Auf den Spuren des anarchistischen Kongress in Saint Imier

Anarchismus ohne Geschichtsbewusstsein?

Peter Nowak hat sich einen Monat danach in dem Ort im Schweizer Jura umgesehen. Eine subjektive Betrachtung, mit der keine explizite Wertung über den anarchistischen Kongress Ende Juli in dem Städtchen im Schweizer Jura getroffen werden soll.

Vor knapp einen Monat stand das kleine Städtchen Saint Imier im Schweizer Jura im Blickpunkt der Weltöffentlichkeit. Tausende Anarchist*innen und Libertäre feierten dort den 150 Jahrestag der Gründung der Antiautoritären Internationale nach, eine der Geburtsstunden der Internationalen anarchistischen Bewegung. Was ist davon ein knapper Monat später übrig geblieben? Vor allem einige Graffiti, allerdings nicht besonders viele und eine Unmenge Aufkleber, die vor allem …

… rund um die Tagungszentren des anarchistischen Treffens Ende Juli noch immer an Zäunen und Laternenmasten prangen. Die Stadt St. Imier hatte diese Gebäude kostenlos den Kongressteilnehmer*innen zur Verfügung gestellt. 

Eine grosse Wiese diente als Schlafplatz für die vielen Kongressbesucher*innen. Gabriel Kuhn hat in der jungen Welt in einen Kongressbericht recht kurzweilig und humorvoll auch über die Probleme beschrieben, die sich den Anreisenden in dem Ort in den Bergen trotz des überaus freundlichen Empfangs stellen. Da gab es das Problem, wie kann mensch verhindern im Zelt im Schlaf nach unten zu rollen in dieser abschüssigen Gegend. Dieser Bericht hat mich auch motiviert, mich knapp 4 Wochen später auf die Suche nach dem, was von dem Massenevent geblieben ist und da stiess eben auf die Aufkleber. Besonders viele waren rund um die Wiese, die die als Schlafplatz dienten, zu finden. 

Es waren Aufkleber in vielen Sprachen, spanisch, französisch, englisch, deutsch und noch einigen andere. Das macht deutlich, wie international die Kongressbesucher*innen waren. Nicht verwunderlich, dass der Kampf gegen alle Arten von Homophobie, Rassismus, Sexismus und Faschismus inhaltlich auf den Aufklebern dominierten. Der Kampf gegen diese Unterdrückungsformen spielt in allen Ländern die Theorie und Praxis der libertären Bewegung die zentrale Rolle zu spielen und drückt sich eben auch in den Aufklebern auf.  

Auf einigen von ihnen wurden auch inhaltliche Differenzen deutlich. So gab es eine Aufkleber in französischer Sprache, die sich gegen die „deutsche Antifa“ richteten, der dort mangelnde Distanz zum deutschen Staat vorgeworfen wurde. Es würde mich natürlich interessieren, ob das Thema bzw. der Vorwurf auf dem anarchistischen Treffen eine Rolle spielte, ob er Gegenstand von Diskussionen war. Schliesslich handelt es sich ja schon um einen gravierenden Vorwurf, der eigentlich Gegenstand von inhaltlichen Diskussionen auf einen solchen Kongress sein sollte und nicht plakativ auf Aufklebern verbreitet werden sollte.

Kreml in Flammen – Anarchismus ohne Geschichtsbewusstsein?

Weniger Raum nahmen erstaunlicher Weise antimilitaristische Themen ein. Es gab einige Aufkleber, die sich konsequent gegen jeden Krieg und jeden Militarismus einsetzen, aber sie dominierten nicht. 

Dafür sind mir einige besonders martialische Aufkleber aufgefallen, für die Anarchist Black Cross Dresden verantwortlich zeichnete. Es zeigt den russischen Regierungssitz in Flammen und dazu die Parole „Bis der Kreml niederbrennt“. So verständlich der Wunsch nach dem Sturz der autoritären Herrschaft in Russland auch ist, so bleibt doch die Frage, ob Anarchist*innen in Deutschland so einfach die deutsche Geschichte hinter sich lassen können. 

Es war schliesslich die deutsche Wehrmacht, die in Russland vor gerade mal 80 Jahren verbrannte Erde und Millionen Tote zurückgelassen hat. Und nun rufen anarchistische Deutsche den russischen Regierungssitz wieder in Flammen setzen? Hätten sie sich nicht einfach mit den Angriffen russischer Kriegsgegner*innen auf Rekrutierungsbüros für das Militär begnügen können? Wie war das mit dem Hauptfeind, der im eigenen Land steht? Die deutsche Geschichte ist nun auch bei vielen Linken endgültig entsorgt. Das zeigte sich auch daran, dass auf keinen der Aufkleber der Kampf gegen den Antisemitismus auch nur thematisiert wurde.

Und wo blieb der Klassenkampf?

Aber auch soziale Themen und Klassenkampf blieben auf den Aufklebern eine Ausnahme. Das ist besonders deswegen erstaunlich, weil vor 150 Jahren genau dieser Kampf der Uhrenarbeiterinnen von Saint Imier die zentrale Rolle gespielt hat. Daran erinnerte pünktlich zum Jubiläum der Anfang 2023 auch in Deutschland in die Kinos gekommene Film „Unruh“. Daran erinnern aber auch in dem Städtchen Saint Imier zahlreiche Stelen, an denen ohne Verzerrung über den Kampf der Uhrenarbeiterinnen berichtet und auch erklärt wird, dass die Anarchist*innen dort eine wichtige Rolle spielte. Auch Kropotkin wird erwähnt. Es wird aber auch dargestellt, dass St. Imier noch bis in das 20 Jahrhundert ein Ort rebellischer Arbeiter*innen gewesen ist. 

Beim landesweiten Streik 1918 spielten auch die Arbeiter*innen von St. Imier und der Umgebung eine wichtige Rolle. Die Schweizer Polizei schoss dort auf streikende Arbeiter*innen. Heute sind auch die kleinen Häuser, in denen die Beschäftigten der Uhrenindustrie damals wohnten hübsch hergerichtet. Es wird auch erwähnt, dass die kleinen Gärten vor den Häusern auch zur Subsistenz der Bewohner*innen dienten. Nur von den Uhrenfabriken sieht man beim Rundgang durch Saint Imier zunächst nichts. Da muss man schon ein Stück aus der Stadt herausgeben. Auf der anderen Seite des Bahndamms findet man die modernen Fabrikhallen von Swiss Watch. Dort aber finden sich keine Spuren von dem grossen anarchistischen Kongress, dass es vor einem Monat in dem Ort gab. 

Vielleicht war da die Stadtreinigung schnell zu Gange? Oder wurden die Fabrikhallen auf dem Kongress ignoriert? Zumindest wenn man die Inhalte der Aufkleber betrachtet, könnte das der Fall sein. Aber diese Spuren an den Laternen geben nur einen subjektiven Eindruck, mit den keineswegs auf den Ablauf des Kongresses geschlossen werden soll. Es geht um das, was davon einen Monat später davon übrig geblieben ist.

Peter Nowak