Stimme der Verrückten

30 Jahre Irren-Offensive: Von der Selbsthilfegruppe zur Menschenrechtsorganisation

Am vergangenen Sonnabend feierte die Berliner Irren-Offensive ihr dreißigstes Jubiläum. Doch noch hat sie ihre Ziele nicht ganz erreicht. 
 Anfang der 80er Jahre boomten die sozialen Bewegungen. Nicht mehr nur die Arbeitsverhältnisse, sondern die Familie, Wohnen, die Gesundheit und auch die Psychiatrie wurden Gegenstand politischer Interventionen. Menschen, die zum Teil traumatische Erfahrungen mit psychiatrischen Einrichtungen gemacht hatten, schlossen sich in vielen Städten zusammen und wehrten sich gegen Zwangsbehandlungen und gesellschaftliche Ausgrenzung. Die 1980 in Westberlin gegründete Irren-Offensive ist damals entstanden.

Die Gruppe fordert die Abschaffung aller psychiatrischen Einrichtungen und hinterfragt die Klassifizierung von Menschen als geisteskrank. Mochten die Aktivisten zunächst als »arme Irre« belächelt worden sein, zeigte sich schnell, dass sie mit ihren Aktionen an akademische Debatten jener Zeit anknüpften.

Das theoretische Rüstzeug der Irren-Offensive sind die Schriften des US-Psychiaters Thomas Szasz und des französischen Philosophen Michel Foucault, der mit dem Buch »Wahnsinn und Gesellschaft« zu einem Pionier der Psychiatriekritik avancierte. Im Mai 1998 wurde er sogar zum Namensgeber eines Psychiatrie-Kongresses, den die Irren-Offensive mit internationaler Beteiligung in der Berliner Volksbühne organisierte. Auf diesem Foucault-Tribunal fungierten neben Szasz und der mittlerweile verstorbenen Berliner Publizistin Gerburg Treusch-Dieter auch der emeritierte Politologieprofessor Wolf-Dieter Narr als Ankläger. Der prominente Bürgerrechtler gehört bis heute zu den Unterstützern der Irren-Offensive. Auf der Jubiläumsfeier am Wochenende wurde Narr für sein Engagement der Freiheitspreis der Organisation verliehen. Vorige Preisträger waren Thomasz Sasz und der Berliner Rechtsanwalt Thomas Saschenbrecker für sein juristisches Wirken gegen psychiatrische Zwangsmaßnahmen.

Für das Buch zum Jubiläum verfasste Narr gemeinsam mit Rechtsanwälten ein sozialwissenschaftlich-juristisches Memorandum. Darin betonen die Autoren, dass die Formel von der Unteilbarkeit der Menschenrechte impliziert, dass diese auch vor der Psychiatrie nicht haltmachen dürfe.

Die Realität sieht freilich oft anders aus. Auch wenn in den letzten 30 Jahren manche Psychiatriereform auf den Weg gebracht wurde, bestehen die Zwangsgesetze weiter, erklärt Irren-Offensive-Aktivistin Alice Halmi. Darunter versteht die Organisation die Einweisung in psychiatrische Kliniken sowie die Verabreichung von Medikamenten ohne Einwilligung der Betroffenen.

Das Selbstverständnis der Gruppe hat sich allerdings im letzten Jahrzehnt verändert. »In den ersten Jahren war die Irren-Offensive eine Selbsthilfegruppe von Psychiatrieerfahrenen. Jetzt versteht sie sich als Menschenrechtsorganisation«, so Halmi gegenüber ND. Die Erkenntnis, dass psychiatrische Zwangsmaßnahmen die Menschenrechte verletzen, sei durch das Foucault-Tribunal wesentlich angestoßen worden. Darüber hinaus setzt sich die Irren-Offensive für eine Rehabilitierung der während der NS-Zeit als geisteskrank ermordeten und die unmittelbar nach dem Krieg in psychiatrischen Einrichtungen verhungerten Menschen ein.

Das Patientenverfügungsgesetz, das seit einem Jahr in Kraft ist und die Rechte von Patienten stärkt, ist auch für die Anti-Psychiatrie-Aktivisten ein großer Schritt. Sie sehen darin einen Hebel, um sich gegen Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie zu wehren. Sie haben mit Unterstützung von Juristen eine besondere Variante der Patientenverfügung für Psychiatrien ausformuliert und ins Netz gestellt. Betroffene müssen zwar häufig gegenüber Ärzten um die Anerkennung der Erklärung kämpfen, doch juristisch ist die Lage eindeutig: Eine »medizinische« Behandlung gegen den schriftlich erklärten und aktuellen Willen eines »Patienten« wird zur Körperverletzung und jede erzwungene Unterbringung zur »Freiheitsberaubung«, heißt es auf der Homepage.

ww.patverfue.de

http://www.neues-deutschland.de/artikel/182237.stimme-der-verrueckten.html

Peter Nowak


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