Freies Wort und Kampf gegen Antisemitismus: Der PEN Berlin hat Maßstäbe gesetzt. Auch unter Linken wächst die Bereitschaft zur Analyse.

Cancel Culture, der Israel-Gaza-Krieg und der Kampf um Begriffe

Ein Passus der Resolution wendet sich gegen eine Entwicklung im Kulturbetrieb, wo unter dem Verwand des Kampfes gegen Antisemitismus die Kunstfreiheit zur Disposition gestellt wird und wohl nicht zufällig Jüdinnen und Juden besonders betroffen sind, die nicht unter dem Schutz der deutschen Staatsräson fallen. Ob Hannah Arendt heut in Deutschland einen Preis bekommen würde, nachdem sie sich für ein binationales Israel-Palästina ausgesprochen hat und nach ihrem Artikel über Eichmann als Banalität des Bösen in Israel sehr angefeindet wurde?

„Der PEN Berlin lehnt BDS ab.“ Diesen Satz brachte der Vorsitzende der Schriftstellervereinigung gleich am Beginn seiner Eröffnungsrede unter und wiederholte die klare Positionierung zu der antiisraelischen Kampagne „Boycott, Divestment and Sanctions“ gleich fünfmal. Dies war keine Überraschung für alle, die die politische und journalistische Arbeit von Deniz Yücel kennen, der durch seine fast einjährige Inhaftierung in der Türkei und der großen Solidaritätsbewegung auch bundesweit bekannt geworden war. Yücel, der genauso gut sprechen wie schreiben kann, wies in seiner Rede darauf hin, dass er sich schon vor Jahren an Aktionen gegen Antisemitismus auch in der Türkei nicht nur auf journalistischem Feld engagiert habe. Zudem stellte er klar, dass ein Verein wie der PEN, der für das freie Wort kämpft, entschieden gegen den …

… Boykott israelischer Künstlerinnen und Künstler eintritt – auch das aber ist Teil der BDS-Kampagne.

Austritte aus gegensätzlichen Gründen

Doch Yücels Rede war nicht einfach ein wiederholtes Bekenntnis der deutschen Staatsräson, darauf machte der Redner auch gleich aufmerksam. Im Vorfeld des Kongresses war auch der PEN-Berlin in die Kritik geraten, weil er sich nach den Oktober-Pogromen der Hamas nicht gleich mit einer Stellungsnahme zu Wort gemeldet hatte. Es gab deswegen sogar vereinzelte Austritte, allerdings aus unterschiedlichen Gründen.

Während einige die Solidarität mit Israel vermissten, monierten andere in ihrer Austrittserklärung eine zu proisraelische Haltung und verwiesen dann gleich noch auf ihre Bücher.

Die sprachliche Finesse, mit der Yücel hier vorging, könnten die Vermutung aufkommen lassen, dass P. im PEN-Berlin stehe für Polemiker und nicht für Poeten. Doch das muss ja auch kein Widerspruch sein.

Staatsräson oder Kampf gegen Antisemitismus?

Yücel konnte überzeugend nachweisen, dass PEN-Berlin nicht zu den Organisationen gehört, die mit oft schon vorgefertigten Erklärungen sich einreiht in den Reigen der Organisationen, denen es bei der Solidarität mit Israel vor allem die deutsche Staatsräson geht. Ihm geht es um den Kampf gegen Antisemitismus – und da reichen eben nicht einige wohlfeile Sätze zur rechten Zeit.

Schon vorher hatten sich Yücel und seine Ko-Vorsitzende im PEN-Berlin, Eva Menasse in einem Interview mit der Berliner Zeitung gegen das Bild eines Schriftstellerverbands gewandt, der sich mit wohlfeilen Erklärungen wortreich gegen alle Übel der Welt positioniert, die dann schnell vergessen werden.

Dass sich der PEN-Berlin bald nach dem Pogrom der Hamas mit einer Schriftstellerveranstaltung gegen Antisemitismus engagierte, hatten die Kritiker wohl übersehen. Auf dem PEN-Kongress gab es dann tatsächlich zwei Resolutionen. Eine erklärt die Solidarität mit Jüdinnen und Juden in Deutschland, Israel und überall auf der Welt und geht damit auf Distanz zu einer Erklärung des PEN-International, der die palästinensischen Opfer des Verteidigungskrieges Israels gegen die Hamas in den Mittelpunkt stellt.

Der PEN Berlin hingegen stellt klar fest:

Der PEN Berlin verurteilt den islamistischen Terrorangriff der Hamas und ihrer Verbündeten auf Israel. Der Angriff galt dem Staat Israel als Ganzem, den die Hamas erklärtermaßen vernichten will.

Dabei werden auch die palästiensischen Opfer nicht vergessen.

Unsere Sorge und Solidarität gilt den palästinensischen Zivilist:innen, darunter Kolleg:innen, die infolge des aktuellen Krieges israelischen Luft- und Artillerieangriffen schutzlos ausgesetzt sind und leiden und sterben. Sie gilt den Menschen im Gazastreifen, die kaum Zugang zu medizinischer Versorgung, Nahrung und Wasser haben. Sie gilt den Menschen, die dort unter der Diktatur und der Kriegsstrategie der radikalislamistischen Hamas leiden.Aus der Erklärung des PEN-Berlin „Solidarität mit Jüd:innen in Deutschland, Israel und überall

Die entsprechende Passage im Aufruf ist hier vollständig zitiert worden, weil hier deutlich wird wie sorgfältig der PEN-Berlin hier vorgeht, was bei vielen Stellungnahmen auch von linken Gruppen nach dem 7. Oktober nicht der Fall ist. Es werden die Opfer unter den palästinensischen Zivilisten durch die israelische Militäraktion benannt, ohne deshalb – wie es häufig auch bei linken Gruppen geschieht –, das israelischen Militär in die Nähe des Völkermords zu rücken.

Es wird auch klar benannt, dass auch viele Bewohnerinnen und Bewohner des Gaza-Streifes Opfer der Diktatur und Kriegsstrategie der Hamas sind. Daher müsste doch eigentlich die Parole „Free Gaza from Hamas“ auch bei Linken Konsens sein, was aber nicht der Fall ist.

Gegen Verengung der Meinungsfreiheit im Nahost-Konflikt

Die Mitgliederversammlung PEN-Berlin hat aber auch noch eine weitere Resolution veröffentlicht, die vielleicht auch Auswirkungen auf den Umgang mit Künstlerinnen und Künstlern aus aller Welt in Deutschland hat, denen eine Nähe zur BDS-Kampagne vorgeworfen wird.

Sie trägt den etwas umständlichen Titel „Gegen gesellschaftliche Polarisierung und illiberale Tendenzen im Kulturbetrieb“ und wendet sich gegen staatsautoritäre Tendenzen, mit denen eine Lesart im Nahost-Konflikt repressiv durchgesetzt werden sollen.

Eine offene Gesellschaft muss es ertragen, dass es unterschiedliche Deutungen desselben Geschehens gibt, die unter dem Eindruck der aktuellen Ereignisse unvereinbar erscheinen. 

In Deutschland leben nicht nur gut 200.000 Jüdinnen und Juden, sondern etwa gleich viele Menschen palästinensischer Herkunft sowie Millionen Menschen mit muslimischem, arabischem oder nahöstlichem Hintergrund. 

Die Mehrheit dieser Menschen solidarisiert sich mit dem palästinensischen Anspruch auf Selbstbestimmung, aber nur eine Minderheit von ihnen sympathisiert mit terroristischer Gewalt. 

So wie viele Jüdinnen und Juden um Angehörige in Israel trauern, so trauern viele Palästinenser derzeit um Angehörige im Gazastreifen oder sorgen sich um sie. Der Ausdruck dieser Gefühle ist legitim. 

Hassreden und Hetze oder die Verherrlichung von Gewalt müssen verurteilt und abgewehrt werden. Keinesfalls aber dürfen Trauernde gegen Trauernde, Wütende gegen Wütende, Verzweifelte gegen Verzweifelte gehetzt oder ausgespielt werden.PEN Berlin

Ein Passus der Resolution wendet sich gegen eine Entwicklung im Kulturbetrieb, wo unter dem Verwand des Kampfes gegen Antisemitismus die Kunstfreiheit zur Disposition gestellt wird und wohl nicht zufällig Jüdinnen und Juden besonders betroffen sind, die nicht unter dem Schutz der deutschen Staatsräson fallen.

Zur offenen Gesellschaft gehört eine vielfältige Kunst- und Wissenschaftsszene, die auch Projekte und Forschungen zulässt, die nicht allen gefallen. Wir treten daher illiberalen Tendenzen im Kulturbetrieb entschieden entgegen. 

Meinungs- und Kunstfreiheit bedeuten dabei kein Recht auf Widerspruchsfreiheit; ein zivilisierter Dialog steht nicht im Widerspruch zu harter Kritik. Jedoch gibt es einen kategorialen Unterschied zwischen Kritisieren und Absagen. Theaterstücke, Ausstellungen und Konferenzen abzusagen, Literatur- und andere Preise abzuerkennen oder auszusetzen, beschädigt die Betroffenen und beendet jede Auseinandersetzung.PEN Berlin

Reihenweise wurden und werden Veranstaltungen und Veranstaltungen mit ihnen abgesagt. Schlagzeilen macht der Fall von Candice Breitz. Die jüdische Künstlerin, deren Ausstellung abgesagt worden war, betonte in einen Interview mit der jungen Welt die BDS-Kampagne nicht zu unterstützen. Nun werden ihr „umstrittene Äußerungen“ zum Nahost-Konflikt vorgeworfen. Breitz betonte, dass sie als Jüdin es merkwürdig findet, wenn ihr deutsche Staatsapparate vorschreiben wollen, wie sie sich zur Politik Israels zu äußern hat.

Ich empfinde das schon als antisemitisch, zumal sich hier eine deutsche Institution in die Position des Urteilenden versetzt, was jüdische Menschen in diesem Land sagen oder denken dürfen, und dies ohne ein ordnungsgemäßes Verfahren oder Gespräch zu durchlaufen. 

So funktionieren Schein-Gerichte. Werden alle Künstler:innen in Zukunft erklären müssen, dass die schrecklichen Anschläge vom 7. Oktober in ihrer Schwere dem Holocaust gleichzusetzen sind, bevor sie eine Plattform im Saarlandmuseum erhalten? Oder wird dieser Lackmustest nur für bestimmte Künstler:innen gelten?Candice Breitz, junge Welt

Würde Hannah Ahrendt heute in Deutschland einen Preis erhalten?

Zeitgleich zum PEN-Kongress wurde bekannt, dass die Verleihung des Hannah-Arendt Preises an die in Kanada lebende jüdische Journalistin Masha Gessen verschoben werden musste, weil die Heinrich-Böll-Stiftung Gessen nicht mehr als preiswürdig erachtete.

Grund ist ihr 20-seitiger Essay in der Zeitung New Yorker, wo dann einige wenige Sätze aus dem Kontext gerissen wurden und der Eindruck erweckt wurde, Gessen vergleiche die Situation im Gaza mit dem Warschauer Ghetto.

Auf einer Veranstaltung des PEN-Kongresses, diskutierten zwei jüdische und zwei palästinensische Journalistinnen und Journalisten miteinander – auch hier wurde beklagt, dass in dieser Auseinandersetzung oft Sätze aus dem Zusammenhang gerissen wurden. Die Diskutantinnen und Diskutanten betonten, dass sie als Menschen des Wortes Angst haben, bestimmte Wörter zu verwenden.

Sie beklagten, dass Begriffe regelrecht tabuisiert werden, statt sie zu diskutieren und eben auch argumentativ zu widerlegen. Ein Beispiel ist die Anwendung des Begriffs „Apartheid“ auf die von Israel besetzen Gebiete. Es lässt sich argumentativ gut begründen, warum der Begriff dort nicht passt und nur zur Dämonisierung der israelischen Politik dient.

Die kontraproduktive Wirkung von Tabus

Wenn er aber tabuisiert wird und die Verwendung sogar sanktioniert wird, gilt es schon als mutig, ihn zu verwenden. Das provoziert die Verwendung des Begriffs, ist also kontraproduktiv, wenn darum geht, für die Situation im Nahen Osten angemessene Begriffe zu finden.

Eine andere Frage in der Diskussionsrunde war: Gelingt es uns noch, universalistisch zu denken und allen Opfern von Krieg und Gewalt zu gedenken? Oder soll jede Gruppe nur noch ihrer Opfer gedenken? Das wäre eine klare Niederlage für den Universalismus.

Auch wurde die Frage gestellt, ob Hannah Arendt heut in Deutschland einen Preis bekommen würde, nachdem sie sich für ein binationales Israel-Palästina ausgesprochen hat und nach ihrem Artikel über Eichmann als Banalität des Bösen in Israel sehr angefeindet wurde.

Aiwanger und Erdogan werden hofiert – linke Juden sanktioniert

Dem PEN Berlin ist es am Wochenende gelungen, nachzuweisen, dass man mit den jüdischen Menschen in Israel und überall solidarisch sein kann, ohne die neue staatliche Sanktionierung im Kulturbetrieb zu affirmieren, die dann oft wiederum auch jüdische Menschen trifft.

Deniz Yücel sprach sich gegen jeglichen Boykott israelischer Künstlerinnen und Künstler aus, aber auch den Boykott von Künstlern, denen Unterschriften unter „umstrittene Texte“ vorgeworfen werden, die oft gar kein Bekenntnis zum BDS ist.

Sehr gut brachte Yücel die aktuellen deutschen Verhältnisse auf den Punkt, wo linke, nicht selten jüdische Künstler wegen angeblicher Israelkritik gecancelt werden, während der Israel-Hasser Recep Tayyip Erdogan offiziell zum Staatsbesuch nach Deutschland eingeladen wurde und ein Hubert Aiwanger Stimmenzuwächse bekommt, weil er nach Bekanntwerden des antisemitischen Flugblatts, das er als 17-Jähriger mit sich geführt hatte, keinen Grund für einen Rücktritt sah.

Gegen Einschrämkung der Kunstfreiheit

Es ist zu hoffen, dass der PEN-Berlin mit seiner Ablehnung jeglichen Antisemitismus, aber auch der Einschränkung der Kunstfreiheit vor allem auch in linksliberalen Kreisen für Diskussionen sorgt. So hat Yücel auch klar betont, dass es für ihn eine wichtige Frage ist, war sich israelkritisch äußert. Es ist eben ein Unterschied, ob es sich um Künstlerinnen aus Israel oder Palästina handelt oder um Menschen aus Deutschland.

Seine Ausführung könnten in linksliberalen Kreisen auf Diskussionsbereitschaft stoßen, weil schließlich der PEN-Berlin und vor allem auch Yücel dort ein gutes Standing haben.

Dass er den PEN modernisiert hat, zeigt schon der Tagungsort des Kongresses, der linksalternative Festsaal Kreuzberg. Die wenigen Büchertische auf dem Kongress wurden vom linken Berliner Buchladen Schwarze Risse und den linken Verbrecher Verlag bestritten. Das wäre beim alten PEN sicher nicht möglich gewesen.

Differenzierte Erklärungen auch in der Linken

Der PEN-Berlin könnte auch in die Linke das Signal aussenden, dass der Kampf gegen die Hamas nicht von deutschen Intellektuellen geführt wird. Die brauchen sich dann auch nicht so aufführen, als würden sie den Krieg führen und können in der Sprache abrüsten.

Statt der Wiederholung immer neuer Kampfbegriffe und der Darstellung der jeweiligen Kontrahenten als das absolut Böse und Feindliche, sollten sie sich auf ihre Instrumente besinnen, die Analyse und die präzise Verwendung der Begriffe. Ein gutes Beispiel ist eine Stellungnahme aus dem rätekommunistischen Umfeld, die unter den Überschrift „Die Todeswelt des Kapitalismus“ auf Communaut veröffentlicht ist. Dort wird der Hamas-Terror klar benannt, aber auch Teile der israelsolidarischen Linken werden klar kritisiert:

Und wiederum spiegelbildlich zur Idiotie des antikolonialen Freund-Feind-Schemas sind auch hier gewaltige Verdrängungsleistungen nötig, um das windschiefe Weltbild aufrechtzuerhalten. 

Dass die extremistischen Siedler im Westjordanland allein in der Woche nach dem Hamas-Massaker 51 Menschen ermordet haben, wie üblich mit stillschweigender Billigung der israelischen „Sicherheitskräfte“, ist keiner Rede wert.Aus der Erklärung „Die Todeswelt des Kapitalismus“, veröffentlicht auf Communaut.org

Die Verfasser des Textes schreiben, dass sie einiges noch diskutieren müssen. Das gilt auch für die Passagen, wo sie in der Beschreibung der Situation in Israel doch gelegentlich in einen schlichten Antizionismus abgleiten.

Empfehlenswert ist auch der in der Jungle World abgedruckte Artikel „Die Hamas und die blinden Flecken der Linken“ von Yves Coleman, die sich schwerpunktmäßig der Kritik des linken Antizionismus widmet und die Bündnisse mit Islamisten in Teilen der französischen Linken kritisiert.

Zustimmen kann man den Autor bei dieser Einschätzung:

Es ist natürlich essentiell, die Hamas und den politischen Islam als Feind der Arbeiterklasse zu brandmarken, und es ist nicht nötig, endlos über angemessene oder unangemessene Verwendungen des Begriffs „Terrorismus“ zu debattieren; über die juristischen Konzepte von „Kriegsverbrechen“ oder „Verbrechen gegen die Menschheit“; oder sogar über Massaker an Zivilisten im Namen eines bestimmten „Widerstands“, wie es ein guter Teil der Linken und der extremen Linken in Frankreich und im Rest der Welt getan hat. 

Ähnlich ist es essentiell, den muslimischen Antijudaismus (der mit einigen sehr alten theologischen Interpretationen des Koran zusammenhängt) und den Antisemitismus des politischen Islam zu verurteilen, der Formen bis hin zur neonazistischen Holocaustleugnung und Vernichtungsphantasien annimmt. 

Doch das ist nicht genug: Wir müssen neue Argumente vorbringen, die auf konkretem Wissen, aber insbesondere auf neuen Begriffen basieren.Yves Coleman

Auch er ruft dazu auf, auch die bisherige linken Konzepte angesichts des islamistischen Terrors zu überprüfen und neue Worte zu finden. Darum hat der Kongress des Berliner PEN am Wochenende gerungen. (Peter Nowak)