Der Vorwurf des "Westsplaining" – eine Absage an den Universalismus.

Der Mythos von den authentischen Stimmen aus der Ukraine

Das große Problem der Linken heute ist, dass universalistischen Grundsätze verloren gegangen sind. Was hat es zu bedeuten, wenn Ewgenly Kasakows Beobachtung im konkret-Beitrag richtig ist, dass die ukrainischen Linken ihre Beiträge auch unwidersprochen vor einer FDP-nahen Stiftung hätten halten können, aber auch bei den Linken Buchtagen und eine linke kritische Stimme abgewehrt wurde? Klingen diese deutschen Linken dann bald auch so, dass sie bei Friedrich-Naumann-Stiftung unwidersprochen auftreten können? (

„Die Ukraine, der Krieg und die westliche Linke“ lautete der Titel einer Diskussionsveranstaltung auf den Linken Buchtagen im Mai in Berlin. Der Publizist Ewgeniy Kasakow, der die Veranstaltung beobachtete, hatte in einem Beitrag in der Wochenzeitung konkret erstaunliches zu vermelden. Da wurden auf einer Veranstaltung der Linken Buchtage die ukrainischen Linken tatsächlich gefragt, wie sie zu den rechten Kräften von Asow oder dem in der Ukraine über die Ultrarechte hinaus beliebten Antisemiten Stepan Bandera stehen. Zudem sei aus dem Publikum die Meinung geäußert worden, dass Linke weder Vater- noch Mutterland haben und daher auch nicht dafür in den Krieg ziehen sollen. Ewgeniy Kasakow kommt zu dem Schluss, dass es hier um eine Postion emanzipativer Linker gehe. Doch ein Teil des Publikums sei von der Wortmeldung nicht angetan gewesen. Schließlich seien ja zwei …

… ukrainische Linke auf dem Podium gewesen und diese „authentischen Stimmen“, die sich laut Kasakow so positionierten, dass sie auch bei der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung auf Zustimmung gestoßen wären, sollten mit solchen linken Positionen nicht behelligt werden.

Denn womöglich gehen diese authentischen Stimmen der ukrainischen Linken dann auch tatsächlich zur FDP. Schließlich hat die wesentlich mehr Einfluss, wenn es um die begehrten Nato-Waffen geht. Auch wenn Teile der einflusslosen außerparlamentarischen Linken in Deutschland nicht erst seit dem Ukraine-Krieg den Eindruck erwecken, Teil einer ganz großen Koalition zu sein, kommt es einfach auf sie nicht an. Trotzdem geben sie sich schon so realpolitisch und benehmen sich, als säßen sie im Außenministerium und führten binationale Verhandlungen, wenn sie Gäste aus dem Ausland zu Besuch haben.

„Westsplaining“ – ein Begriff aus dem Umfeld der Identitätspolitik

Es gib sogar schon ein Fachwort, um zu begründen, warum die eigene linke Position möglichst gut verborgen werden soll, wenn man mit Gruppen aus nichtwestlichen Ländern redet, von denen man weiß, dass sie solche linken Positionen nicht mögen: Man wolle schließlich kein „Westsplaining“ betreiben.

Was ist damit gemeint? Ein Beispiel aus früheren Jahren: Es wird eine „authentische Stimme“ aus den arabischen Raum eingeladen, die mit regressiven Antizionismus Israel für fast alles Böse in der Welt verantwortlich macht und dem Land dann noch „Pinkwashing“ vorwirft, weil dort – anders als in der Westbank und gar im Gazastreifen – Schwule und Lesben als solche erkennbar auf die Straße gehen können, ohne körperlichen Schaden zu nehmen.

Die Linken in Deutschland wissen das und sie haben sich auch mit dem Unterschied zwischen Kritik an der israelischen Regierung und einer generellen Delegitimierung des Staates Israel befasst. Doch ihre Postion wollen sie in Gegenwart des palästinensischen Vertreters nicht äußern, denn er ist schließlich eine authentische Stimme aus der Region. Die Orte können variieren. Lange Zeit wurden vor allen Vertreter von Guerillagruppen in aller Welt von jeder Kritik verschont, wenn sie in Deutschland auf Solidaritätstour waren.

Da war es nicht gerne gesehen, wenn dann nach Dissidenten aus deren Organisationen gefragt wurde, die verschwunden waren und sogar in ermordet wurden, wie innerhalb einer Guerillagruppe in El Salvador Anfang der 1980er-Jahre geschehen. Damals war der Begriff Westsplaining noch nicht bekannt, dafür wurden diejenigen, die kritisch nachfragten, damals des Eurozentrismus geziehen.

Die authentischen Stimmen der Indigenen

Die meisten Guerillagruppen haben sich längst aufgelöst oder wurden besiegt. Doch noch immer gibt es diejenigen, die keine kritischen Fragen an die authentischen Stimmen des Globalen Südens mögen. Dieses Mal sind es oft Vertreter indigener Teile der Bevölkerung, die oft außerhalb jeder Kritik gestellt werden.

Dabei gäbe es auch da viele Fragen, beispielsweise nach den Hierarchien innerhalb vieler indigener Gemeinschaften und auch nach dem Problem, dass vor allem junge Menschen in diesen indigenen Gemeinden schnell angegriffen werden, wenn sie lieber westlichen Konsum als in indigenen Gemeinden leben wollen.

Oft werden Vertreter der Indigenen in die Nähe heiliger Menschen gerückt, die anders als der materialistische Westen besonders naturnah seien. Hier geht die Abwehr von jeder Kritik an authentischen Stimmen aus dem Globalen Süden besonders klar mit der Ablehnung von Zivilisation und Aufklärung einher.

Auch Menschen aus der Alternativbewegung des Globalen Nordens suchen bei ihnen Antworten – und das kann dann schnell zu einer Art Religionsersatz werden. Da ist natürlich eine kritische Auseinandersetzung nicht erwünscht. Es sind dann gar nicht in erster Linie die Menschen aus dem Globalen Süden, die man vor Kritik schützen will, sondern man will sich selbst vor Positionen schützen, die man vielleicht früher einmal vertreten hat.

Es gab schon in den 1980er-Jahren kritische Linke, die sich gegen die Mythologisierung dieser angeblich authentischen Stimmen aus dem Globalen Süden wandten. Sie wiesen auch darauf hin, dass es sich dabei um ein Konstrukt handelt.

Es gibt „die“ authentischen Stimmen des jeweiligen Landes im Globalen Süden nicht. Es handelt sich vielmehr um Linke mit bestimmten Positionen in ihren Ländern, die von hiesigen Linken gerade wegen dieser Positionen eingeladen wurden – oder um Vertreter „nationaler Befreiungsbewegungen“, denen Antiimperialismus zugutegehalten wird, deren Positionen hier aber in vieler Hinsicht eher nicht als links betrachtet würden, kämen sie von Einheimischen.

Statt einer kritischen Auseinandersetzung geht es hier um Identifikation. Die Linken, die diese Identitätspolitik kritisierte, wurden in den 1980er und 1990er-Jahren politisch sozialisiert. Viele von ihnen kamen in der Wochenzeitung Jungle World zu Wort, die immer wieder kritisierte, dass bestimmte Linke mit Verweis auf authentische Stimmen aus anderen Ländern Kritik ausschließen wollten.

Fast alle größeren politischen Bewegungen der letzten 25 Jahren in aller Welt wurden von der Redaktion kritisch betrachtet. Es wurde auch oft hinterfragt, warum diese und jene Bewegung in Deutschland unterstützt wird. Auch die Repression des spanischen Staates gegen die katalanische Nationalbewegung war für die Jungle-World-Redaktion kein Grund, genau diese Bewegung nicht kritisch zu betrachten und zu fragen, wo eigentlich der emanzipatorische Gehalt der Bewegung ist.

Auch damals gab es Linke, die die „authentischen Stimmen“ nicht mit kritischen Fragen behelligen wollten. Sie warfen der Jungle World und anderen kritischen Stimmen dann unsolidarisches Verhalten vor, heute würden sie im Fall osteuropäischer Stimmen wohl von Westsplaining reden.

Die Jungle World und die authentischen Stimmen

Da ist es umso erstaunlicher, dass die anfangs erwähnte Veranstaltung mit den ukrainischen Linken von der Jungle World mitorganisiert wurde. Nun könnte man denken, dass sie sicherlich kritische Fragen an die ukrainischen Linken gestellt und das Konzept der „authentischen Stimmen“ hinterfragt hätten. Doch nichts dergleichen geschah.

Man hatte den Eindruck, dass all das, was über Jahre an Kritik an linker Identitätspolitik geäußert wurde – und an einer Überidentifizierung mit bestimmten, mehr oder weniger linken Gruppen in fernen Ländern, die zu authentischen Stimmen mystifiziert wurden – spätestens mit Beginn des Ukraine-Kriegs vergessen wurde. Dann ist sogar eine Frage nach dem Asow-Regiment und anderen Ultrarechten in der Ukraine verpönt – und das bei einer linken Strömung, die bekannt dafür war, besonders gründlich nach den Rechten in gesellschaftlichen Bewegungen geschaut zu haben.

Wie kommt es nun, dass die einen Bandera in der Ukraine selbst dann nicht sehen wollen, wenn er überlebensgroß als Denkmal in den ukrainischen Städten zu sehen ist? Warum wird sogar der abgegriffene Begriff der authentischen Stimmen verwendet, wenn doch klar ist, dass es sich um Positionierungen bestimmter Gruppen handelt?

jahrzehntelang wurde gut begründet, warum der Terminus der authentischen Stimmen aus dem linken Diskurs verschwinden sollte. Und dann wird er ohne jede Begründung und Diskussion im Ukraine-Konflikt wieder rehabilitiert. Warum – und warum ohne jede Diskussion, wenn man so schnell die eigenen Positionen über Bord wirft?

Könnte die Abwehr linker Kritik genau wie bei den Freunden der authentischen Stimmen aus Nicaragua, El Salvador und Co. vielleicht auch damit zusammenhängen, dass man ein Identifikationsobjekt braucht – und sich nicht mit Positionen verunsichern lassen will, die man selbst über Jahre hinweg vertreten hat?

Zeigt sich nicht gerade am Beispiel der Ukraine sehr gut, wie berechtigt die Kritik am Konzept der authentischen Stimmen ist? So wird einfach ausgeblendet, dass man in der Regel nur mit prowestlichen Ukrainern Kontakt hat. Vergessen wird, dass es in der Ukraine Menschen gibt, die die ganze politische Entwicklung in der Ukraine spätestens 2014 kritisch betrachteten und auch nach Ansicht eines Unterstützers der Ukraine wie Brian Milakovsky allen Grund hatten, wie er im Interview mit der Jungle World erklärte.

Der Euromaidan war ein enormer gesellschaftlicher Konflikt, der die große Unzufriedenheit mit den Verhältnissen in der Ukraine und der Regierung Wiktor Janukowytschs an die Oberfläche brachte. Viele verschiedene politischen Kräfte gingen auf die Straße. Das waren viele liberale und selbst einige linke Bewegungen, aber auch Kräfte, die vielen im Osten der Ukraine nicht geheuer waren. Nationalisten, von moderat bis furchteinflößend.


Brian Milakovsky im Gespräch mit der Jungle World

Es wäre schon viel gewonnen, wenn auf diese kritischen und selbstkritischen Töne mehr gehört würde. Wenn außerparlamentarische Linke wieder auf ihre Instrumente besinnen würden. Dazu gehört die Kritik aller Bewegungen und Verhältnisse und nicht die Imitation von Realpolitik als Farce.

Das würde bedeuten, die ukrainischen Linken einzuladen, die für eine Nato-Unterstützung sind, um mit ihnen in eine kritische Diskussion zu treten. Das ist kein einseitiger Dialog. So ist völlig richtig, wenn ukrainische Linke kritisieren, dass hierzulande viel über die Ehrung des Antisemiten Bandera in der Ukraine geredet wird, aber verschwiegen wird, dass viele der in Deutschland geehrte Männer des 20. Juni, die Hitler-Attentäter, zum Teil ebenfalls Antisemiten waren.

Das hieße aber nicht, dass der Bandera-Kult nicht mehr kritisiert werden darf, sondern es hieße, die Kritik an Stauffenberg und Co., die es ja auch in Teilen der antinationalen Linken gibt, zu intensivieren.

Mit einer solchen Auseinandersetzung würde man die ukrainischen Linken ernst nehmen. Wenn man sie aber von jeder Kritik abschottet, dann nimmt man sie gerade als Linke nicht ernst, sondern nutzt sie als Identifikationsfiguren, um die eigene Abkehr von früheren linken Positionen zu erklären. Nur dann kommt man auf die Idee, von authentischen Stimmen zu reden. Das ist eine Absage an Universalismus.

Im Streit um antisemitische Gemälde auf der Kasseler Documenta gab es auch Menschen, die die Künstler als „authentische Stimmen des Globalen Südens“ von der Kritik schützen sollten. Es gab aber zum Glück auch Menschen, die dem entgegenhielten, es gebe in allen Ländern Linke, die sich mit Antisemitismus auseinandersetzen.

Es wäre gerade zu eine Herabsetzung, Künstler aus Indonesien oder anderen Ländern von dieser Kritik auszunehmen. Genauso ist es im Grunde eine Herabsetzung der ukrainischen Linken, wenn man sie nicht in eine kritische linke Auseinandersetzung einbezieht, die es in allen Ländern gibt.

Man braucht nur einen Exkurs zum Ersten Weltkrieg zu unternehmen. Die Zimmerwalder Linke suchte nicht authentische Stimmen, die dafür plädierten, das eigene Vaterland zu verteidigen. Sie suchten die minoritären Stimmen derer, die kein Vaterland und auch kein Mutterland verteidigen wollten, wie Axel Berger im Neuen Deutschland noch einmal gut zusammengefasst hat. Sie wandten sich gegen die Sichtweise, dass wahrer Internationalismus darin bestehe, dass sich jeder Sozialist für die Interessen der eigenen Nation abschlachten lässt.

Demgegenüber waren es lediglich winzige Minderheiten in oder auch schon jenseits der offiziellen Arbeiterparteien, die sich verzweifelt dem Kurs entgegenstemmten. Unter ihnen verfügten lediglich die russischen Bolschewiki zunächst über eine halbwegs funktionierende Organisation.


Axel Berger, Neues Deutschland

Als die Realität des Krieges immer deutlicher zutage trat, wurde aus den winzigen Minderheiten Massenbewegungen. Damals ging es eben nicht um Ost- und Westsplaining, sondern um eine universalistische Linke, die erkannt hatte, dass sie mit den Ausgebeuteten und Kriegsmüden über Ländergrenzen hinweg viel mehr gemeinsam hat, als mit den jeweiligen Bourgeoisien „ihrer“ Länder.

Das große Problem der Linken heute ist, dass solche universalistischen Grundsätze verloren gegangen sind. Was hat es zu bedeuten, wenn Kasakows Beobachtung im konkret-Beitrag richtig ist, dass die ukrainischen Linken ihre Beiträge auch unwidersprochen vor einer FDP-nahen Stiftung hätten halten können, aber auch bei den Linken Buchtagen und eine linke kritische Stimme abgewehrt wurde? Klingen diese deutschen Linken dann bald auch so, dass sie bei Friedrich-Naumann-Stiftung unwidersprochen auftreten können? (Peter Nowak)