Die prorussischen Bewohner des Landes zählen im Westen schon mal nicht – sie werden seit den Tagen des Maidan als lästiger Störfaktor gesehen

Wer ist gemeint, wenn „die Ukraine“ verteidigt werden soll?

Während so viel über "die" Ukraine geredet wird, die verteidigt werden soll, bleibt erstaunlich unterbelichtet, dass ein Großteil der Bevölkerung in der Ukraine heute massive Probleme hat, mit ihren geringen Einkommen überleben zu können. Daher boomt dort auch das Geschäft mit der Leihmutterschaft und findet mit dem Roman "Hundepark" sogar Eingang in die Literatur. In die Debatten auch großer Teile der Linken sind diese Erkenntnisse scheinbar nicht vorgedrungen. Dort sollte besser über das Leben und Überleben vieler Menschen in der heutigen Ukraine geredet werden, als über die Verteidigung der Maidan-Ukraine.

„Wie wehrhaft ist die Ukraine?“ – „Olaf Scholz wird seiner Aufgabe nicht gerecht“ und „Dialog und Härte“. Das waren Überschriften von drei längeren Artikeln in der taz vom vergangenen Wochenende zum Ukraine-Konflikt. Die drei Beiträge stammen von unterschiedlichen Autoren, haben aber eine klare Aussage: Der Westen muss …

… Russland klare Grenzen zeigen und Deutschland soll dabei eine zentrale Rolle spielen.

Geschichtsrevisionistische Töne

Besonders prägnant brachte das Julia Friedrich vom Think Thank Global Public Policy Instituteauf den Punkt:

Doch anstatt mit Härte gegenzusteuern, ist man in Berlin damit beschäftigt, verirrten Marine-Offizieren und Politiker*innen insbesondere des linken Spektrums Selbstverständlichkeiten immer wieder zu erklären: Die Annexion der Krim war völkerrechtswidrig. Der Kreml ist kein „verlässlicher Partner“. 

Moskau hat jeglicher Form zivilen Aktivismus die Daumenschrauben angelegt: Die älteste, bekannteste Menschenrechtsorganisation Memorial wurde liquidiert, Alexei Nawalny persönlich erst diese Woche zum „Terroristen“ deklariert.“


Julia Friedrich, taz

Da merkt man schon, dass mehr als 80 Jahre nach Beginn des deutschen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion die Schamfrist endgültig vorbei ist. Friedrich will mit einer Politik der Härte nicht nur das Verhältnis zur Ukraine, sondern auch die Innenpolitik von Russland bestimmen. Selbst geschichtsrevisionistische Anklänge findet man in ihrem Text, wenn sie die Absage der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) an die Forderung nach Waffenlieferungen an die Ukraine kritisiert.

Baerbocks jüngste Äußerung in Kiew, dass Deutschland keine Waffen in die Ukraine liefern könne aufgrund der historischen Verantwortung gegenüber Russland, zeugt davon, wie weit Berlin von der Lage vor Ort entfernt ist. Für Ukrainer*innen, deren Land während des Zweiten Weltkriegs von Nazideutschland okkupiert wurde und einer der Hauptschauplätze des Holocausts war, wirkte das wie Hohn.


Julia Friedrich, taz

Ein Hohn auf die historische Wahrheit ist diese Geschichtserzählung. Tatsächlich war damals die Ukraine Teil der Sowjetunion, die von deutschen Mordgesellen okkupiert und ausgeplündert wurde.

Ja, es ist noch perfider, die politischen Kräfte, die bereits damals für einen eigenen ukrainischen Nationalstaat außerhalb der Sowjetunion eingetreten waren, biederten sich den Nazis an und leisteten Hilfsdienste bei den Massenmorden an ukrainischen Jüdinnen und Juden wie am 29. und 30. September 1941 in der Schlucht von Babyn Jar wenige Kilometer von der Kiewer Innenstadt.

Friedrich will damit die Rolle der Ukraine als Teil der Sowjetunion negieren und rekurriert ausgerechnet auf den ukrainischen Nationalismus, der mit den Nazis kooperierte. Heute sind in vielen westukrainischen Städten Straßen nach dem ukrainischen Nationalisten Stepan Banderabenannt, der ganz offen mit den Nazis zusammenarbeitete. Der Antisemitismus war die gemeinsame Klammer. Vor allem in westukrainischen Städten, die heute Hochburgen des Nationalismus sind, wie in Lviv, ist der Kult um Bandera bis heute groß.

Als gescheiterter Nazikollaborateur ist Bandera aber nicht nur in Russland, sondern auch in großen Teilen der Ostukraine verhasst. Das zeigt eine Banalität, die häufig vergessen wird: Es gibt „die“ Ukraine gar nicht, die jetzt angeblich unisono vor dem russischen Einfluss bewahrt werden soll.

Konflikt zwischen Maidan und Anti-Maidan

Vielmehr ist auch Ukraine ein vielerlei Hinsicht gespaltenes Land. Der Konflikt zwischen pro- und antirussischen Kräften spitzte sich nach den Maidan-Ereignissen zu. Aber schon damals sprachen viele deutsche Politiker und Medien von „der“ Ukraine, wenn sie den vom Maidan in Kiew ausgehenden Umsturz und die Folgen meinten. Schließlich schickten auch deutsche Politiker Glückwünsche – und so lautete der allgemeine Tenor, jetzt habe auch in der Ukraine Freedom and Democary gesiegt.

Wer da noch was dagegen hatte, galt als Prorusse und Antidemokrat, der es nicht verdiente, in der hiesigen Presse erwähnt zu werden. Dass es 2014 vor allem in der Ostukraine zahlreiche Anti-Maidan-Aktionen gegeben hat, die auch von Teilen der Bevölkerung unterstützt wurden, fand in den Medien hierzulande kaum Erwähnung.

Für die öffentliche Meinung waren die Maidan-Proteste „die“ Ukraine und der Anti-Maidan nur ein lästiger Störfaktor. Daher gab es auch keine große Empörung, als nach der gewaltsamen Zerstörung eines Anti-Maidan-Protest-Camps 48 Menschen starben, nachdem sie im Gewerkschaftshaus von Odessa Zuflucht gesucht hatten und dieses angezündet wurde. Der Journalist und Filmemacher Ulrich Heyden gehörte zu den wenigen, die über die Opfer des Massakers und die Verantwortlichen recherchierten. So entstand der Film „Lauffeuer“.

Sofort wurde der Vorwurf erhoben, der Film sei prorussisch. Tatsächlich kommen dort nur die Angehörigen der Opfer zu Wort. Niemand aus dem Spektrum der ukrainischen Nationalisten, von denen der Angriff ausgegangen war, wollte mit dem Regisseur sprechen.

Doch hier zeigte sich, dass Heyden das Dogma verletzt hat, dass „die“ Ukraine nur aus den Kräften bestehe, die möglichst schnell im Westen ankommen wollen. Tatsächlich haben diese Kräfte noch allerlei Rechte im Schlepptau, die beim Kampf gegen eine Ukraine als Teil der Sowjetunion auch mit den Nazis zusammengearbeitet hatten.

Heyden zeigte, dass es „die Ukraine“ in den Tagen der Maidan-Protesten genau so wenig gab wie heute. Was also ist gemeint, wenn „wir“ uns jetzt hinter „die“ Ukraine“ stellen sollen, wie es von allen möglichen Medien und Politikern gefordert wird? Da braucht gar nicht erst erklärt zu werden, wer zu dieser Ukraine gehört und wer nicht. Dazu gehören auf jeden Fall die ehemaligen Nazi-Verbündeten, denen man aber auferlegt, sie sollen sich gefälligst modernisieren und nicht mehr über die Stränge zu schlagen.

Nicht zu „der“ Ukraine gehören auf jeden Fall die Prorussen, auch wenn die im östlichen Teil des Landes die Mehrheit stellen. Sie werden in der Regel auch nicht gefragt, wenn Journalisten Stimmen aus der Ukraine einholen.

Grüne Liebe zur Ukraine

Dass hier gerade das den Grünen nahestehende Spektrum besondere Ambitionen bei der Verteidigung der Maidan-Ukraine an den Tag legt, hat historische Gründe, die gerne mal analytisch aufgearbeitet werden dürfen. Seit den Gründungstagen der Grünen fordert in dieser Partei eine außenpolitische Strömung die Zerstörung des Systems von Jalta, mit dem nach der Zerschlagung des Nazi-Deutschlands die europäischen Nachkriegsgrenzen festgelegt wurden.

Klar ist ein solcher staatsmännischer Akt von Politikern, die über das Schicksal von Millionen Menschen entscheiden, generell zu hinterfragen. Wenn aber in Deutschland dem System von Jalta der Kampf angesagt wurde, waren bestimmte rechte Strömungen nicht weit, die noch immer davon träumten, das zu vollenden, woran Hitler gescheitert war, die Zerstörung der Sowjetunion. Als ihr Wunschtraum 1991 eintrat, sahen sich diese Strömungen natürlich auf der Seite der Sieger.

Sie wollten dafür sorgen, dass Russland die Lektion lernt und es gar nicht erst wagt, neue Bündnisse auch in Osteuropa zu schließen, beispielsweise mit den prorussischen Kräften in der Ukraine, die ja nach der deutschen Lesart eben nicht „die“ Ukraine sind und es daher auch nicht wert sind, verteidigt zu werden. Während so viel über „die“ Ukraine geredet wird, die verteidigt werden soll, bleibt erstaunlich unterbelichtet, dass ein Großteil der Bevölkerung in der Ukraine heute massive Probleme hat, mit ihren geringen Einkommen überleben zu können.

Daher boomt dort auch das Geschäft mit der Leihmutterschaft und findet mit dem Roman „Hundepark“ sogar Eingang in die Literatur. In die Debatten auch großer Teile der Linken sind diese Erkenntnisse scheinbar nicht vorgedrungen. Dort sollte besser über das Leben und Überleben vieler Menschen in der heutigen Ukraine geredet werden, als über die Verteidigung der Maidan-Ukraine.

Dann würde auch klar, dass die Bewohner der Westukraine nicht viel weniger Probleme mit dem Überleben haben wie die der Ostukraine. Solange mit dem Nationalismus falsche Spaltungen befördert werden, wird sich daran auch wenig ändern. (Peter Nowak)