Rückblick auf einen sozialen Aufbruch in Argentiinien vor mehr als 20 Jahren

Tragödie und Farce?

Allerdings müssen sich die linken Sozialaktivist*innen aus Argentinien wohl einige Fragen stellen. Sie wollten mit der Parole »Alle sollen gehen« ihre Ablehnung von Politik und Herrschaft ausdrücken, aber dieser Standpunkt war offenbar unkonkret genug, dass Milei und seine Unterstützer*innen sie zu einer Kampfansage an eine angebliche linke Politkaste umdeuten konnten, die durch einen starken Mann ersetzt werden sollte. Hier wird einmal mehr deutlich, dass soziale Bewegungen nicht bei der populistischen Ablehnung der Macht stehen bleiben dürfen.

In Argentinien wird demnächst ein Mann ins Amt eingeführt, der sich als Anarchokapitalist geriert: Javier Milei. Seine philosophischen Grundlagen sind aber nicht bei Bakunin und Kropotkin zu suchen, sondern bei der Ultrakapitalistin Ayn Rand, die viele Rechte in aller Welt inspirierte. Gemeinsam ist ihnen, dass sie am Staat nur das hassen, …

… was den Profitinteressen des Kapitals im Wege steht. Dazu gehört die Sozialgesetzgebung ebenso wie Umweltbestimmungen oder die Förderung von marginalisierten Menschen. Keineswegs sparen will der künftige argentinische Präsident allerdings beim repressiven Staatsapparat. Einigen seiner Gegner*innen drohte er schon öffentlich mit Repression, weil er offenbar nicht damit rechnet, dass sich Gewerkschaften, soziale Bewegungen und Feminist*innen ihre hart erkämpften Rechte widerstandslos wegnehmen lassen.

Auch dürfte Milei und der argentinischen Rechten, die ihn jüngst in der Stichwahl zur Präsidentschaft unterstützte, das Jahr 2001 in Erinnerung geblieben sein, als eine soziale Massenbewegung innerhalb kurzer Zeit gleich drei Präsidenten stürzte. Damals hatte die Bankenkrise die Massen auf die Straße getrieben; bald hatten sich Menschen in allen Ecken des Landes in den berühmten Nachbarschaftsversammlungen, spanisch: Assambleas, über ihre Probleme ausgetauscht. Die Erwerbslosenbewegung der Piqueteros blockierte zentrale Verkehrswege im Land, und schließlich sprang der Funke der Rebellion auch auf die Arbeitswelt über: In zahlreichen Fabriken übernahmen die Beschäftigten die Kontrolle über die Produktion. Zu regelrechten Aushängeschildern dieser Bewegung der Fabrikbesetzungen wurden die Textilfabrik Brukman und die Kachel­fabrik Zanon, sogar in Deutschland. Die seinerzeit starke internationale, globalisierungskritische Bewegung sah in Argentinien den erhofften sozialen Aufbruch.

Im damals viel beachteten Film »Mate, Ton und Produktion« von Susanne Dzeik und Kirsten Wagenschein, der auf Labournet.tv gestreamt werden kann, wird der rebellische Geist deutlich, der vor 20 Jahren große Teile der argentinischen Gesellschaft erfasste. »Alle sollen gehen« lautete damals die Parole der sozialen Bewegung – nun, zwei Jahrzehnte später, haben sich Milei und Co. den Slogan für ihre rechte Agenda angeeignet. Der kurze soziale Aufbruch in dem südamerikanischen Land ist hierzulande mittlerweile fast vergessen – umso mehr sei gerade jetzt daran erinnert.

Allerdings müssen sich die linken Sozialaktivist*innen aus Argentinien wohl einige Fragen stellen. Sie wollten mit der Parole »Alle sollen gehen« ihre Ablehnung von Politik und Herrschaft ausdrücken, aber dieser Standpunkt war offenbar unkonkret genug, dass Milei und seine Unterstützer*innen sie zu einer Kampfansage an eine angebliche linke Politkaste umdeuten konnten, die durch einen starken Mann ersetzt werden sollte. Hier wird einmal mehr deutlich, dass soziale Bewegungen nicht bei der populistischen Ablehnung der Macht stehen bleiben dürfen. Vielmehr brauchen wir eigene Organisationen, die für einen wirklichen Gegenentwurf zu den Verhältnissen stehen. Sonst gewinnen nach jedem kurzen sozialen Aufbruch doch wieder die Rechten. Peter Nowak

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