Jeden Morgen, wenn wir zur Arbeit fahren
Wird eine neue Seite ins Geschichtsbuch geschrieben
Wer schreibt sie? Geschieht Geschichte mit uns?
Oder machen wir unsere Geschichte?
Aus: Proletenpassion, Schmetterlinge …
… „Duisburg 1974: – Günter Routhier stirbt nach Sturz bei einem Polizeieinsatz“, heisst es kurz und knapp in dem Buch „111 Orte im Ruhrgebiet, die uns Geschichte erzählen“. Heute ist der Name kaum mehr bekannt. Doch vor 50 Jahren stand auf vielen Flugblättern und Häuserwänden die Parole „Rache für Günter Routhier“. In sämtlichen Spektren der linken Bewegung war der Frührentner ein Opfer für Polizeigewalt. Sie sahen sich durch Routhiers Tod in ihrer Ansicht bestätigt, dass die Polizei im Interesse des Kapitals gegen Arbeiter*innen vorgeht und sogar ihren Tod in Kauf nimmt. Wenn man sich 50 Jahre später mit den Hintergründen von Routhiers Tod beschäftigt, muss man feststellen, dass sie jenseits der pathetischen Sprache mit ihrer Einschätzung nicht falsch lagen.
Vor dem Duisburger Arbeitsgericht klagte ein am 5. Juni 1974 wegen eines Streikaufrufs entlassener Arbeiter von Mannesmann auf Wiedereinstellung. Er war Mitglied der KPD/ML und die Partei hatte Mitglieder und Sympathisant*innen zur solidarischen Prozessbegleitung aufgerufen. Auch der 46-jährige Günter Routhier war mit seinem Sohn einer der solidarischen Prozessbesucher.
Nach der Urteilsverkündung, in der die Entlassung des Arbeiters bestätigt wurde, gab es von Seiten der Zuschauer*innen Proteste. Daraufhin liess der Richter den Prozesssaal von der Polizei räumen, die schon in Zivil den Prozess beobachtet hatte. Es kam zu mehreren Verletzten. Auch Günter Routhier wurde geschlagen und stürzte auf der Treppe vor dem Gerichtssaal. Etwa zwei Wochen später verstarb er an einer Gehirnblutung. Denn er hatte eine Vorerkrankung, er war Bluter.
In der KPD/ML-Zeitung Roter Morgen (RM) wird über Routhier allerdings mit einer falschen Altersangabe berichtet: „Ein 50-järiger Mann, der mit seinem Sohn zum Prozess gekommen war, wird ebenfalls von den Polizeischlägern gepackt, in die Stuhlreihen gestürzt, verprügelt, aus dem Saal gezerrt und die Treppe hinuntergestossen, wobei er mehrmals mit dem Kopf auf den Boden schlägt und schliesslich ohnmächtig liegen bleibt“. Insgesamt wurden 6 Prozessbesucher*innen festgenommen und mit dem Polizeiwagen zur Wache gebracht. Routhier wurde nach Berichten von Augenzeug*innen auf dem Boden geworfen, wo er wegen der Schmerzen schrie. Sein Sohn habe den Polizisten mehrmals zu erklären versucht, dass sein Vater Bluter ist und dringend ärztliche Hilfe bräuchte.
Polizisten machten Jagd auf Menschen in schwarzer Trauerkleidung
Fast zwei Wochen ringt Routhier in der Essener Universitätsklinik künstlich beatmet mit dem Leben. Am 18. Juni 1974 wird er von den Ärzt*innen für Tod erklärt. Doch die Polizeirepression geht weiter. Alle Kundgebungen in Gedenken an Routhiers Tod werden im Ruhrgebiet verboten. Auch die Trauerkundgebung am Tag der Beerdigung von Routhier in Duisburg wurde verboten und mehrmals von der Polizei angegriffen.
Während der ganzen Trauerfeier kreisten zwei Polizeihubschrauber in geringer Höhe über die Grabstätte. „Zwischen 17 und 18 Uhr fuhren zwei Panzerspähwagen am Haupteingang des Friedhofes auf“, heisst es im Roten Morgen. Die Zeitung schrieb, dass die Polizei gezielt Jagd auf Schwarzgekleidete gemacht habe, womit in diesem Fall Menschen in dunkler Trauerbegleitung gemeint waren. Mehr als 100 Menschen wurden festgenommen.
Auch gegen Zeitungsverkäufer*innen und Flugblattverteiler*innen, die sich mit dem Fall Routhier befassten, gingen Polizei und Justiz vor. Die Behauptungen, dass Routhier von der Polizei ermordet worden sei, nahm die Justiz zum Anlass für zahlreiche Anklagen wegen Beleidigung. Die Prozesse zogen sich noch bis in die 1980er Jahre hin. Mehrere Menschen wurden zu hohen Geld- und teilweise auch Haftstrafen verurteilt. Der Tod von Routhier sorgte auch ausserhalb der kommunistischen Szene für Empörung. Der Dichter Erich Fried schrieb ein kurzes Gedicht zum Tod von Routhier. Der Liedermacher Walter Mossmann, der der undogmatischen Linken angehörte, verfasste die „Ballade vom zufälligen Tod in Duisburg“.
Dort lautete eine Strophe:
Den Günther Routhier schleppten sie
Die Treppe runter wie ein Vieh
Schleppten ihn ins Präsidium
Schleiften ihn dort – kopfunten – hoch
Brachten ihn um, ja! brachten ihn um
Zwei Wochen später war er tot
Wer schreibt die Geschichte?
Heute ist der Name von Günter Routhier, der Opfer von Polizeigewalt in der BRD war, weitgehend unbekannt. Wäre er ein Opfer der Repression in der DDR gewesen, die er und seine maoistische Partei sehr kritisch sahen, wäre sein 50ter Todestag Anlass für Gedenkveranstaltungen mit Vertreter*innen aller Parteien. Doch Repression gegen Oppositionelle darf es nach der offiziellen Geschichtsversion nur in der DDR nicht aber in der BRD geben, die als Reich von Freiheit und Demokratie dargestellt wird. Diese historische Amnesie hat Folgen. Dafür sorgen in die Staatsapparate eingebettene Historiker*innen wie Hedwig Richter oder Christina Morina, die in ihren Büchern immer wieder peinliche Loblieder auf den westdeutschen Kapitalismus singen. In ihrer Sprache heisst das dann „Tausend Aufbrüche. Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er Jahren“, so der Titel eines Buches, für das Morina kürzlich ausgezeichnet wurde.
Die Staatsapparate zeigen sich bei ihren Tuis, wie Brecht die im Staat eingebetteten Intellektuellen nennt. Der Historiker Markus Mohr gehört nicht dazu. Er erinnerte kürzlich in einem längeren Beitrag in der Rote Hilfe Zeitung (RHZ), der Publikation der Antirepressionszeitung Rote Hilfe, an Günter Routhier, der vor 50 Jahren Opfer von Staatsgewalt in der der BRD geworden war. Wenn wir heute an ihn erinnern, ist das auch ein Beitrag zur Aneignung unserer Geschichte im Sinne der Proletenpassion:
„Wer hat Interesse daran, dass wir es nicht wissen?
Wenn so vieles nicht in den Lehrbüchern steht?
Wer will, dass es nicht gelehrt wird?“
Peter Nowak