Schon vor 100 Jahren wurde in Deutschland über Sozialisierung nicht diskutiert, die Befürworter wurden mit allen Mitteln bekämpft

Ein Mythos soll in die Verfassung

Während wieder verstärkt über Enteignung diskutiert wird, wollen Marktradikale der "sozialen Marktwirtschaft" Verfassungsrang geben

„Die Sozialisierung marschiert““ – Diese Parole stammt nicht etwa von der Kampagne Deutsche Wohnen und Co. Enteignen. Sie ist 100 Jahre alt und wurde damals von der Sozialdemokratie propagiert. Damit sollte die damals…

….starke revolutionäre Arbeiterbewegung beruhigt werden, die sich nach der Novemberrevolution von 1918 nicht damit zufriedengeben wollte, dass der Kaiser durch einen bürgerlichen Präsidenten ausgetauscht und aus der Monarchie eine bürgerliche Republik wurde.

Eine zentrale Forderung der Arbeiterbewegung war die Bildung von Räten und die Sozialisierung der Wirtschaft. Darauf hat in der Jungle World der Historiker Dietmar Lange hingewiesen. Dort beschreibt er das Szenario vor 100 Jahren so:

Seit Wochen schon wurde auf Versammlungen, in Resolutionen und Beschlüssen die Sozialisierung verlangt. Die Forderung verbreitete sich weit über die radikale Linke hinaus. In Berlin traten bis zu eine Millionen Beschäftigte in den Ausstand. Aufgeschreckt durch dieses Aufbäumen ließ die SPD-geführte Regierung auf großen Plakaten verkünden: „Die Sozialisierung marschiert!“.

Historiker Dietmar Lange, Jungle World

Deshalb wurde vor 100 Jahren der Sozialisierungsartikel in die Weimarer Verfassung aufgenommen. Dass er dort ruhte, lag auch an der blutigen Niederschlagung der Arbeiterbewegung, die Räte und Sozialisierung forderte. Im März 1919 wurden ca. 1.200 Menschen im Osten Berlins während eines Generalstreiks ermordet.

Das größte Massaker in der Geschichte der Novemberrevolution hat Dietmar Lange durch sein Buch Massenstreik und Schießbefehl wieder dem Vergessen entrissen. Es ging bei den Verbrechen, für welche die von dem SPD-Funktionär Gustav Noske befehligten Freikorps verantwortlich waren, auch um die Verhinderung der Sozialisierung.

Sozialisierung als Fossil in der Verfassung?

Soweit würden die heutigen Gegner jeglicher Sozialisierung nicht gehen. Doch sie wollen Menschen, die sich auf die Protagonisten der Sozialisierung heute berufen, schon mal in die Nähe der Verfassungsfeindlichkeit rücken. Daher wird von Marktradikalen aller bürgerlichen Parteien, am Lautesten von AfD und FDP, die Streichung der Sozialisierungsartikel aus der Verfassung gefordert.

So zeigen diejenigen, die immer auf die Verfassung pochen, wie instrumentell ihr Verhältnis dazu ist. Wenn die Verfassung mal nicht im Sinne des Kapitals gebraucht wird, muss sie eben geändert werden. Dabei offenbarte der FDP-Politiker Marco Buschmann nur begrenzte historische Kenntnisse. Auf die Frage nach dem Grund, warum die FDP den Sozialisierungsartikel aus der Verfassung streichen will, erklärte er:

Art. 15 ist ein Verfassungsfossil, das aus einer Zeit stammt, als noch unklar war, wohin der Pfad der Wirtschaftsverfassung führen soll. Nach dem Zweiten Weltkrieg liebäugelte die SPD mit dem demokratischen Sozialismus, die CDU dachte über die Verstaatlichung der Schwerindustrie nach. In diese Zeit passte Art. 15 als denkbare Option.

Marco Buschmann, FDP

Natürlich erwähnte er nicht, dass die Sozialisierung bereits vor 100 Jahren in der Weimarer Verfassung war. Für Buschmann sollen mit der Streichung „populistische und nutzlose Debatten“ verhindert werden. Nun sind die Liberalen in der Theorie immer sehr gegen staatliche Gängelungen und wenden sich dagegen, dass beim Gesundheits- und Umweltschutz der Staat zu viele Vorgaben macht.

Nach Deutsche Wohnen auch Wombarts enteignen?

Doch wenn es um die Abwehr der Sozialisierung geht, gilt das natürlich nicht. Tatsächlich findet die Sozialisierungsforderung bei Menschen Anklang, die in Auseinandersetzungen mit konkreten Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnissen stehen. Das sind neben Mietern, die die Erfahrung machen, dass Wohnungen leer stehen, weil daran mehr verdient werden kann, auch Lohnabhängige, wie die Beschäftigten des Wombats-Hostel in Berlin-Mitte.

Nachdem die Beschäftigten den ersten Betriebsrat im Hostelgewerbe in Deutschland gegründet hatten, sahen sie sich verschiedenen Methoden des Unionbusting gegenüber und nun wollen die Betreiber die rentable Filiale schließen. Daraus entstand die Forderung nach der Enteignung des Hostels, erklärt ein Beschäftigter.

Er hatte schon vorher die Erfahrung gemacht, dass das Hostel am besten läuft, wenn niemand vom Management in der Nähe war. Französische Beschäftigte drückten die Erfahrung in der Parole – „Der Boss braucht Dich, du brauchst ihn nicht“ – aus. Wer den Boss braucht, sind hochbezahlte Konzernbetriebsräte wie Manfred Schoch von BMW, die bereits seit Jahren Lobbyarbeit für den Unternehmensstandort betreibenund natürlich auch gleich die Stimme ihrer Herren wurden, als Jusochef Kühnert nur mal die Vergesellschaftung der Betriebe ins Gespräch brachte.

Für freigestellte und von der Wirtschaft mit Gratifikationen belohnte Betriebsräte gab es vor 100 Jahren schon den Begriff der „Arbeiteraristokratie“.

Bei ihnen wird auch die Vokabel von der sozialen Marktwirtschaft ziehen, die nach dem Willen marktradikaler Ökonomen als Ersatz für die Sozialisierungsforderung ins Grundgesetz aufgenommen werden soll. Sie schlagen folgenden Passus vor: „Bund, Länder und Kommunen sind in ihren wirtschaftspolitisch relevanten Entscheidungen und Maßnahmen grundsätzlich den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft verpflichtet.“

Verfassungsrang für soziale Marktwirtschaft

Nun kann man argumentieren, wenn die Sozialisierungsforderung 100 Jahre ohne große Folgen im Grundgesetz gestanden hat, ist es auch ohne Belang, wenn nun die soziale Marktwirtschaft Verfassungsrang bekommen soll. Doch so einfach ist es nicht.

Denn die Anhänger der sozialen Marktwirtschaft würden nun alle, auch die repressiven, Staatsapparate einsetzen, um den Verfassungsartikel durchzusetzen. Wenn Sozialisierungsbefürworter erst einmal außerhalb der Verfassung gestellt werden, ist es leichter, sie zu überwachen und zu kriminalisieren. Bekäme die soziale Marktwirtschaft Verfassungsrang, wäre endgültig versperrt, was Linkssozialisten wie Wolfgang Abendroth immer betonten: Dass die Verfassung in Deutschland eben kein bestimmtes Wirtschaftssystem vorgibt.

Es ist sicher kein Zufall, dass die Marktradikalen mit der sozialen Marktwirtschaft einem Mythos huldigen, den der Leipziger Historiker Uwe Fuhrmann in seinem Buch Die Entstehung der „Sozialen Marktwirtschaft“ 1948/49. Eine historische Dispositivanalysedekonstruiert hat.

Fuhrmann weist dort nach, dass nicht Ludwig Erhardt, auf den sich neben Marktradikalen auch die Ex-Marxistin Sahra Wagenknecht positiv bezieht, sondern ein Generalstreik der Lohnabhängigen dafür verantwortlich war, dass sich der Kapitalismus nun als soziale Marktwirtschaft besser verkaufen wollte.

Am 12. November 1948, das war ein Freitag, hat in der damaligen Bizone, also dem Teil Deutschlands, der nach dem Zweiten Weltkrieg der US-amerikanischen und der britischen Besatzungsmacht unterstellt war, ein Generalstreik stattgefunden. An diesem Generalstreik haben sich etwa neun von zwölf Millionen Beschäftigten beteiligt.

Uwe Fuhrmann, Neues Deutschland

Der Historiker sieht den Begriff Soziale Marktwirtschaft vor allem als eine diskursive Antwort auf den Streik:

Welche Folgen hatten die Protestwelle und der 12. November 1948?


Die Folgen würde ich auf zwei Ebenen ansiedeln: Das eine ist die Wirtschafts- und Sozialpolitik und das andere ist die Diskursgeschichte. Ab September wurden als Reaktion auf den Druck verschiedene Maßnahmen beschlossen. Eines der bekanntesten ist das Jedermann-Programm. Da wurde ein staatlicher Rahmen vorgegeben, zu welchen Preisen, zu welcher Qualität Waren gefertigt werden müssen. Wer sich als Unternehmer darauf eingelassen hat, hat Rohstoffe zugewiesen bekommen, durfte daraus fertigen und das dann zu festgelegten Preisen verkaufen. Auch die paritätische Finanzierung der Krankenversicherung geht auf den Herbst 1948 zurück.
Auf der Diskursebene hat sich die Soziale Marktwirtschaft durchgesetzt.


Sie sagen also, dass ohne die Protestwelle aus dem Jahr 1948 sich die Soziale Marktwirtschaft nicht durchgesetzt hätte?

Ja.

Uwe Fuhrmann, Neues Deutschland

Nun wollen manche, dass der Mythos zum Verfassungsrang erhoben wird.

Was ist Sozialisierung?

Dagegen sind die Texte weitgehend vergessen, die schon vor ca. 100 Jahren zum Thema Sozialisierung veröffentlicht wurden. Dazu gehört die Schrift „Was ist Sozialisierung?“ von Karl Korsch.

Die Schrift ist auch noch nach 100 Jahren noch oder wieder aktuell, weil dort auch einige Grundprinzipen der kapitalistischen Wirtschaft zusammengefasst sind. Zudem räumt Korsch auch mit den in Teilen der Linken verbreiteten Fehlern auf, dass Sozialisierung Verstaatlichung bedeutet. Gleich am Beginn stellt Korsch klar:

Die vom Sozialismus geforderte „Sozialisierung“ bedeutet eine neue Regelung der Produktion mit dem Ziel der Ersetzung kapitalistischer Privatwirtschaft durch sozialistische Gemeinwirtschaft. Ihre erste Phase besteht in der Vergesellschaftung der Produktionsmittel und der dadurch bewirkten Emanzipation der Arbeit, ihre zweite besteht in der Vergesellschaftung der Arbeit.

Karl Korsch, Was ist Sozialisierung?

Damit hebt sich Korsch von den Verfechtern staatskapitalistischer Vorstellungen in Teilen der Traditionslinken ab. Eine Sozialisierung ist erst erreicht, wenn die Lohnabhängigen und auch die Anwohner von Fabriken etc. in Räten über die Art der Produktion entscheiden und auch darüber, wie produziert wird. Leider ist Korsch auch bei vielen kritischen Linken vergessen.

So wird er und seine wichtige Schrift in dem kürzlich im Zum Klampen Verlag erschienen Buch Verein freier Menschen – Idee und Praxis kommunistischer Ökonomie nicht erwähnt. Dabei hat der Autor Hannes Furlan Giessler eine Grundsympathie zu antikapitalistischen Ideen. Doch seine stellenweise durchaus profunde Kritik an staatskapitalistischen Konzepten leidet darunter, dass er marxistische Dissidenten wie Korsch nicht wahrnimmt. Peter Nowak