Auf wen berufen wir uns in unseren Kämpfen? Einige Anmerkungen zu einer Platypus-Veranstaltung

Jakobiner-Herrschaft oder Babeuf?

Taktische Überlegungen von Einheitsfronten mit irgendwelchen SPD-Vorständen sind daher heute kaum relevant. Umso wichtiger ist es, in den aktuellen Protestbewegungen, von Arbeitskämpfen bis zur Klimabewegung – die natürlich von bürgerlichem Bewusstsein getragen sind – auch die Geschichte der Klassenkämpfe zu vermitteln. Dazu gehören unzweifelhaft auch Babeuf und seine „Bewegung der Gleichen“.

Unter dem Titel „Was ist eine Partei für die Linke?“ lud die Platypus Affiliated Society am 22. Juni 2023 zu einer Diskussionsveranstaltung in die Berliner Humboldt-Universität ein.1 Mit der Auswahl der Diskutanten begrenzte man aber schon im Vorhinein das Diskussionsfeld. Man lud niemanden ein, der die Frage der Partei nicht als das größte Problem der gesellschaftlichen Linken ansah. Dabei propagierten Rätekommunist*innen schon vor mehr als 100 Jahren, dass die Revolution keine Parteisache sei. Daneben gibt es auch heute Linke, die zwar Parteien nicht grundsätzlich ablehnen, diese aber nicht als relevant für eine aktuelle linke Praxis ansehen. Bemerkenswert auf dem Podium war Stefan Schneiders (Klasse gegen Klasse) Bezug auf eine Schrift von Leo Trotzki im Exil, in der dieser sehr richtig dafür plädierte, …

… sich mit Blick auf die Französische Revolution auf deren fortschrittlichste Traditionen zu beziehen – also nicht auf Napoleon, der die Französische Revolution beendet hatte wie Stalin die Oktoberrevolution.

Doch dann fällt Trotzki als fortschrittlichster Teil der Französischen Revolution jener Jakobiner-Konvent ein, der eine Interessenvertretung des Bürgertums war und die Selbstorganisation der Plebejer, der Vorläufer des Proletariats, unterdrückte. Sie zu organisieren und einen Aufstand der Gleichheit vorzubereiten, war das Ziel der Assoziation „Verschwörung der Gleichen“. Die Orientierung an dem jakobinischen Konvent zeigt schon, dass damit an ein bürgerliches Konzept angeknüpft wird.

Verschiedene Trotzki-Zitate zu dem Thema

Nun muss man feststellen, dass Trotzki in seinen Aktivitäten und Schriften im Exil und in seinem Kampf gegen die stalinistische Konterrevolution eher eklektizistisch an Texte heranging. Er bediente sich unterschiedlicher Zitate, um bestimmte Bündnispartner*innen anzusprechen. Das wird in der Passage sehr deutlich, aus welcher Schneider zitierte:

Wir sind feste Partisanen eines Arbeiter- und Bauernstaates, der den Ausbeutern die Macht wegnehmen wird. Es ist unser erstes Ziel, die Mehrheit der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten für dieses Programm zu gewinnen. Solange die Mehrheit der Arbeiterklasse auf der Grundlage der bürgerlichen Demokratie verbleibt, sind wir bereit, diese mit all unseren Mitteln gegen die heftigen Angriffe der bonapartistischen und faschistischen Bourgeoisie zu verteidigen. Dennoch verlangen wir von unseren Klassenbrüdern, die dem „demokratischen“ Sozialismus anhängen, dass sie ihren Ideen treu bleiben, dass sie ihre Eingebung nicht aus den Ideen und Methoden der Dritten Republik ziehen, sondern aus der Verfassung von 1793. […] Nieder mit der Präsidentenschaft der Republik, die als Versteck für die konzentrierten Kräfte von Militarismus und Reaktion dient! Eine einzige Versammlung muss die legislative und die exekutive Gewalt verbinden.2

Im Verweis auf die „Klassenbrüder, die dem ‚demokratischen‘ Sozialismus anhängen“, wird deutlich, dass Trotzki sich hier an die Mitglieder der Sozialistischen Partei Frankreichs richtete, die er für sein Konzept einer Einheitsfront der Arbeiter*innenparteien gegen den Faschismus gewinnen wollte. Damit positionierte er sich auch gegen die Volksfrontpolitik der stalinistischen Kommunistischen Parteien, die neben den Arbeiter*innenparteien auch nicht-faschistische Fraktionen des Bürgertums in die Bündnisse einbeziehen wollte. Damit verbunden war natürlich die Aufgabe grundlegender kommunistischer Ziele. Wer mit den Faschisten um das Bürgertum konkurrieren will, muss selber viel von Staat und Nation reden und von Sozialismus, gar Kommunismus, möglichst schweigen. Auch Trotzki machte in der oben zitierten Passage erkennbar Konzessionen an seine sozialistischen Wunschpartner*innen von der Sozialistischen Partei, den zeitgenössischen Sozialdemokrat*innen. Solange die Mehrheit der Arbeiter*innenklasse auf der Grundlage der bürgerlichen Demokratie verbleibt, will er diese gegen die faschistischen und bonapartistischen Angriffe verteidigen. Trotzki hatte schon an anderer Stelle den Faschismus mit dem Bonapartismus verglichen und dabei auf eine Schrift von Marx verwiesen. Trotzki erwartet für diese Konzession an den Reformismus von dessen französischen Anhänger*innen, sich auf die Grundlage der Verfassung von 1793 zu stellen, daher der positive Bezug auf den Jakobiner-Konvent. Es handelt sich hierbei um eine taktische Konzession, was ja bereits in dem einleitenden Satz in der Passage deutlich wird. Wenn Trotzki es ernst meint mit dem Bekenntnis, Anhänger eines „Arbeiter- und Bauernstaates“ zu sein, „der den Ausbeutern die Macht wegnimmt“, so muss er auch anerkennen, dass das eigentlich ein Widerspruch zum positiven Bezug auf die Herrschaft der Jakobiner ist – denn diese Jakobiner-Herrschaft war auch die Herrschaft des Bürgertums, also die Ausbeuterordnung, die Trotzki abschaffen wollte.

Dass es sich bei dem Zitat um bündnispolitische Taktik handelt, zeigt sich auch an einem anderen Zitat, in dem Trotzki sich auf einen revolutionären Gegner der bürgerlichen Herrschaft und ihrer jakobinischen Vorläufer positiv bezieht:

Indem wir die Halbheit, Lügenhaftigkeit und Fäulnis der überlebten offiziellen sozialistischen Parteien verwerfen, fühlen wir, die in der Dritten Internationale vereinigten Kommunisten, uns als die direkten Forstsetzer der heroischen Anstrengungen und des Märtyrertums einer langen Reihe revolutionärer Generationen, von Babeuf bis Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg.3

Hier wird auch die Problematik einer Bündnispolitik deutlich, die nicht nur rhetorisch Zugeständnisse an den bürgerlichen Flügel der Arbeiter*innenbewegung macht, in diesem Fall an die französischen Sozialdemokrat*innen, die sich daher auch mit der Jakobiner-Herrschaft, die Aufstände von unten niederschlagen ließ und Babeuf aufs Schafott brachte, identifizierten. Für sie ist es nur konsequent, sich in diese Tradition zu stellen. Es ist aber seltsam, wenn sich Revolutionäre wie Trotzki als Zugeständnis an diese Kräfte ebenfalls positiv auf diese bürgerliche Jakobiner-Herrschaft beziehen, wenn er doch eigentlich in der Tradition derer steht, die von dieser Herrschaft und ihren Epigonen niedergeschlagen und ermordet wurden – wie Babeuf und viele namenlose Kämpfer*innen gegen die damals neue bürgerliche Unterdrückung. Kann man sich glaubwürdig in die Tradition eines Babeuf stellen und gleichzeitig aus taktischen Gründen die verschiedenen Phasen der bürgerlichen Herrschaft, die ihn hinrichten ließ, verteidigen?

Keine historische Frage

Diese Frage mussten sich nach der Novemberrevolution 1918 auch die Revolutionär*innen stellen, die eine Räterepublik forderten und von den deutschen Sozialdemokrat*innen wie Ebert und Noske massakriert wurden, indem die frühfaschistischen Freikorps auf sie gehetzt wurden. Als diese Freikorps, die schon im Januar 1919 bei der Niederschlagung der Arbeiter*innenaufstände das Hakenkreuz trugen und gegen Juden hetzten, die Sozialdemokratie nicht mehr brauchten und sie im Kapp-Putsch von der Macht verdrängen wollten, stellte sich die Frage ebenfalls. Sollte man mit denen ein Bündnis gegen den aufkommenden Faschismus eingehen, die erst die Rechten gegen die Arbeiter*innen bewaffnet hatten? Räterevolutionär*innen haben immer die Position vertreten, dass von rechts verhetzte Arbeiter*innen natürlich als Bündnispartner*innen in Streiks und Demonstrationen willkommen sind, wenn sie ihre Fehler erkannt haben. Eine solche Einheitsfront von unten, für die es ein Erfolg ist, wenn Menschen zu ihr hinzustoßen, die vorher auf der anderen Seite standen, ist aber etwas grundsätzlich anderes als Taktierereien, um mit den Spitzen von Sozialdemokrat*innen ein Wahlbündnis einzugehen und ihnen ideologisch entgegenzukommen. Letzteres führt zu den Widersprüchen, die die beiden Trotzki-Zitate zeigen.

Warum ist diese Frage heute noch aktuell?

Nun könnte man fragen, welche Relevanz solche Debatten im Jahr 2023 noch haben. Auf der eingangs erwähnten Platypus-Veranstaltung hat Ingar Solty davor gewarnt, dass ein endgültiges Verschwinden der Linkspartei aus den Parlamenten auch die gesellschaftliche Linke außerhalb der Partei weiter marginalisieren würde. Diesen Befund kann man sich auch als Kritiker der Parteiform nicht schönreden. Denn die Rätebewegung als große Alternative steht eben momentan – anders als vor 100 Jahren – nicht bereit, dafür aber verschiedene irrationalistische und faschistische Scheinalternativen. Gerade deshalb ist es noch wichtiger, von allen Taktierereien über Bündnisse mit bürgerlichen Parteien Abstand zu nehmen. Trotzki konnte vor 90 Jahren noch die Hoffnung auf Einheitsfronten auch mit sozialdemokratischen Führungen haben. Dabei waren ganze Arbeiter*innenmilieus mit den unterschiedlichen Parteien verbunden. Heute sind diese Bindungen verschwunden, Parteien werden kaum noch ernst genommen. Taktische Überlegungen von Einheitsfronten mit irgendwelchen SPD-Vorständen sind daher heute kaum relevant. Umso wichtiger ist es, in den aktuellen Protestbewegungen, von Arbeitskämpfen bis zur Klimabewegung – die natürlich von bürgerlichem Bewusstsein getragen sind – auch die Geschichte der Klassenkämpfe zu vermitteln. Dazu gehören unzweifelhaft auch Babeuf und seine „Bewegung der Gleichen“. Heute würden wir nicht mehr pathetisch von Märtyrertum reden wie Trotzki damals – aber wir sollten sie als Genoss*innen sehen, die damals schon gegen Ausbeutung und Unterdrückung in Form des Jakobinismus kämpften, der ein früher Ausdruck der Herrschaft des Bürgertums war. |Peter Nowak

Der Autor arbeitet als freier Journalist u.a. zu Themen der sozialen Bewegungen. Seine Texte finden sich unter: https://peter-nowak-journalist.de.


1 Eine Audio-Aufnahme der Veranstaltung ist online abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=8XktEYgm_jY.

2 Leo Trotzki: Ein Aktionsprogramm für Frankreich. Paris 1934. Online abrufbar unter: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1934/06/aktprog.htm#p16.

3 Die Kommunistische Internationale: Manifest der Kommunistischen Internationale an das Proletariat der ganzen Welt. Moskau 1919. Online abrufbar unter: https://www.sinistra.net/komintern/dok/1kmankiwpd.html.