Vorbei sind die Zeiten, in denen Menschen mit ansteckenden Infekten konsequent zu Hause blieben. Jeder und jede Fünfte schleppt sich so wieder zur Arbeit. Rund zehn Prozent tun dies sogar wissentlich mit Corona.

Krank zur Arbeit – zurück zur kapitalistischen Normalität

Zwei Drittel der Beschäftigten bemerken, dass der Zusammenhalt und die Zusammenarbeit darunter leiden. Es ist dabei nicht ganz klar, ob sich die Kritik nur auf die Zusammenarbeit in der Arbeitswelt bezieht oder auch auf die sozialen und politischen Kontakte unter den Kolleginnen und Kollegen. Die aber wären eine Voraussetzung, um gemeinsam auch Verbesserungen am Arbeitsplatz durchzusehen. Hier wäre auch der Ort für Kampagnen, die sich dagegen richten, dass Menschen krank zur Arbeit gehen – oder krank im Homeoffice arbeiten, denn durch den Wegfall der Ansteckungsgefahr könnte der Druck, sich selbst durchzuprügeln, erst recht zunehmen

Jeder und jede zehnte Beschäftigte geht selbst mit einem positiven Corona-Test und mildem Verlauf weiterhin ins Büro oder in den Betrieb. Jede und jeder Fünfte tut dies mit einem ansteckenden Infekt. Am häufigsten kommen die Mitarbeitenden bei Rückenschmerzen trotzdem in die Firma (49 Prozent). 72 Prozent kurieren sich nicht vollständig aus. Nur 28 Prozent der Deutschen bleiben bei Krankheit konsequent zu Hause und arbeiten nicht. Die unter 30-Jährigen erscheinen …

… häufiger als der Bevölkerungsdurchschnitt krank zur Arbeit. Dies sind Ergebnisse der repräsentativen Studie „Arbeiten 2022“ der pronova BKK, für die im September 2022 rund 1.200 Beschäftigte ab 18 Jahren befragt wurden.

Dieser Befund wird vor allem die Kapitalseite freuen. Schließlich gehörte es lange Zeit zur üblichen Praxis, dass sich Lohnabhängige auch mit unübersehbaren Krankheitssymptomen zur Arbeit schleppen sollten. Selbst eine Grippe wurde häufig bagatellisiert. Da halfen auch medizinische Warnungen über die potentiell gefährlichen Nebenwirkungen einer verschleppten Grippe wenig – und das Ansteckungsrisiko wurde ebenfalls meist ignoriert. Schließlich sollen im Kapitalismus möglichst alle funktionieren.

Und wer tatsächlich eher auf seinen Körper als auf den Chef gehört hat, stand schnell als Minderleister auf der betrieblichen Abschussliste. Es gab und gibt unter den Lohnabhängigen noch immer viele, die diese Kapitalideologie verinnerlicht haben und Menschen, die sich auskurieren und nicht krank zur Arbeit gehen, als Schwächlinge abwerten.

Der Arbeits- und Gesundheitswissenschaftler Wolfgang Hien, einer der Begründer der Arbeitergesundheitsbewegung in Deutschland, hatte immer wieder auch einen Teil der Belegschaften als Gegner, weil er darauf insistierte, dass Menschen bei der Lohnarbeit nicht Gesundheit und Leben riskieren sollen. In einer vernünftig organisierten Gesellschaft wäre der Begriff „Krankfeiern“ längst zum Unwort erklärt worden. Doch aktuell sind wir davon weit entfernt und das zeigt sich daran, das sich Menschen krank zur Arbeit schleppen.

Zunächst Wende durch Corona

Mit Beginn der ersten Corona-Infektionswelle änderte sich das Verhältnis zur Krankheit zunächst. Schließlich wurde der Kampf gegen Ansteckungen zur zentralen Aufgabe der Volksgesundheit erklärt. Plötzlich war es nicht mehr erwünscht, sich unter allen Umständen krank zur Arbeit oder wo auch immer hin zu schleppen.

Sogar an den Türen der Arztpraxen war die Warnung angebracht, wer Erkältungssymptome habe, solle bloß wieder nach Hause gehen. In dieser Zeit war viel autoritäre Staatlichkeit und linke Kritikunfähigkeit negativ zu verbuchen. Doch zu den wenigen positiven Effekten gehörte die Weigerung vieler Menschen, krank zur Arbeit zu gehen. Auch Krankschreibungen per Telefon wurden ermöglicht.

Die Gesundheit, die eigene aber auch die der Nachbarn, stand plötzlich scheinbar hoch im Kurs. Hier konnte eine Arbeitsgesundheitsbewegung ansetzen, die deutlich machte, dass nicht nur unter Corona der Grundsatz „Ich schufte mich nicht zu Tode“ gelten sollte.

Nun zeigen die Ergebnisse der Studie „Arbeit 2022“, dass die kapitalistische Normalität sich scheinbar auch hier wieder durchgesetzt hat. Obwohl Corona noch nicht vorbei ist, scheint sich der Trend, auch krank zur Lohnarbeit zu gehen, wieder durchzusetzen.

Nicht Corona verändert die Verhältnisse, sondern solidarisches Handeln

Nun dürfte diese Erkenntnis eigentlich nicht überraschen. Diejenigen, die von einer grundlegenden Verhaltensänderung durch die Pandemie sprachen, konnte man schon damals als naiv bezeichnen. Schon lange wurden diejenigen widerlegt, die davon schwärmten, dass die Post-Corona-Gesellschaft empathischer und solidarischer sein werde.

Da war einfach ausgeblendet worden, dass nicht Corona das menschliche Zusammenleben und die Lebens- und Arbeitsverhältnisse verändert, sondern das solidarische Handeln von Menschen gemeinsam. Gerade das aber war durch die Pandemie deutlich erschwert. Es entsteht auch der Eindruck, dass die große Bedeutung des solidarischen Handelns heute manchmal gerade von jüngeren Menschen vergessen wird – sicher auch, weil entsprechende Erfahrungen fehlen.

Ein solches solidarisches Handeln könnte beispielsweise eine Kampagne unter dem Motto „Lieber krankfeiern statt krank schuften“ sein, in deren Rahmen Menschen aufgefordert werden, nicht mit Krankheitssymptomen zur Arbeit zu gehen, weil sie damit sich selbst und auch ihre Freunde gefährden. Eine solche Kampagne könnte auch dazu beitragen, dass die Lohnarbeit wieder stärker ins Blickfeld einer sozialen Bewegung gerät.

Homeoffice wird weitgehend abgelehnt

Schließlich gibt es in der erwähnten Studie auch Detailergebnisse, die durchaus positiv eingeschätzt werden können. Nur zwei Prozent der unter 30-Jährigen und vier Prozent aller Befragten geben an, nicht mehr ins Büro kommen zu wollen und nur im Homeoffice sicher zu sein. Heimarbeit als ideale Dauerlösung ist durchgefallen: 64 Prozent möchten nicht für immer überwiegend im Homeoffice arbeiten.

Zwei Drittel der Beschäftigten bemerken, dass der Zusammenhalt und die Zusammenarbeit darunter leiden. Es ist dabei nicht ganz klar, ob sich die Kritik nur auf die Zusammenarbeit in der Arbeitswelt bezieht oder auch auf die sozialen und politischen Kontakte unter den Kolleginnen und Kollegen.

Die aber wären eine Voraussetzung, um gemeinsam auch Verbesserungen am Arbeitsplatz durchzusehen. Hier wäre auch der Ort für Kampagnen, die sich dagegen richten, dass Menschen krank zur Arbeit gehen – oder krank im Homeoffice arbeiten, denn durch den Wegfall der Ansteckungsgefahr könnte der Druck, sich selbst durchzuprügeln, erst recht zunehmen.(Peter Nowak)