Warum will sich die EU Beitrittsverhandlungen mit dem Land aufbürden? Dauern können sie Jahrzehnte. Wer sich dagegen verwahren könnte – und warum. Ein Kommentar

EU-Aufnahme der Ukraine: Meint der exklusive Club es ernst?

Doch es ist durchaus anzunehmen, dass hier schon die Weichen für eine Ukraine nach der Einfrierung des Konflikts gestellt werden. Möglicherweise sollen damit Vereinbarungen verhindert werden, die der Ukraine wieder den neutralen Status zusprechen, den sie vor Beginn des Krieges hatte.

Eigentlich ist es ein symbolischer Schritt – und trotzdem ist es eine Premiere: Die EU-Kommission hat empfohlen, mit der Ukraine Aufnahmegespräche zu beginnen. Das bedeutet nicht, dass die Ukraine in den nächsten Jahren in diesen exklusiven Club aufgenommen wird. Gerade das Beispiel der Türkei, aber auch vieler anderer Länder zeigt, dass ein Land, dem Aufnahmegespräche in Aussicht gestellt werden, für Jahrzehnte in der Warteschleife hängen kann. Die Ankündigung von Aufnahmegesprächen hat meist den Zweck, …

… sich in die innenpolitischen Belange dieser Länder einzumischen. Denn natürlich werden dann alle Gesetze, ja auch schon die Wahlkonstellationen, danach abgeklopft, ob sie EU-konform sind oder nicht. Hier wird ein enormer Druck aufgebaut, der auch Einfluss auf innenpolitischen Debatten in diesen Ländern hat. Man kann sogar sagen, der Druck ist größer, wenn diese Länder in einer Wartestellung in Bezug auf die EU-Mitgliedschaft sind, als wenn sie dann schließlich drin sind.

Die EU-Kommission, beziehungsweise die dominierenden Mächte in der EU, darunter vor allem Deutschland, haben den subalternen EU-Staaten immer wieder die Instrumente gezeigt. Man denke nur an die Durchsetzung der Austeritätspolitik in Griechenland, wo ganz offen der Willen der griechischen Wählerinnen und Wähler ignoriert, ja sogar konterkariert werden musste. Noch größer ist der Druck, wenn die EU-Mitgliedschaft in Aussicht gestellt aber noch nicht vollzogen wurde.

Doch die Aufnahmegespräche mit der Ukraine sind auch im EU-Rahmen eine Premiere, worauf der EU-Korrespondent der taz, Eric Bonse, hingewiesen hat. Erstmals wird die Aufnahme eines Landes empfohlen, dass sich im Kriegszustand mit einem Nachbarland befindet. Noch vor Monaten haben politische Analysten deshalb das Angebot von Beitrittsverhandlungen in weiter Ferne gesehen.

Denn es gab einen guten Grund, warum kriegerische Konflikte ein Hinderungsgrund für EU-Beitrittsgespräche waren: Die EU wollte nicht selbst hineingezogen werden. Dabei spielte es bisher auch keine Rolle, wer die Hauptverantwortung für den jeweiligen Konflikt trägt.

Rettete der globale Westen die Staatlichkeit der Ukraine?

Doch im Fall der Ukraine ist es so, dass die EU-Staaten – wie insgesamt große Teile des globalen Westens – schon seit dem 24. Februar 2022 Konfliktpartei sind. Dabei wird immer argumentiert, die Unterstützung durch den Westen garantiere, dass die Ukraine als unabhängiger Staat überhaupt noch existiert.

Dabei wird allerdings übersehen, dass es in den ersten Wochen nach dem russischen Angriff auf die Ukraine mehrere Verhandlungsrunden gab, die auch auf ein Ergebnis hätten hinauslaufen können, dass die Ukraine als Staat mit neutralen Status erhalten bleibt. Noch Ende März 2022 lautet in der Süddeutschen Zeitung die Schlagzeile: „Die Kriegsparteien nähern sich an“:

Am Dienstag sind die direkten Friedensgespräche zwischen Russland und der Ukraine vorerst ohne konkrete Einigungen zu Ende, die Teilnehmer zeigten sich aber zuversichtlich. Das russische Verteidigungsministerium teilte mit, militärische Aktivitäten bei Kiew und Tschernihiw deutlich reduzieren zu wollen. Der russische Unterhändler Wladimir Medinski hatte die Verhandlungen als konstruktiv bezeichnet, auch der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu machte eine Annäherung beider Länder aus.Süddeutsche Zeitung, 29. März 2022

Einige Wochen später, im Juni 2022, hieß es in der Schweizer Wochenzeitung (WoZ) „Von Diplomatie ist nicht mehr die Rede“. Was hatte sich in diesen Wochen geändert? – Die WoZ benennt als wichtigen Faktor folgendes:

Zu dieser verhärteten Haltung der ukrainischen Regierung haben entscheidend die immer umfangreicheren Waffenlieferungen sowie die politische Unterstützung aus den Nato-Staaten beigetragen. So setzt etwa die Regierung von US-Präsident Joe Biden mit parteiübergreifender, großer Unterstützung des Parlaments immer deutlicher auf einen „Sieg“ der Ukraine, der über das vom Völkerrecht gedeckte Ziel einer Vertreibung aller russischen Invasionstruppen aus der Ukraine hinaus auch zu einer dauerhaften militärischen, wirtschaftlichen und politischen Schwächung Russlands führen soll.WoZ, 9. Juni 2022

Dabei wird neben der Nato auch die Rolle einiger führender EU-Mitglieder angesprochen – darunter Deutschland. Namentlich erwähnt wird auch Bundesaußenministerin Annalena Baerbock erwähnt:

In Europa werden ähnlich weitreichende Kriegsziele nicht nur von der britischen Regierung postuliert, sondern beispielsweise auch von der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock, Mitglied der einst pazifistischen, zumindest aber Militär- und Nato-kritischen Grünen Partei. Russland müsse „isoliert“ werden, fordert Baerbock.WoZ, 9. Juni 2022

So bleibt im Grunde festzuhalten, dass die Staatlichkeit der Ukraine auch durch einen von ausländischen Staaten garantierten russisch-ukrainischen Friedensvertrag hätte erhalten werden können. Adlerdings wäre es dann eine neutrale Ukraine geworden. Die Intervention einiger EU-Staaten, vornehmlich Großbritannien und Deutschland, war vor allem geopolitischen Interessen geschuldet.

Man wollte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, die Ukraine ins EU-Lager zu zerren. Da Großbritannien kein EU-Mitglied mehr ist, fällt vor allem Deutschland die Rolle zu, in der EU diese Strategie zu forcieren.

Historische Kontinuität spielt heute keine Rolle mehr

Die gleiche aggressive Rolle hatte das gerade wiedervereinigte Deutschland übrigens schon bei der Anerkennung von Staaten wie Kroatien oder Slowenien im Zerfallsprozess Jugoslawiens gespielt. Auch hier war Deutschland vorgeprescht, was damals bei vielen EU-Staaten noch für Unmut sorgte.

Schließlich war nicht vergessen, dass die kroatischen Nationalisten, die Anfang der 1990er-Jahre in Kroatien wieder an die Macht strebten, sich historisch auf jene Kräfte beriefen, die enge Kontakte zu Hitler-Deutschland hatten und auch den eliminatorischen Antisemitismus teilten. Die kroatische Ustascha-Bewegung stand ihren NS-Verbündeten bei der Vernichtung der kroatischen Juden in nichts nach. Ähnlich war das Verhältnis eines Teils der ukrainischen Nationalisten zum NS-Regime.

Zwar wollte Nazi-Deutschland keinen unabhängigen ukrainischen Staat, was ebenfalls zu Konflikten führte. Im Kampf gegen Juden, Russen und Kommunisten war man sich jedoch einig. So verbrachten nicht nur führende Vertreter der Ustascha-Bewegung, sondern auch ukrainische Nationalisten die Zeit des Kalten Krieges in der Bundesrepublik.

München war für sie ein besonders wichtiger Ort, wie der Historiker Matthias Thaden in seiner Studie „Migration und innere Sicherheit“ herausgearbeitet hat.

Diese historische Kontinuität spielte in den 1990er-Jahren noch in Teilen der deutschlandkritischen Linken eine zentrale Rolle. Vehement abgelehnt wurde damals eine erneute Kooperation Deutschlands mit den Erben der NS-freundlichen nationalistischen Bewegungen, die in diesen Ländern für den Mord an unzähligen Juden und Oppositionellen verantwortlich waren. Heute spielt diese historische Dimension in Deutschland kaum noch eine Rolle.

Der kürzlich von der Tageszeitung junge Welt organisierte Kongress zum „Bandera-Komplex“ wurde in der hiesigen Medienlandschaft weitgehend ignoriert. Man befand es nicht mal für nötig, die dort von internationalen Rednern vorgetragenen Thesen auch nur zu kritisieren.

Natürlich spielt die Existenz von Ultrarechten im ukrainischen Staatsapparat auch für die EU-Beitrittsverhandlungen keine Rolle. Hauptsache, die Ultrarechten sind zumindest verbal prowestlich.

Grenzen der Meinungsfreiheit – kein Problem für die EU?

Und wie steht es um die demokratischen Rechte in der Ukraine? – Der für verschiedene Medien aus Kiew berichtende Korrespondent Bernhard Clasen fasst es für die Tageszeitung Neues Deutschland so zusammen:

Tatsächlich gibt es in der Ukraine weitgehende Meinungsfreiheit, solange es um Themen wie Korruption, Religion, Wirtschaft und soziale Fragen geht. Doch beim Thema „Krieg“ ist es vorbei mit der Meinungsfreiheit. Wer hier russische Narrative verbreitet, muss mit langen Haftstrafen rechnen. Und was ein russisches Narrativ im konkreten Einzelfall ist, entscheiden die Strafverfolgungsorgane.Bernhard Clasen, Neues Deutschland

Doch was zählen die Strafverfolgungsorgane als russische Narrative? Auch dazu bringt Clasen Beispiele. Da ist etwa der gewählte Rada-Abgeordnete Nestor Schufrytsch. Er sitzt in Untersuchungshaft, weil ihm vom ukrainischen Inlandsgeheimdienst vorgeworfen wurde, der habe die These verbreitet, dass die Ukraine und Russland eine gemeinsame Geschichte hätten – und dass Ukrainer und Russen ein Volk seien.

Zumindest die These von der gemeinsamen Geschichte ließe sich von Historikern verifizieren. So gehörte im Rahmen dieser gemeinsamen Geschichte der ukrainische Teil der Roten Armee zu den Soldaten, die im Januar 1945 das Vernichtungslager Auschwitz befreiten. Diese historische Tatsache zählt jedoch heute in der Ukraine als russisches Narrativ.

Aber nicht nur Parlamentsabgeordnete sind in Haft, weil sie der gegenwärtigen Regierung nicht genehme Äußerungen tätigten: So berichtet Clasen von einer Frau aus Charkiw, die wegen Social-Media-Äußerungen zu einer fünfjährigen Haftstrafe verurteilt wurde.

Wörtlich hatte sie geschrieben: „Die beste Nachricht von allen. Oma und Opa sind am Leben. Sie wurden von DNR- und LNR-Milizionären (Kämpfer der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk, Anm. d. Red.) gerettet und nach Luhansk gebracht. Die Tochter und der Schwiegersohn sind aus Barnaul eingeflogen. Jetzt sind sie in Barnaul. Die Großeltern wurden zum 9. Mai auf den Roten Platz eingeladen.“ 

Der vom Gericht beauftragte Sachverständige hatte in diesem Beitrag eine Leugnung der vorübergehenden Besetzung eines Teils des ukrainischen Hoheitsgebiets gesehen, da dieser Post „die sogenannten ‚LNR‘ und ‚DNR‘ als separate staatliche Einheiten beschreibt“.

Auch Gespräche auf der Straße oder am Telefon führen laut Clasen schnell zu einer Verurteilung führen. Allerdings werde oft nicht die Höchststrafe von fünf Jahren „Laut der Menschenrechtsgruppe Charkiw kamen von 715 Verurteilten 595 um eine Gefängnisstrafe herum und mussten zur Strafe etwa proukrainische Bücher über den Krieg lesen. Gleichwohl haben auch sie Stress, Erniedrigung durch öffentlich zur Schau getragene Reue, Angst und finanzielle Einbußen erlebt“, so Clasen.

Hohe Strafen erwarten in der Ukraine auch „wehrfähige“ Männer, die nicht in der Armee kämpfen wollen. Deshalb haben auch Betroffene in Westdeutschland Angst, offen über ihre Gründe zu reden, wie zwei Militärverweigerer gegenüber der taz kürzlich erklärten.

Soll ein möglicher Waffenstillstand behindert werden?

Aber mit den so viel gerühmten westlichen Werten scheint eine solche selektive Demokratie nicht in Konflikt zu geraten. Zumindest sind sie kein Hindernis für die Empfehlung von Aufnahmegesprächen. Warum diese Empfehlung gerade zu diesem Zeitpunkt kommt, wo selbst in den aktuell herrschenden Kreisen der Ukraine von Kriegsmüdigkeit gesprochen wird, ist Spekulation.

Doch es ist durchaus anzunehmen, dass hier schon die Weichen für eine Ukraine nach der Einfrierung des Konflikts gestellt werden. Möglicherweise sollen damit Vereinbarungen verhindert werden, die der Ukraine wieder den neutralen Status zusprechen, den sie vor Beginn des Krieges hatte.

Doch noch steht nicht fest, ob und wann die Ukraine in den Club der Staaten aufgenommen wird, mit denen die EU Verhandlungen aufnimmt. Ungarn hat schon Widerstand angekündigt und wird sicher nicht allein bleiben. So haben sich durch Ankündigung zunächst die Streitigkeiten innerhalb der EU verstärkt. Denn es gibt durchaus Mitgliedsstaaten, die hierin einen weiteren Machtanspruch der Deutsch-EU sehen – und sich schon deshalb dagegen verwahren. Peter Nowak