doch eigentlich eine gewisse beruhigende Wirkung auf die Bolsanoro-Gegner haben. Denn es hatte die berechtigte Sorge bestanden, dass der erklärte Fan von rechten Militärs, der auch schon bekannte Folterer gelobt hat, die Corona-Krise nutzt, um den Notstand in Brasilien einzuführen. Schließlich hat er sich vor wenigen Tagen lobend über eine Demonstration brasilianischer Ultrarechter geäußert, die genau dies gefordert haben.

Aber paradoxerweise wird Bolsonaro jetzt von seinen Gegnern dafür angegriffen, dass er in der Corona-Krise nicht den Notstand aufruft, sondern die Normalität erhalten will. Die ganze Angelegenheit wird noch absurder, wenn man sich die Lebensrealitäten in Brasilien anschaut. Eine Beschränkung der Bewegungsfreiheit und der Zwang, die eigene Wohnung möglichst nicht zu verlassen, ist überhaupt nur für die Ober- und Mittelschicht eine Option.

Sie haben Wohnungen, in denen sie ihre Tage verbringen können. Für die vielen Menschen, die in den brasilianischen Favelas wohnen, ist das aber gar keine Option. Sie wohnten dort so beengt in kleinen Behausungen, dass sich das Leben der Menschen draußen abspielt. Eine Linke, die angeblich im Namen dieser Menschen dafür eintritt, dass Ausgangsbeschränkungen erlassen werden, kann damit nur scheitern.

Die Angst der Mittelschichten vor Krankheit und Tod

Hier zeigt eben einmal mehr, dass ein Großteil der brasilianischen Linken wie die in anderen Ländern, Politik für eine kleine aufgeklärte Mittelschicht macht und die Lebensumstände der großen Teile der Armen gar nicht berücksichtigt. Dass ist nun nichts Neues und hat sich ja auch bei den Wahlen gezeigt.

Es ist nicht nur in Brasilien die Angst der Mittelschichten, die sich aus Angst vor den Virus in ihren garantiert keimfreien klimatisierten Wohnungen selber einsperren, die im Corona-Notstand zu hören ist. Die Publizistin Charlotte Wiedemann sprach in einer Taz-Kolumne von einem Neo-Biedermeier:

Doch ist es zum Fürchten, wenn aus einer jungen, hochgebildeten, liberalen Mittelschicht der Ruf nach einer totalen Ausgangssperre ertönt, wie sie nicht einmal der Staat will. (…) Achtsamkeit und Vernunft sind Schlüsselbegriffe. Wer diese beiden Tugenden für sich selbst in besonderem Maße in Anspruch nimmt, erschafft dieser Tage ein neues Milieu, eine Art Krisen-Biedermeier. Das eigene regelkonforme Verhalten wird mit detaillierten Selbstverpflichtungen öffentlich bezeugt und die verordnete Entschleunigung als ein Schonraum erlebt – so öko-sauber, mit stillen Straßen, die nicht gegen Automobil-Interessen erkämpft werden mussten.

Charlotte Wiedemann, Taz

Für Menschen in armen Verhältnissen hat sich dieser Mittelstand nie besonders interessiert, nicht in Brasilien und auch nicht anderen Ländern. So haben sie auch gar nicht registriert, dass die schon heute eine wesentlich geringere Lebenserwartung haben und an Krankheiten sterben, die anders als das Corona-Virus heute schon heilbar wären.

Der Notstand soll dem Mittelstand vor allem garantieren, dass diese Armen ihnen gar nicht mehr nahekommen.

Es ist kein Zufall, dass in den letzten Jahren gleich mehrere Katastrophenfilme zu sehen waren, in denen die Zonen der Reichen und der Armen feindsäuberlich getrennt waren. Die Grenze wurde auch von den Privilegierten mit allen Mitteln verteidigt.

Dafür waren die Bewohner der Zone – La Zona ist der Titel einer der Filme – auch bereit, selber viele Einschränkungen auf sich zu nehmen wie heute im Notstand. Sie waren bereit, sich selbst in eine Art Wohnhaft zu begeben.

Und sie sind bereit, den Ausnahmezustand zum Alltag zu machen, weil es dabei längst nicht nur um einen Virus geht. Es ist die Wirtschaftsweise, die Ressourcen verschlingt, die an die Substanz geht. In der Klimadebatte der letzten Monate wurde viel darüber gesprochen, dass diese Lebensweise unter Umständen dafür sorgt, dass bald für viele gar kein Leben mehr möglich ist.

Die Sehnsucht nach einem Shutdown wurde in den letzten Monaten ganz offen in Zeitungen wie der Taz von verschiedenen Kolumnisten diskutiert. Hier war ein Dispositiv vorhanden, dass der aktuelle Notstand nicht nur ohne Murren hingenommen wird, sondern nach noch härteren Maßnahmen gerufen wird und alle, die über einen Ausstieg nachdenken, bekämpft werden.

Natürlich stehen die Regierungen besonders am Pranger, die bisher die Notstandsmaßnahmen gar nicht mitmachen. Allerdings gibt es da Abstufungen. Während Weißrussland besonders in der Kritik steht, weil der doch immer als letzter europäischer Diktator gescholtene Präsident Lukaschenko jetzt keine Lust auf Notstand hat, wird der schwedischen Regierung doch recht positiv angerechnet, dass sie eher auf die Vernunft ihrer Bürger als auf Verbote setzt.

Wenn dann hinzugefügt wird, dass die Zahl der Infektionen steigt, müsste man ergänzen: Genau wie in den Ländern, die sich für Verbote entschieden haben.

Keine Beweise, dass Einschränkungen zielführend sind

Da wären wir bei der zentralen Sache, die in der Öffentlichkeit kaum aufgegriffen wird. Da wir doch jetzt verschiedene Wege des Umgangs mit der Corona-Krise haben, könnten wir das noch nutzen, um zu erforschen, welcher davon geeigneter für den Umgang damit ist.

Das heißt, wir könnten von Ländern wie Schweden, Belorussland, Deutschland, Italien, Spanien etc. Daten sammeln und dann eruieren, ob sich Erkenntnisse ergeben, dass beispielsweise die massiven Einschränkungen des öffentlichen Lebens zu dem Ziel führen, die Ausbreitung des Virus einzuschränken.

Denn, obwohl darüber kaum geredet wird, wissen wir das bisher nicht, wie es Heike Haarhoff in der Taz sehr prägnant darlegte.

Schulschließungen und Ausgangsbeschränkungen, Kontakt- und Arbeitsverbote: Es sind drastische Maßnahmen, mit denen die Bundesregierung im Kampf gegen die Coronapandemie die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger derzeit einschränkt. Aber welche Wirkungen, positiv wie negativ, haben diese sogenannten nichtpharmakologischen Interventionen tatsächlich? Die Regierung weiß es nicht – und will es offenbar nicht wissen.

Heike Haarhoff, Taz

Tatsächlich wird eine Begleitforschung von den zuständigen Gesundheits- und Forschungsministern abgelehnt, obwohl hier wichtige Erkenntnisse für die Bewältigung künftiger Krisen gesammelt werden können.

Vom konformistischen Mittelstand ist kein Protest zu erwarten und die kleinen oppositionellen Minderheiten, die Kerne für einen Widerstand bilden könnten, müssen sich erst einmal zurechtfinden in den Notstandsbedingungen. Plenum-Zusammenkünfte und Treffen nur noch digital zu veranstalten, will auch erst einmal gelernt sein.

Viele Wünsche für danach

Deshalb sind auch die vielen guten Wünsche, die heute schon in den sozialen Netzwerken für einen Nach-Corona-Neustart formuliert werden wohlfeil. Die Journalistin Ute Scheub hat sogar gleich eine  ökopatriotische Kanzlerinnenrede verfasst.

Doch diese ganze Prosa hätten sie sich sparen können. Selbst wenn da manche vernünftigen Reformschritte dabei sind, muss man sich doch fragen, warum sie gerade umgesetzt werden sollen. Da wurde komplett vergessen, dass Reformen, die für die Mehrheit der Subalternen eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen zur Folge haben, von sozialen Bewegungen, Gewerkschaften etc. erkämpft werden müssen.

Sie sind keine Geschenke der Staatsapparate, wie es vielleicht noch im Feudalismus der Fall war. Natürlich darf auch das linke Mantra nicht fehlen, dass nach der Corona-Krise der Neoliberalismus nun endlich am Ende ist. Das haben die meisten schon nach der letzten Finanzkrise gesagt und ist natürlich nicht eingetreten.

Doch Keynsianer wie die Taz-Wirtschaftsredakteurin Ulrike Hermann verkünden unverdrossen weiter das Ende des Neoliberalismus. Sie haben noch immer nicht verstanden, dass das Kapital in Krisenzeiten immer nach dem Staat ruft und sich von ihm retten lässt, um danach weiterzumachen wie bisher.

Es sei denn, es entsteht eine Bewegung zur Aufhebung des Kapitalismus, wie sie vor mehr als 100 Jahren existierte. Der liberale Soziologe Heinz Bude beschwört die Wiederkehr des Staates, der natürlich nie verschwunden war.

Es gibt eine neue Akzeptanz von Staatlichkeit, wie wir das, glaube ich, in den letzten 30, 40 Jahren so nicht gekannt haben. Die Staatsaversion, die Staatsphobie, die man mit dem sogenannten Neoliberalismus in Verbindung bringt, ist wie weggeblasen.

Heinz Bude, Deutschlandfunk

Nun könnte auch ein Liberaler wissen, dass staatskritische Kommunisten und Anarchisten, nicht aber Neoliberale, den Staat ablehnen. Sie wollen nur, dass er ihre Geschäfte nicht stört, aber sie rufen sehr wohl nach einem Staat, der wie in Chile 1973 eine linke Regierung wegputscht oder einen Streik niederschlägt wie 1985 in Großbritannien.

Wenn Bude lobt, dass die Staatsphobie weg weggeblasen ist, beschreibt er den Grad der Unterwerfung, den nicht nur er unter die Staatsraison bereit ist zu leisten. Denn dann ist auch garantiert, dass den Bekundungen vieler Politiker dieser Tage, wonach Deutschland gestärkt aus der Krise herausgehen wird, kaum Steine in den Weg gelegt werden.

Dabei ist die Ansage durchaus als Drohung zu verstehen. Bereits während der Finanzkrise wurde der Satz strapaziert und er bedeutete, das Kapital in Deutschland hatte sich gute Bedingungen verschafft, das Kapital anderer EU-Länder niederzukonkurrieren. Das aber hatte einen Niedriglohnsektor zur Voraussetzung, der dafür sorgte, dass in Deutschland viele Menschen von ihrer Lohnarbeit nicht mehr leben können. Peter Nowak