Szenen aus dem noch nicht gutgemachten Deutschland

Die Juden von Rhina

Das Dorf Rhina in Osthessen dürfte kaum jemand kennen. Doch vor fast 40 Jahren stand es für kurze Zeit im Fokus einer Debatte über die Verdrängung der Shoah und den Antisemitismus einer Dorfgemeinschaft, die nicht gehört und nicht gesehen haben will, wie die Juden geschlagen, misshandelt und vertrieben wurden.

Das Dorf Rhina in Osthessen dürfte kaum jemand kennen. Doch vor fast 40 Jahren stand es für kurze Zeit im Fokus einer Debatte über die Verdrängung der Shoah und den Antisemitismus einer Dorfgemeinschaft, die nicht gehört und nicht gesehen haben will, wie die Juden geschlagen, misshandelt und vertrieben wurden. Der Schriftsteller Peter O. Chotjewitz, der damals in Bad Hersfeld ein Buch Café betrieb, schrieb darüber den Roman „Saumlos“, das der Verbrecher-Verlag wieder herausgegeben hat. Das Buch motivierte den Filmemacher Pavel Schnabel seinen Film….

 … „Jetzt – nach so viel Jahren“ zu drehen. Kürzlich wurde er im Filmhaus Arsenal in Anwesenheit von Pavel Schnabel erneut gezeigt. Er hat auch nach fast 40 Jahren nichts von seiner Eindringlichkeit verloren. Der Film beginnt mit dem Auszug aus dem Aufsatz eines jüdischen Mädchens von 1929. Sie beschreibt Rhina als den einzigen preußischen Ort mit einer jüdischen Bevölkerungsmehrheit. Die Pogrome, mit denen die jüdische Mehrheit aus dem Dorf vertrieben wurde, fanden in Rhina bereits 1935 statt.

Der Film zeigte das Dorfleben 1981, es wurden Menschen interviewt, die über die Juden fast noch so redeten wie im Nationalsozialismus. Zudem betonten fast alle Bewohner, dass sich an den Pogromen keine Einheimischen beteiligt hätten. Einige zeigten in den Gesten und dem Gesichtsausdruck, dass sie das selber nicht glaubten. Nur einige jüngere Menschen, noch im Schulalter, äußerten vor der Kamera leichte Zweifel an dem Mythos von den auswärtigen Männern, die die Juden von Rhina vertrieben hätten und dann wieder verschwunden seien.

Die Filmemacher machten sich auf der Suche nach den Überlebenden, fanden einige in den USA, darunter auch die Verfasserin des Schulaufsatzes von 1929. Dort erfuhren die Filmemacher, wie eine antisemitische Dorfgemeinschaft gegen die Juden vorging und die Überlebenden nannten auch Namen und die Funktionen. So stellte sich schnell heraus, dass einige derer, die nichts gewusst haben wollten, ganz aktiv beim Pogrom dabei waren.

Die Filmemacher kamen mit diesen Videos zurück nach Rhina und luden zur Vorführung in die Schule ein. Es ist der Höhepunkt des Films. Man kann sehen, wie die gesamte Dorfgemeinschaft in Sonntagskleidung zur Vorführung geht, es war ja am Anfang nicht angekündigt worden, welchen Inhalt die Interviews haben. Wir sehen, wie die Gesichter der Dorfgemeinschaft erstarren, niemand geht weg. Es gab erst einmal großes Schweigen und dann die wütende Ansage an die Filmemacher, dass man ihnen doch von Anfang an klipp und klar gesagt habe, dass keine Einheimischen an den Pogromen beteilig waren. Nur die schüchternen Jugendlichen, die anfangs leichte Zweifel an der Saga vom unschuldigen Dorf äußerten, wurden jetzt mutiger und wagten auch mal einen Zwischenruf gegen allzu selbstgerechte Verteidiger des Dorfes. 1988 hatte Renate Chotjewitz Häffner unter den Titel „Die Juden von Rhina“ die Geschichte nachgezeichnet

Rhina war überall

Wenn man heute den Film sieht, blickt man in eine andere Zeit. Man sieht Szenen aus dem noch nicht wiedergutgemachten Deutschland. Die NS-Täter von damals kamen ins Rentenalter, bestimmten aber noch den Dorfalltag. Sie lasen die Nationalzeitung, die das Ziel hatte, Altnazis im antibolschewistischen Kampf mit der Westbindung der BRD zu versöhnen. Manche wählten die NPD, die in Bad Hersfeld, in der Nähe von Rhina, immer einige Mandate hatte. Andere wählten die CDU, die in Hessen unter Alfred Dregger einen betont deutschnationalen Kurs gefahren ist. Es war auch die Zeit, als der Shoahüberlebende Joseph Wulf Suizid verübte, weil er mit seiner Forschung über den NS überall auf Widerstände stieß. Posthum wird er heute als Pionier der NS-Aufarbeitung gewürdigt. Es war auch die Zeit, als ein Franz Joseph Strauß sagen konnte, das wirtschaftlich erfolgreiche Deutschland wolle mit Recht vom NS und von Auschwitz nichts mehr hören.

Die wiedergutgemachte Nation und ihre völkischen Eckchen

Doch die Diskussion um die Juden von Rhina machte auch schnell klar, dass das Dorf keine Ausnahme ist. Rhina war damals überall in der Republik. Die Diskussion fand so viel Aufmerksamkeit, weil sie in einem Interregnum stattfand. Die Tätergeneration hatte nicht mehr die totale Hegemonie über die Perspektive auf die NS-Vergangenheit. 1978 wurde der Film „Holocaust“ erstmals im Fernsehen gezeigt und schaffte es, die Hegemonie der Tätergeneration über die Erzählung der Vergangenheit zu brechen.

Es begann die Zeit, als die Enkelgeneration ihre Großeltern fragte, was sie im NS gemacht hatten, und es begann eine lokale Forschung nach den Antisemiten in der eigenen Region. So ist der Film ein besonders eindrückliches Zeitdokument eines Deutschlands, das sich noch nicht selber zum Aufarbeitungsweltmeister erklärt hat. Diese Zeit kam erst nach 1989.

In den frühen 1980er Jahren hätten sich die vielen Lokalforscher, die über die NS-Geschichte recherchierten, wahrscheinlich nicht träumen lassen, dass ein wiedergutgemachtes Deutschland mit dieser Aufarbeitung weltweit an Einfluss gewinnen kann. Die Grenzen dieser Aufarbeitung werden auch immer wieder deutlich. So gab es kürzlich einen Eklat vor der Eröffnung der neuen Dauerausstellung im Haus der Wannseekonferenz. Ein „umstrittener Bezug zur Gegenwart“ wurde noch vor der Eröffnung entfernt.

„Fragen ohne Antworten“ war eine „Partizipationsstation“ überschrieben, in der die Frage gestellt wurde, ob das singuläre Ereignis Holocaust mit aktuellen Vorkommnissen in Zusammengang gebracht werden könnte. Auf dem Bildschirm sah man ein historisches Bild vom Strandbad Wannsee, unterlegt mit der Information, dass Juden ab 1938 der Zutritt zu öffentlichen Bädern verboten war. Ein Klick weiter tauchte eine Zeichnung mit einem Schild auf. „Männliche Geflüchtete dürfen das Freizeitbad nicht besuchen“ war darauf zu lesen. Diese Zeichnung verwies auf Ereignisse am Rande der Einwanderung von Flüchtlingen 2016. In einem Hallenbad in Bornheim bei Bonn hatten junge Geflüchtete Badegäste belästigt und darauf ein vorübergehendes Zutrittsverbot bekommen. Dass das eine, die systematische Entrechtung und Ermordung der Juden, nichts mit dem anderen, der Diskriminierung von Geflüchteten in der Bundesrepublik, zu tun hat, sei ihnen selbstverständlich bewusst gewesen, sagten die Ausstellungsmacher. Dennoch stieß die Multimediastation auf fast einhellige Kritik der anwesenden Journalisten auf der Eröffnungs-Pressekonferenz am Donnerstag. 

Eine gute Stunde nach Ende der Pressekonferenz erhielten die Teilnehmer eine E-Mail von Gedenkstättenleiter Jasch: „Da Sie für uns nicht nur Journalistinnen und Journalisten, sondern auch unsere ersten Besucherinnen und Besucher sind, haben wir uns entschieden, die Station nicht in Betrieb zu nehmen.“

Aus einem Taz-Bericht zur neuen Dauerstellung des Hauses der Wannsee-Konferenz

Natürlich ist es richtig, dass ein Einlassstopp für Migranten nicht zur Shoah führt. Doch vor 120 Jahren gab es auch viele Postkarten und Schilder, die Juden in Badeorten für unerwünscht erklärten. Auch das führte nicht automatisch zur Shoah, ist aber Teil des völkischen Denkens, das auch hinter den heutigen Schildern steht, die pauschal Migranten Badeverbot erteilen.

Es ist auch bemerkenswert, wie unhinterfragt in den Medien die Darstellung verbreitet wird, junge Migranten hätten Badegäste beleidigt. In mehreren Fällen hatte sich herausgestellt, dass es sich um eine größere Gruppe junger Menschen gehandelt hatte, aber nicht mehrheitlich ja nicht mal überwiegend um Migranten. Es ist frappierend, dass dann sehr schnell alle migrantischen Männer in Kollektivhaftung genommen werden und dass diese Herangehensweise nicht auf grundsätzliche Kritik stößt.

So hat dieser kleine Beitrag mit Aktualitätsbezug Realität und Mythos im wiedergutgemachten Deutschland gezeigt. Heute wird man kaum eine Dorfgemeinschaft wie 1981 in Rhina finden, die die NS-Verbrechensgeschichte komplett leugnet, aber man wird einige finden, die ganz selbstverständlich keine Migranten im Schwimmbad oder in der Kaufhalle wollen. (Peter Nowak)

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