Gesellschaft ohne Opposition?

Auch ein 68er Resultat – Kongressbericht von Peter Nowak

Die Neue Gesellschaft für Psychologie (NGfP) sieht sich in der Tradition des Aufbruchs von 1968er. Jährlich organisiert sie einen Kongress, der sich mit wichtigen Stichwortgeber_innen des globalen Aufbruchs vor 50 Jahren befasst. Der diesjährige Kongress fand am zweiten Märzwochende unter dem Motto „Paralyse der Kritik – Gesellschaft ohne Opposition“ stand, da Herbert Marcuse, entliehen wurde. Wie ein schwarz-roter Faden zog sich die Frage durch die Panels und Arbeitsgruppen der drei Tage. Haben wir es aktuell wie 1968 erneut mit einer Gesellschaft ohne Opposition zu tun oder verbieten sich kurzschlüssige Analogien? Der Vorbereitungskreis betonte in der Einladung eher die Unterschiede zwischen 1968 und heute:
„Gleichzeitig müssen wir berücksichtigen, dass und wie sich die Welt (der Kapitalismus) seit der Verweigerungsrevolte von ’68 verändert hat – Stichwörter: Entkollektivierung und Prekarisierungder Arbeitsverhältnisse in ihrer gesamten sozialen Bandbreite, Unterwerfung von Wissenschaft, Bildung und Gesundheitswesen unter das direkte Diktat der Kapitalakkumulation, zerstörerische Aspekte der forcierten internationalen Arbeitsteilung und der globalen Zyklen seit 1971/73“.

Auch der Historiker Karl-Heinz Roth betonte in seinen vielbeachteten Impulsreferat am Samstagmorgen, dass die Revolte von 1968 ein globaler Aufstand war, der in den nominalsozialistischen Polen und Tschechien seine ersten Niederlagen durch die autoritäre Staatsmacht erleben musste. Roth zeichnete ein düsteres Bild der aktuellen politischen Situation. Heute habe man den Eindruck, als habe der Aufbruch von 1968 nie stattgefunden. Roth sprach angesichts der massenhaften Enteignung von Bäuerinnen und Bauern im globalen Süden und der Prekarisierung großer Teiler der Lohnabhängigen von einer Restauration von Klassenherrschaft im Weltmaßstab. Ob ein neuer sozialrevolutionärer Aufbruch heute noch möglich ist, sei völlig offen. Es gehe zunächst darum, das Ausmaß der eigenen Niederlage rücksichtslos zu analysieren. Dazu gehöre auch der Fakt, dass ein Teil der Errungenschaften von 1968 sich in Stabilisatoren des Kapitalismus verwandelt hätten.

Wie aus dem Individualismus der Egotrip wurde

So legtet Roth in seinen Vortrag da, wie die in der 1968er Bewegung starken Betonung des Individuums zum Egotrip und zum „Selfismus“ wurde und auch die Funktion veränderte. Anfangs habe die Betonung der Individualität den Widerstand gegen die Verhältnisse, die die Menschen auch persönlich nicht mehr aushalten wollten, befördert. Doch der heutige Selfismus verhindere Solidarität. Roth wie die meisten anderen Referent_innen verwiesen auf die massive Prekarisierung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, mit der heute junge Leute konfrontiert sind. Mit der Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse hingegen sei die Angst wider das beherrschende Gefühl vieler Menschen geworden, doch Angst mobilisiere in der Regel nicht sondern lähme. Das Unbehagen an den Verhältnissen ist deshalb nicht verschwunden, aber nicht der Widerstand dagegen kaum vorhanden. Stattdessen wird das Sich Einrichten in den Verhältnissen zur Überlebensmaxime. Diesen Befund bestärkte die Erziehungswissenschaftlerin Andrea Kleeberg-Niepage exemplarisch an Texten von jungen Erwachsenen, einer Gymnasiastin und einer Hauptschülerin. Sie sollten im Rahmen eines n Forschungsprojekt ihre Zukunftserwartungen formulieren. Die Schülerinnen waren durchaus nicht zufrieden mit ihrer Lebenssituation und ihren Zukunftserwartungen. Doch statt Gesellschaftskritik folgte eine Klage über undurchschaubare Kräfte, die sie nicht kontrollieren können. Anpassung statt Protest und Widerstand wird dann zur einzigen Überlebensstrategie

Kritik der repressiven Toleranz

Die Sozialwissenschaftler_innen Julia Plato und Falk Sickmann sind bei ihrer Aktualisierung von Herbert Marcuses Kritik an der repressiven Toleranz bei Slavoj Žižek fündig geworden. Der kritisiert, dass sich große Teile der Linken zum Wurmfortsatz des Liberalismus gemacht. hätten und damit unbeabsichtigt den Rechtspopulismus stärkten. Deutlich sei das in den USA geworden, wo Trump die Liberale Hillary Clinton besiegte. Plato und Sickmann haben zur Illustration zur Kritikder repressiven Toleranz ein Foto vom Eingang eines Cafés in einen Berliner Szenebezirk eingeblendet, wo eine Tafel verkündete, dass Rassismus, Antisemitismus und Homophobie nicht akzeptiert werde. Eine Zeile darüber war die Zahlungsmittel und –arten, aufgelistet, die akzeptiert sind. Eine wahrscheinlich alltägliche Hinweistafel. Dass die Basis der Akzeptanz der Besitz von Bargeld oder Kreditkarten ist, wird gar nicht besonders wahrgenommen, weil es die Grundlage des Kapitalismus ist. Kongressteilnehmer_innen beklagten, dass man der globalen Dimension der 68er-Bewegung nicht gerecht werde, wenn man nicht über den europäischen Tellerrand blickt. Zu den wenigen Ausnahmen auf dem Kongress gehörte das Referat der Ethnologin Raina Zimmering über die Bedeutung und Aktualität des Zapatismus. Für folgende Kongresse wäre die Einbeziehung weiterer Beispiele der aktuellen Widerstandspraxen global aber auch auf lokaler Ebene wünschenswert. Dadurch würde vielleicht auch die jüngere aktivistische Linke angesprochen, die auf der Konferenz kaum vertreten war.

aus: express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, Ausgabe: Heft 3/2018

http://www.labournet.de/express/,
Peter Nowak

Wie erträgt das Individuum die Zumutungen des kapitalistischen Alltags?

Ein Kongress in Berlin suchte Antworten bei dem vor 30 Jahren verstorbenen Sozialpsychologen Peter Brückner

Was hat der seit der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland zunehmend akzeptierte Fußballpatriotismus, der sich im extensiven Schwenken von schwarz-rot-goldenen Winkelementen äußert, mit der Entsicherung in der Arbeitswelt zu tun? Die Psychologin Dagmar Schediwy sieht darin Ausgleichshandlungen des Individuums im flexiblen Kapitalismus. „Wenn man jederzeit seinen Job verlieren kann, bietet der Rückgriff auf die Nation scheinbar die letzte Sicherheit“, erklärte sie am Samstag mit Verweis auf die Kritische Theorie in ihrem Vortrag im Seminarzentrum der Freien Universität Berlin. Dort hatte in den letzten vier Tagen die Neue Gesellschaft für Psychologie zu dem Kongress „“Sozialpsychologie des Kapitalismus – heute“ eingeladen. Der Titel knüpft an ein 1981 erschienenes Buch des Hannoveraner Sozialpsychologen Peter Brückner an. Sein neunzigster Geburts- und dreißigster Todestag in diesem Jahr nutzten die Kongressorganisatoren, um an den lange vergessenen Wissenschaftler zu erinnern. Dabei machten die Referenten, überwiegend Psychologen, Sozialpädagogen oder Soziologen, die erstaunliche Aktualität seiner Schriften deutlich.

So wies der Berliner Psychologe Klaus-Jürgen Bruder darauf hin, dass sich Brückner sehr intensiv mit dem Phänomen auseinandergesetzt hat, dass in großen Teilen der Gesellschaft in Krisenzeiten die Loyalität mit dem Staat zunimmt und autoritäre Krisenlösungsmodelle auf mehr Zustimmung stoßen. Für Bruder könnten hier wichtige theoretische Erklärungsmuster für die Apathie weiter Teile der Bevölkerung trotz „der klaffenden Diskrepanz zwischen staatlichem Handeln, rücksichtloser Durchsetzung partikularer Interessen und den Interessen der Mehrheit der Bevölkerung“ heute liegen. Warum Erwerbslose oder prekär Beschäftigte lieber auf die „Pleitegriechen“ schimpfen, statt sich mit andere Betroffenen für die Verbesserung ihrer Situation zusammenschließen, könnte mit Brückners Forschungen über die Massenloyalität als Ergänzung zur Machtbasis des Staates tatsächlich besser erklärt werden als mit gängigen Manipulationsthesen.

Die Sozialpsychologin Claudia Barth widmete sich in ihren Vortrag über Esoterik als „Ecstasy des Bürgers“ einer weiteren, oft verkürzt als Weltflucht interpretierten Anpassungsleistung des Individuums. „Ziel esoterischer Selbsttherapeutisierung ist es, Leiden an Kälte und Entfremdung zu beenden, innere Widerstände abzubauen, aktuell gefragte Kompetenzen aufzubauen, um im Hier und Jetzt erfolgreich zu sein“, so ihr Befund.

Politische Rehabilitation

Der Kongress könnte auch der Auftakt für eine Rehabilitation des politischen Aktivisten Peter Brückners sein. Der wichtige theoretische Impulsgeber des politischen Aufbruchs um 1968 wurde in den 70er Jahren zweimal von seiner Professur suspendiert, unter anderem, weil er sich nicht von der Mitherausgabe des damals vieldiskutierten Mescalero-Aufrufs distanzierte, der sich mit dem RAF-Anschlag auf dem Generalbundesanwalt Siegfried Buback aus der Position eines damaligen Sponti-Linken auseinandersetzte. Eine bundesweite Solidaritätsbewegung für die Wiedereinstellung Brückners war auch ein Signal gegen die berüchtigte bleierne Zeit der 70er Jahre, als der Staat im Namen des Kampfes gegen die Rote Armee Fraktion auch unangepasste Linke ins Visier nahm.

Wenige Monate nach einem siegreichen Rechtsstreit starb Brückner durch die jahrelangen Auseinandersetzungen zermürbt an Herzversagen. Wäre es 30 Jahre später nicht an der Zeit, am Beispiel Brückners deutlich zu machen, dass es politische Verfolgung eben durchaus nicht nur in der DDR gab? Diese auf dem Kongress gestellte Frage blieb vorerst unbeantwortet.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151550
Peter Nowak