Ungarn: Mit der Polizeiaktion gegen Geflüchtete exekutiert die rechtskonservative Regierung EU-Recht und übt Druck auf die EU und einzelne Länder aus
Die ungarische Regierung hat heute mehrere hundert Geflüchtete, die sich im Zug von Budapest nach Österreich befanden, mit einen großen Polizeiaufgebot gestoppt. Der Zug kam, knapp 40 Kilometer von Budapest entfernt, bei dem Städtchen Bicske zum Stehen. Dort befindet sich eines der größten Auffanglager, wie heute solche Einrichtungen genannt werden, in denen Menschen gegen ihren Willen festgehalten werden.
Die Menschen im Zug, die alle teuere Tickets nach Österreich oder gleich bis München gekauft hatten in der Hoffnung, dass ihnen nun der Weg Richtung Deutschland offenstehen würde, als sich der Zug in Bewegung gesetzt hatte, waren entsprechend wütend und verzweifelt, als sie mitbekamen, dass sie nach Tagen zwischen Hoffnung und Bangen weiterhin hin- und her geschoben werden sollen. Viele von ihnen haben bereits tagelang auf den Budapester Ostbahnhof ausgeharrt und immer wieder mit Demonstrationen dagegen protestiert [1], dass sie an der Ausreise gehindert wurden.
Mit Polizeigewalt gegen Flüchtlinge und Presse
Die Menschen wehrten sich und weigerten sich, aus dem Zug zu steigen. Reporter berichten, dass viele der Menschen gegen die Fenster schlugen und „Kein Lager, kein Lager“ skandierten. Andere legten sich auf die Gleise oder drohten mit Selbstmord [2]. Die Polizei ging brutal gegen die Menschen vor, Flüchtlinge wurden mit Schlagstöcken aus dem Bahnhof geprügelt. Viele der Menschen versuchten zu fliehen, um der Einweisung in das Lager zu entgehen.
Es ist noch unklar, wie vielen Menschen die Flucht gelungen ist und wie es ihnen nun in einem Land ergeht, das eine rechte Hegemonie hat und in dem die große Mehrheit der Bevölkerung hinter der rechtspopulistischen Fides-Partei und ihren noch rechteren Konkurrenten von der Jobbik steht. Die Polizei ging auch gegen Medienvertreter vor, weil sie verhindern wollte, dass an die Öffentlichkeit dringt, wie sie 40 Kilometer von der ungarischen Hauptstadt entfernt EU-Recht exekutiert.
„Die Flüchtlingskrise ist ein deutsches Problem“
Derweil hat der rechtskonservative ungarische Ministerpräsident Orban in Brüssel beim Treffen mit EU-Vertretern die Flüchtlingskrise ein „deutsches Problem“ genannt. Damit hat er sogar recht, aber wahrscheinlich auf andere Weise, als es Orban meinte. Der ungarische Ministerpräsident erhob den Vorwurf, die Geflüchteten wollten alle nach Deutschland und dafür sei der „gedeckte Tisch“, den Deutschland ihnen angeblich in Aussicht gestellt [3] hatte, die Einladung .
Orban wirft Deutschland und Teilen der EU also vor, sie würden eine zu laxe Haltung gegenüber den Geflüchteten haben und die Menschen daher einladen zu kommen. Ungarn sei dabei nur Transitland. Die Notstandsszenarien in Ungarn und Orbans Auftritt in Brüssel gehören zusammen. Sie sind eine Inszenierung, um die EU und vor allem Deutschland noch mehr gegen Flüchtlinge einzunehmen. Dafür wird Orban auch auf rechten und rechtspopulistischen Webseiten ebenso gelobt wie die australische Regierung, die mit allen Mitteln gegen Flüchtlinge vorgeht und sie über Jahre auf abgelegene Inseln deportiert.
Bundeskanzlerin Merkel, die zurzeit der Schweiz einen Kurzbesuch abstattet, hat sich in einer Pressekonferenz vehement gegen Orban gewandt [4]. „Deutschland tut das, was moralisch und was rechtlich geboten ist. Und nicht mehr und nicht weniger“, erklärte Merkel. Ob da nicht Heuchelei mitschwingt?
Während Orban seine rechtspopulistische Agenda nie verschwieg, gibt sich Merkel scheinbar offener gegenüber den Geflüchteten, betont deren Rechte und unternimmt nichts, um die Flüchtlinge, die in Ungarn festgehalten werden, aufzunehmen. Dabei könnte die Bundesregierung einen solchen Schritt ohne Probleme machen. Bei vielen der Flüchtlinge handelt es sich um Syrer, die doch angeblich in Deutschland willkommen sind.
Als Tausende Flüchtlinge aus Ungarn in Deutschland aufgenommen wurden
Zudem müsste ja vielen in Deutschland noch aus der Erinnerung präsent sein, dass Tausende Flüchtlinge aus Ungarn in der BRD aufgenommen wurden. Sie bekamen Begrüßungsgeld und wurden als Heldinnen und Helden gelobt: DDR-Bürger, die im August 1989 die ersten offenen Grenzen auf dem Territorium des Warschauer Vertrages zur Flucht nutzten.
In Feiertagsreden zum 3. Oktober werden sie sicher wieder gefeiert. 26 Jahre später hat Ungarn, das Land, das dafür gefeiert wurde, dass es „die Mauern zwischen Europa eingerissen hat“, wieder einen Grenzzaun errichtet und geht gegen Flüchtlinge mit Polizei vor, die nur durch das Land reisen wollen und dafür sogar gültige Tickets haben.
Die Bundesregierung, die mindestens einmal im Jahr den Beitrag Ungarns beim Kampf um ein vereinbartes Europa lobt, fordert Ungarn auf, die Menschen bloß nicht weiterreisen zu lassen, weil das Land dann ja vertragsbrüchig würde. Ob es in Deutschland noch Menschen gibt, die vielleicht vor 26 Jahren über Ungarn in die BRD gekommen sind oder die mit ihnen gebangt und gejubelt haben, die sich aufmachen und nach Bicske und in andere Orte, wo Flüchtlinge von der Polizei an ihrer Weiterreise gehindert wurden, fahren und die Flüchtlinge dabei unterstützen, dass sie an ihr Ziel kommen?
In Großbritannien macht zurzeit ein Foto [5] Politik. Es zeigt einen kleinen syrischen Jungen, der bei der Flucht aus Syrien mit seiner Mutter ertrunken ist und könnte die Abschottungspolitik der britischen Konservativen ins Wanken bringen. Warum sorgen die Fotos von Flüchtlingen, die in Ungarn darum kämpfen, nicht ins Lager gebracht zu werden, nicht ebenfalls hierzulande für eine solche Empörung, die eine Abschottungspolitik ins Wanken bringt?
http://www.heise.de/tp/news/Ab-ins-Auffanglager-2805078.html
Peter Nowak
Links:
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