Wie erträgt das Individuum die Zumutungen des kapitalistischen Alltags?

Ein Kongress in Berlin suchte Antworten bei dem vor 30 Jahren verstorbenen Sozialpsychologen Peter Brückner

Was hat der seit der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland zunehmend akzeptierte Fußballpatriotismus, der sich im extensiven Schwenken von schwarz-rot-goldenen Winkelementen äußert, mit der Entsicherung in der Arbeitswelt zu tun? Die Psychologin Dagmar Schediwy sieht darin Ausgleichshandlungen des Individuums im flexiblen Kapitalismus. „Wenn man jederzeit seinen Job verlieren kann, bietet der Rückgriff auf die Nation scheinbar die letzte Sicherheit“, erklärte sie am Samstag mit Verweis auf die Kritische Theorie in ihrem Vortrag im Seminarzentrum der Freien Universität Berlin. Dort hatte in den letzten vier Tagen die Neue Gesellschaft für Psychologie zu dem Kongress „“Sozialpsychologie des Kapitalismus – heute“ eingeladen. Der Titel knüpft an ein 1981 erschienenes Buch des Hannoveraner Sozialpsychologen Peter Brückner an. Sein neunzigster Geburts- und dreißigster Todestag in diesem Jahr nutzten die Kongressorganisatoren, um an den lange vergessenen Wissenschaftler zu erinnern. Dabei machten die Referenten, überwiegend Psychologen, Sozialpädagogen oder Soziologen, die erstaunliche Aktualität seiner Schriften deutlich.

So wies der Berliner Psychologe Klaus-Jürgen Bruder darauf hin, dass sich Brückner sehr intensiv mit dem Phänomen auseinandergesetzt hat, dass in großen Teilen der Gesellschaft in Krisenzeiten die Loyalität mit dem Staat zunimmt und autoritäre Krisenlösungsmodelle auf mehr Zustimmung stoßen. Für Bruder könnten hier wichtige theoretische Erklärungsmuster für die Apathie weiter Teile der Bevölkerung trotz „der klaffenden Diskrepanz zwischen staatlichem Handeln, rücksichtloser Durchsetzung partikularer Interessen und den Interessen der Mehrheit der Bevölkerung“ heute liegen. Warum Erwerbslose oder prekär Beschäftigte lieber auf die „Pleitegriechen“ schimpfen, statt sich mit andere Betroffenen für die Verbesserung ihrer Situation zusammenschließen, könnte mit Brückners Forschungen über die Massenloyalität als Ergänzung zur Machtbasis des Staates tatsächlich besser erklärt werden als mit gängigen Manipulationsthesen.

Die Sozialpsychologin Claudia Barth widmete sich in ihren Vortrag über Esoterik als „Ecstasy des Bürgers“ einer weiteren, oft verkürzt als Weltflucht interpretierten Anpassungsleistung des Individuums. „Ziel esoterischer Selbsttherapeutisierung ist es, Leiden an Kälte und Entfremdung zu beenden, innere Widerstände abzubauen, aktuell gefragte Kompetenzen aufzubauen, um im Hier und Jetzt erfolgreich zu sein“, so ihr Befund.

Politische Rehabilitation

Der Kongress könnte auch der Auftakt für eine Rehabilitation des politischen Aktivisten Peter Brückners sein. Der wichtige theoretische Impulsgeber des politischen Aufbruchs um 1968 wurde in den 70er Jahren zweimal von seiner Professur suspendiert, unter anderem, weil er sich nicht von der Mitherausgabe des damals vieldiskutierten Mescalero-Aufrufs distanzierte, der sich mit dem RAF-Anschlag auf dem Generalbundesanwalt Siegfried Buback aus der Position eines damaligen Sponti-Linken auseinandersetzte. Eine bundesweite Solidaritätsbewegung für die Wiedereinstellung Brückners war auch ein Signal gegen die berüchtigte bleierne Zeit der 70er Jahre, als der Staat im Namen des Kampfes gegen die Rote Armee Fraktion auch unangepasste Linke ins Visier nahm.

Wenige Monate nach einem siegreichen Rechtsstreit starb Brückner durch die jahrelangen Auseinandersetzungen zermürbt an Herzversagen. Wäre es 30 Jahre später nicht an der Zeit, am Beispiel Brückners deutlich zu machen, dass es politische Verfolgung eben durchaus nicht nur in der DDR gab? Diese auf dem Kongress gestellte Frage blieb vorerst unbeantwortet.
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Peter Nowak