Es ist ein negatives Zeichen, wenn auch von Linken Pazifist*innen und prinzipielle Kriegsgegner*innen schon fast in die Nähe des Verrats gerückt werden. Da können sie sich durchaus als Vorbild die Kriegsgegner*innen während des 1. Weltkriegs nehmen, die eben in allen Ländern nicht authentische Stimmen suchten, sondern antimilitärische Positionen sammelten für den Widerstand gegen den Krieg auf allen Seiten. 

Der Vorwurf des West-Splaining oder Verrat am Universalismus

Aktuell gibt es in manchen Städten Veranstaltungen mit Vertreter*innen linker Gruppen aus der Ukraine. Es ist sehr zu begrüßen, dass es diese Kommunikation gibt. Doch es gibt ein Manko. Vielen Linken in Deutschland geht nicht um eine kritische Auseinandersetzung mit den Positionen dieser ukrainischen Linken. Vielmehr ist es in manchen linken Kreisen geradezu verpönt, kritische Fragen an die ukrainischen Genoss*innen zu stellen. Selbst über Assow und die ukrainischen Faschisten will man nicht reden, wo man doch noch bei den Corona-Protesten so genau nach den Rechten gesehen hat. Und da sollen die Standbilder des ukrainischen Nationalisten und Antisemiten Bandera plötzlich egal sein?

Es gib sogar schon ein Fachwort für die, die die eigene linke Position auch vor den ukrainischen Linken nicht verbergen und da auch mal kritisch nachfragen. Dieses Wort lautet West-Splaining. Was ist damit gemeint? …

… Kurz gesagt werden mit den Vorwurf alle belegt, die noch an universalistischen linken Grundsätzen festhalten. Ein Beispiel aus früheren Jahren. Es wird eine authentische Stimme aus den arabischen Raum eingeladen, die mit regressiven Antizionismus Israel für fast alles Böse in der Welt verantwortlich macht und dem Land dann noch Pink-Washing vorwirft, weil dort – anders als in der Westbank und gar im Gaza-Streifen – Schwule und Lesben auf die Straße gehen können, ohne körperlichen Schaden zu nehmen. Die Linken in Deutschland wissen das und ihnen ist der Unterschied zwischen einer Kritik an der israelischen Regierung und der generellen Delegitimierung des Staates Israel bewusst. Doch ihre Postion wollen sie gegenüber den palästinensischen Vertreter*innen nicht äußern, denn er ist schließlich eine authentische Stimme aus der Region. Die Orte können variieren. Lange Zeit wurden vor allem Vertreter*innen von Guerillagruppen in aller Welt von jeder Kritik verschont, wenn sie in Deutschland auf Solidaritätstour waren. Da war es nicht gerne gesehen, wenn dann nach dem Umgang mit Dissident*innen innerhalb der Organisation gefragt wurde. Damals war der Begriff West-Splaining noch nicht bekannt, dafür wurden diejenigen, die kritisch nachfragten, damals des Eurozentrismus geziehen. 

Die authentischen Stimmen der Indigenen

Die meisten Guerillagruppen haben sich längst aufgelöst oder wurden besiegt. Doch noch immer gibt es diejenigen, die keine kritischen Fragen an die „authentischen Stimmen“ des globalen Südens mögen. Dieses Mal sind es oft Vertreter*innen indigener Teile der Bevölkerung, die oft außerhalb jeder Kritik gestellt werden. Dabei gäbe es auch da viele Fragen, beispielsweise nach den Hierarchien innerhalb vieler indigener Gemeinschaften. Oft werden Vertreter*innen der Indigenen in die Nähe heiliger Menschen gerückt, die angeblich anders als der materialistische Westen besonders nahe der Natur seien. Hier geht die Abwehr von jeder Kritik mit authentischen Stimmen aus dem globalen Süden besonders klar mit der Ablehnung von Zivilisation und Aufklärung einher. Auch Menschen aus der Alternativbewegung des globalen Nordens suchen bei ihnen Antworten und das kann dann schnell zu einer Art Religionsersatz werden. Da ist natürlich eine kritische Auseinandersetzung nicht erwünscht. Es sind dann gar nicht in erster Linie die Menschen aus dem globalen Süden, die man vor Kritik schützen will, sondern man will sich selber vor Positionen schützen, die man vielleicht selber einmal vertreten hat.  

Jetzt erklärt man ukrainische Linke zu authentischen Stimmen, denen man angeblich nur zuhören soll, aber ihnen kritische Fragen stellen ist oft nicht erwünscht. Da nimmt man die ukrainischen Linken in Wirklichkeit gar nicht ernst. Sie werden dann nur gebraucht, um die eigene Position mit dem Verweis auf die „authentischen Stimmen“ aus der Ukraine zu begründen. Da lernen dann auch mal manche außerparlamentarische Linke noch die Nato und die Bundeswehr lieben.

Kritische Debatte statt Verklärung authentischer Stimmen 

Tatsächlich eignen sich die Stimmen aus der Ukraine dann dazu, dass man so besser begründen kann, eigene linke Grundsätze über Bord geworfen zu haben, beispielsweise die Ablehnung von NATO und Hochrüstung. Tatsächlich ist das ganze Gerede von den authentischen Stimmen ein Mythos. Es ist Position bestimmter linker Ukrainer*innen, die gezielt von Linken in Deutschland eingeladen wurden, weil sie die eigenen Positionen bestätigen und mit dem Gütesiegel versehen sollen, das sagen doch die Menschen aus der Ukraine. Es ist daher nicht verwunderlich, welche Stimmen aus der Ukraine hier so gut wie nicht zu hören sind. Die, der Menschen, die vielleicht schon 2014 davor gewarnt haben, dass es für die Ukraine katastrophale Folgen haben könnte, wenn sie die Neutralitätspolitik zwischen Ost und West aufgeben. Es sind kaum Stimmen aus der Ostukraine zu hören und auch kaum von Anhänger*innen der heute in der Ukraine verbotenen Parteien. Das wären dann auch keine authentischen Stimmen aus der Ukraine, aber eben andere Stimmen. Dann würde deutlich, dass es durchaus Kritik an dem Kurs gab, den die Regierungen nach 2014 in Kiew eingeschlagen haben und der zur Vorgeschichte des aktuellen Krieges der russischen Nationalist*innen in der Ukraine gehört. 

Es ist bemerkenswert, dass die Menschen in der Ukraine, die solche kritischen Postionen vertreten, in Deutschland heute kaum zu hören sind. Das zeigt schon, dass es die „authentische Stimmen“ nicht gibt. Linke in Deutschland haben eine Postion beispielsweise zum russischen Krieg in der Ukraine und dann holt man sich die passende linke Position von vor Ort ab. Dann wird suggeriert, eine Kritik an der NATO wäre den ukrainischen Linken momentan nicht zuzumuten. Nur wird da vergessen, dass es die in der Ukraine durchaus gab, bis sie verboten wurde und eben auch gerade viele Linke in Deutschland nicht interessiert. Sonst hätten sie sich schon mehr für die Ukraine seit 2014 interessiert, wo es ja in den Ostgebieten seitdem einen Krieg auf niedrigen Niveau mit vielen Opfern auf Seiten der Zivilbevölkerung gibt. 

Es ist übrigens nicht nur im Fall der Ukraine so, dass sich die Linken in Deutschland aus dem Ausland die linken Stimmen holen, die zu ihren Positionen passen. So werden von antizionistischen Gruppen hierzulande gerne immer wieder bestimmte israelische Antizionist*innen eingeladen, die die Kritik an der israelischen Regierung dann beglaubigen als Stimme von vor Ort. Natürlich sind auch das keine authentischen Stimmen sondern eben kleine linke Gruppen. Es ist auch überhaupt nichts dagegen zu sagen, dass sich linke Gruppen ihre Position von Positionen aus den jeweiligen Ländern bestätigen lassen. Es ist vielmehr sogar positiv, wenn es möglich ist, sich mit diesen linken Positionen auch kritisch auseinandersetzen und in eine Debatte zu kommen. Negativ ist, wenn diese Debatte gar nicht erwünscht ist, und mit Verweis auf angeblich authentische Stimmen von Ort eine solche Diskussion sogar möglichst verhindert werden soll.

Vorbild Kriegsgegner*innen vor über 100 Jahren 

Dabei wären nicht angeblich authentische Stimmen sondern eine kritische Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Positionen der ukrainischen Linken ein sinnvolles Ziel. Dann könnte das Spektrum der Positionen noch erweitert werden. Neben Befürworter*innen einer Unterstützung mit NATO-Waffen und Anhänger*innen einer Neutralität der Ukraine könnten auch die wenigen Pazifist*innen aus der Ukraine mit die Debatte einbezogen werden, wie Ruslan Kotsaba, der sich weigert, eine Waffe in die Hand zu nehmen. Auch sie sind natürlich keine authentischen Stimmen, sondern besonders minoritäre Position, die auch einen besonderen Verfolgungsdruck ausgesetzt sind. Aber warum sollen gerade sie in einen linken Diskurs nicht gehört werden? Es ist auffällig, dass auch in linken Debatten pazifistischen Positionen schon fast Hass, mindestens aber Unverständnis entgegenschlägt. Dabei wird ausgeblendet, dass es ausgearbeitete Positionen des gewaltfreien Widerstands gibt, die nichts mit Wehrlosigkeit, wohl aber mit Antimilitarismus zu tun haben. Dazu gebe es eine sehr gute Diskussionsveranstaltung zur Eröffnung der diesjährigen Anarchistischen Buchtage in Mannheim, die hier nachgehört werden kann. Es ist ein negatives Zeichen, wenn auch von Linken Pazifist*innen und prinzipielle Kriegsgegner*innen schon fast in die Nähe des Verrats gerückt werden. Da können sie sich durchaus als Vorbild die Kriegsgegner*innen während des 1. Weltkriegs nehmen, die eben in allen Ländern nicht authentische Stimmen suchten, sondern antimilitärische Positionen sammelten für den Widerstand gegen den Krieg auf allen Seiten. 

Der Journalist Axel Berger schrieb im Neuen Deutschland über diese kleine linke Strömung:

„Demgegenüber waren es lediglich winzige Minderheiten in oder auch schon jenseits der offiziellen Arbeiterparteien, die sich verzweifelt dem Kurs entgegenstemmten. Unter ihnen verfügten lediglich die russischen Bolschewiki zunächst über eine halbwegs funktionierende Organisation.“ 

Bald wuchsen diese kleinen Minderheiten zu großen Protestbewegungen an, weil sich die blutige Realität des Krieges auf allen Seiten gezeigt hat, wie jetzt auch in der Ukraine. Daraus wurde ab 1917 eine universalistische Massenbewegung, die für ein sofortiges Ende des Kriegs auf allen Seiten eintrat. Genau eine solche antimilitärische Bewegung braucht es heute wieder, in Russland, in Belorussland, aber auch in der Ukraine und dem globalen Westen. Dazu brauchen wir nicht „authentische Stimmen“, denen wir kritiklos lauschen, sondern kritische Diskussion zwischen Linken aller Länder. Und der reaktionäre Begriff West- oder Ost-Splaining sollte eingemottet werden. Er ist eine Absage an einen linken Universalismus. Peter Nowak